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Thüringen im literarischen Spiegel
Jorge Semprún
Schreiben oder Leben. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995, S. 51-55) © by Éditions Gallimard, Paris 1994. © der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1995. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages.
Ich schaue mich um, es ist niemand da. Nur das Rauschen des Windes, der wie immer über diesem Hang des Ettersberges weht. Im Frühling, im Winter, lau oder eisig, immer der Wind über dem Ettersberg. Wind der vier Jahreszeiten über Goethes Hügel, über den Rauschwaden des Krematoriums.
Wir befinden uns hinter der Baracke der Gemeinschaftslatrinen des Kleinen Lagers. Letzteres liegt am Fuße des Ettersbergs, am Rande der grünen fruchtbaren Thüringer Ebene. Und es erstreckt sich um dieses Gebäude der Gemeinschaftslatrinen. Denn die Baracken des Kleinen Lagers verfügten weder über Latrinen noch über Waschräume. Tagsüber waren die Baracken gewöhnlich leer, da alle Deportierten, die sich in Quarantäne befanden, so lange, bis man sie abtransportierte oder ihnen im Produktionssystem von Buchenwald ein fester Arbeitsplatz zugewiesen wurde, zu verschiedenen Zwangsarbeiten abgestellt waren, die im allgemeinen sehr hart waren, denn sie hatten einen pädagogischen, das heißt Strafcharakter: »Ihr werdet schon sehen, was ihr erleben werdet!«
Die Arbeiten im Steinbruch zum Beispiel. Und die in der Gärtnerei, ein Euphemismus, denn die war wohl die schlimmste von allen. Sie bestand darin, paarweise (und die Zusammenstellung der Träger wurde, wenn man nicht schnell und pfiffig war, von den Kapos vorgenommen, im allgemeinen alten, verbitterten, also sadistischen Häftlingen, die dafür sorgten, daß die am wenigsten zusammenpassenden Leute zusammenarbeiten mußten: ein kleiner Dicker mit einem langen Dünnen zum Beispiel, ein Kraftprotz mit einem Schwächling, so daß neben den objektiven Schwierigkeiten des Tragens unter solchen Bedingungen eine fast unvermeidbare Feindseligkeit zwischen Menschen mit ganz unterschiedlichen körperlichen Widerstandskräften entstand), paarweise also, im Laufschritt und unter Knüppelschlägen, schwere Holzkübel zu tragen, die an so etwas wie Stangen hingen, bis zum Rand mit natürlichem Dünger angefüllt – daher die übliche Bezeichnung »Scheißarbeit« –, der für den Gemüseanbau der SS bestimmt war.
Man mußte also, vor der Sperrstunde oder im Morgengrauen, bei jedem Wetter die Baracken des Quarantänelagers, oder Kleinen Lagers, verlassen, um zum Gebäude der Gemeinschaftslatrinen zu gelangen, einer Art kahlen Halle mit einem ab dem ersten Herbstregen schlammbedeckten Boden aus grobem Zement, an deren Längswänden sich Zinkbecken und Kaltwasserhähne reihten, für die obligatorische Morgenwäsche – die SS-Kommandantur war von der Seuchengefahr besessen: ein großes, abstoßend realistisches Plakat, auf dem, unmäßig vergrößert, eine bedrohliche Laus abgebildet war, gab in den Baracken den Hygiene-Slogan der SS bekannt: Eine Laus, dein Tod!, ein Slogan, der in mehrere Sprachen übersetzt war, im Französischen jedoch mit einem orthographischen Fehler: Un poux, ta mort! –, während durch das Mittelschiff, von einem Ende zum andern, die gemeinschaftliche Senkgrube verlief, darüber, der ganzen Länge nach, ein doppelter, grob abgehobelter Balken, der als Sitzfläche für die massenhaften Entleerungen diente, die somit Rücken an Rücken erfolgten, in endlosen Reihen.
Dennoch, trotz des Pestgestanks und der giftigen Dünste, die das Gebäude ständig einnebelten, waren die Latrinen des Kleinen Lagers ein gastlicher Ort, eine Art Refugium, wo man Landsleute, Kameraden aus dem Stadtviertel oder dem Maquis[1] wiedersehen konnte; ein Ort, wo man Nachrichten, ein paar Krümel Tabak, Erinnerungen, Lachen, ein wenig Hoffnung austauschen konnte: kurzum Leben. Die ekelhaften Latrinen des Kleinen Lagers waren ein Raum der Freiheit: gerade wegen ihrer Natur, wegen der Übelkeit erregenden Gerüche, die sie verströmten, widerstrebte es den SS-Leuten und den Kapos, das Gebäude zu betreten, so daß es zu dem Ort in Buchenwald wurde, wo der mit dem Funktionieren des Konzentrationslagersystems untrennbar verbundene Despotismus am wenigsten zu spüren war.
Tagsüber, während der Arbeitsstunden, wurden die Latrinen nur von den Invaliden oder den von der Zwangsarbeit freigestellten Kranken des Quarantäneblocks aufgesucht. Doch am Abend, nach dem Appell bis zur Sperrstunde, verwandelten sich die Latrinen in einen Marktplatz der Illusionen und Hoffnungen, in einen Suk[2], wo man die verschiedensten Dinge gegen eine Scheibe Schwarzbrot, ein paar Machorka-Kippen tauschen konnte, schließlich eine Agora[3], wo man Worte, Fetzen eines Gesprächs der Brüderlichkeit, des Widerstands austauschen konnte.
Im Latrinengebäude hatte ich auf diese Weise einige meiner besten Quarantänekumpel kennengelernt: zum Beispiel Serge Miller, Yves Darriet, Claude Francis-Boeuf. Wir waren alle im selben Block 62 mit den Massentransporten vom Januar 1944 eingetroffen, die die französischen Gefängnisse sowie das Lager von Compiègne geleert hatten, nach zwei aufeinanderfolgenden Deportationsoperationen mit poetischen Decknamen, einer verräterischen Militärtradition entsprechend: Meerschaum und Frühlingswind.
In der verstörten Menge von Block 62, gnadenlos zur Arbeit getrieben, desorientiert durch den Zusammenprall mit der seltsamen Wirklichkeit des Lebens in Buchenwald und ihren unerklärlichen, aber absolut zwingenden Kodes, hatten wir uns nicht wiedererkennen, die gemeinsamen Punkte nicht entdecken können, die uns mit demselben kulturellen und sittlichen Universum verbanden. Erst in den Gemeinschaftslatrinen, in der giftigen Luft, wo sich der Gestank von Urin, Exkrementen und ungesundem Schweiß mit dem herben Geruch des Machorka-Tabaks vermischte, haben wir uns wiedergefunden, dank einer geteilten Kippe, ein und desselben Eindrucks von Lachhaftigkeit, derselben kämpferischen und brüderlichen Neugier auf die Zukunft eines unwahrscheinlichen Überlebens.
Vielmehr eines zu teilenden Todes.
Hier haben wir, an einem denkwürdigen Abend, Darriet und ich, als wir abwechselnd köstliche Züge aus derselben Kippe nahmen, unsere gemeinsame Liebe zum Jazz und zur Poesie entdeckt. Kurz darauf, als man in der Ferne die ersten Pfiffe zu hören begann, die die Sperrstunde ankündigten, hat sich Miller zu uns gesellt. Wir tauschten gerade Gedichte aus: Darriet hatte Baudelaire rezitiert, ich sagte »La fileuse« von Paul Valéry auf. Miller hat uns lachend Chauvinisten genannt. Und er hat angefangen, Verse von Heinrich Heine aufzusagen, auf deutsch. Dann haben wir, Serge Miller und ich, zur großen Freude von Darriet, der wie ein Dirigent mit seinen Händen den Takt dazu schlug, gemeinsam das Lied von der Lorelei deklamiert.
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Daß ich so traurig bin …
Das Ende des Gedichts haben wir gebrüllt, im ohrenbetäubenden Lärm Dutzender von Holzpantinen, die sich im Laufschritt entfernten, um in letzter Minute, kurz vor der Sperrstunde, die Baracken zu erreichen.
Und das hat mit ihrem Singen
Die Loreley getan …
Dann waren auch wir losgerannt, um den Block 62 zu erreichen, in einer Art Erregung, unsagbarem Jubel.
[1] (frz., eigtl. »Buschwald«) Bezeichnung für die Partisanenorganisationen innerhalb der französischen Widerstandsbewegung »Résistance«.
[2] (arab.) Basar.
[3] (griech.) Versammlungs- bzw. Marktplatz im antiken Griechenland.
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