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Thüringen im literarischen Spiegel
Ernst Thape
Von Rot zu Schwarz-Rot-Gold. Lebensweg eines Sozialdemokraten, Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH Hannover, Hannover 1969, S. 156-161) © 1969 Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH, Hannover. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Als es im Winter 1944/45 keinen Koks mehr gab, stellte das Krematorium seinen Betrieb ein. Das hatte für uns den Vorteil, daß wir beim abendlichen Spaziergang nicht mehr die Flamme aus dem zu kurzen Schornstein hervorleuchten sahen und daß uns der schreckliche Geruch verkohlter Knochen und versengter Haare die kurze Freizeit auf dem Appellplatz weniger verleidete. Aber gestorben wurde, mit oder ohne Koks im Krematorium, in immer schnellerem Tempo. Erst fielen täglich zehn und zwanzig und schließlich täglich hundert und hundertfünfzig Tote an. Die SS bediente sich der harten Kälte dieses Winters. Sie ließ hinter der Planke, die das Krematorium einschloß und mit ihm einen kleinen Hof bildete, die Toten aufschichten. Man legte sie so übereinander, daß quadratische Säulen aus Menschenleibern entstanden. Erst wurden Köpfe neben Füße so breit platziert, wie ein Körper lang ist, und dann rechtwinklig dazu, wieder im gleichen »Verband« (wie die Maurer sagen würden) die nächste Leichenschicht. Über die Planke hinweg bleckten uns öfter aus dem Gesicht eines zum Skelett abgemagerten Toten die Zähne im offenen Mund an, und direkt daneben ragten nackte Füße in den Himmel. Zwischen Krematorium und Kantine hatten wir in den kargen Freistunden etwa zweihundert Meter Auslauf. Bei der grimmigen Kälte mußte man schnell gehen. Bei einem eifrigen Gespräch über den Charakter der russischen Revolution (ob sozialistisch oder national) sah man in vier bis fünf Minuten immer den Kopf des Toten, der über die Planke hinweghing. War das Thema zu anderer Zeit die Frage, wie Deutschland nach dem Zusammenbruch von uns wieder aufzubauen sei, dann gehörte auch zu diesem Gespräch der mumienhafte Kopf des Mannes, der mir immer wieder in den Sinn kommt, wenn ich an diese Gespräche und an meine Gesprächspartner denke. Als es wärmer wurde, hob man in der Nähe des Bismarckturmes nahe dem Lager große Gruben aus und warf die Leichen hinein.
Auch einen Berg Textilien, mindestens zwei Meter hoch, an der Seite der Lagerstraße liegend, werde ich nie vergessen. Es waren Kleider aller Art, in der Hauptsache Unterwäsche. Auf diesem Haufen lagen einige Jäckchen, wie man sie den Neugeborenen anzieht, mit dem Bändchen, das man im Rücken knüpft, wenn der Säugling, auf dem Bauch liegend, gewickelt wird. Diese Kleider und Wäschestücke bezeugten die Wahrheit der Nachricht, daß Männer, Frauen und Kinder nackt ausgezogen wurden, bevor man sie in den Gaskammern ermordete. Die Kleider der Toten mußten Häftlinge sortieren, dann kamen sie, auf Lastwagen verladen, zur Weiterverwertung in irgendwelche Fabriken. Es gab auch einen gleich großen Haufen von Schuhen. Wie die Säuglingsjäckchen sind mir die winzigen Erstlingsschuhe ins Gedächtnis eingebrannt, die andere Mütter, die nicht mit ihrem Säugling auf dem Arm nackt in den Gaskammern starben, jahrelang in ihren Schmuckkästen aufbewahren, um sie dann zur Hochzeit ihrem Kind vergoldet wiederzuschenken.
Noch ein anderes von den vielen Erlebnissen in Buchenwald möchte ich hier erzählen. Sonntags wurden Steine getragen. In einer Kette, wohl zwei Kilometer lang, kam auf den Schultern von 10 000 Häftlingen durch eine Gasse von SS-Wachtposten mit schußbereiten Gewehren die Packlage für die Straßen aus dem Steinbruch im Lager. Ich schleppte auch und riskierte, wie viele andere, von einem Posten dabei erwischt und mit Kolbenschlägen traktiert zu werden, wenn ich den schweren Stein, der mir zugeteilt war, an den Rand der Gasse warf und schnell gegen einen leichteren austauschte, den schon ein anderer fortgeworfen hatte. Der lange Weg war durch abgeworfene Steinbrocken markiert. Seit dieser Zeit weiß ich genau, wie die ägyptischen Pyramiden gebaut wurden und wie viele Sklavenhalter ernährt werden müssen, um Steine durch Menschenkraft über weite Entfernungen zu bewegen.
Aus unerforschlichen Gründen kam es auch vor, daß an einem Sonntag weder Steine noch Bäume – hundertjährige Buchen oder Eichen, natürlich immer ohne Geräte – zu transportieren waren. Dann bevölkerten sich der Appellplatz und die Lagerstraßen mit Häftlingen, die in Gruppen zusammenstanden oder von Zaun zu Zaun auf und ab gingen (möglichst weitab von einem der zwanzig Wachttürme) und sich über ihr Heimweh oder über die Kriegslage aussprachen, von der manche mehr als andere zu wissen glaubten.
An einem solchen arbeitsfreien Sonntag kam ich beim Spaziergang an einer Steinbaracke vorbei (die Steinbaracken waren zweigeschossig), vor der auf einer Kiste oder einem Tisch ein großer Häftling stand, der schon blutete und von einer Menschenmenge, die ihn dicht umschloß, mit Dreck beworfen wurde. Die Menschen tobten, heulten und schrien. Es sah aus, als hätte eine Hundemeute ein Wild umstellt. Immer wieder wurde der gehetzte Häftling von seinem Podest heruntergeholt, geschlagen und beschimpft, und immer wieder versuchte er, auf seine Erhöhung zurückzugelangen, offenbar um für seine Rettung Zeit zu gewinnen.
Daß diese Rettung nicht in Gestalt eines der SS-Blockführer kam, die schon allein durch den gewaltigen Lärm hätten aufmerksam werden müssen, schien rätselhaft. Irgendwelche SS-Leute waren immer, auch in der Freizeit, im Lager. Man wurde selbst im dichten Gedränge auf sie aufmerksam, wenn die Mützen der Häftlinge wie eine Welle von den Köpfen flogen.
Durch Fragen wußte man bald, daß es sich um einen der vielen SS-Spitzel aus den Reihen der Häftlinge handelte und daß die Häftlinge, die hier über ihn herfielen, genau unterrichtet waren: den würde kein SS-Mann retten. Hier gab die SS den Häftlingen einen der ihren als Beute frei, und siehe, sie tobten sich an ihm aus und fragten nicht, warum wohl dieser eine auf solche Weise ohne Befehl der Sklavenhalter, aber nach ihrem Wunsch, ermordet wurde. (Eine Stunde später war der Häftling tot. Man hatte ihn aus dem oberen Fenster der Baracke gestürzt.) Es stellte sich bald heraus, daß es sich um einen schon lange bekannten Spitzel der SS gehandelt hatte, der bei irgendeiner Gelegenheit auch einmal innerhalb der SS von einer SS-Gruppe gegen die andere SS-Gruppe zur Spitzelei verwendet wurde. Dafür verurteilte ihn die SS zum Tode und überließ es der wütenden Häftlingsschar, das Todesurteil zu vollstrecken. Keiner der im Lager führenden politischen Häftlinge gehörte zu der rachsüchtigen Meute, die in Kauf nahm, daß sie der SS einen Gefallen erwies, wenn sie ihrer Wut über das Eingesperrtsein freien Lauf ließ.
Nicht nur bei dieser einen Gelegenheit, aber unter solchen Ausnahmeverhältnissen am augenfälligsten, erlebte ich, daß die Gefühlsreaktionen, denen der Mensch wie jedes Tier unterworfen ist, der Freiheit überall im Wege stehen. Hitler war ja nicht vom Himmel gefallen. Die Unfähigkeit einer überwiegenden Mehrheit der Menschen, ihre Gefühle zu kontrollieren, hatte ihn zum »Führer« gemacht. Ohne Herrschaft über sich selbst gibt es keine Freiheit.
Jeder Tod ist ein Weltuntergang. Auch wenn unzählbar viele Tote im Krieg und in den Gefangenenlagern gestorben wurden [sic.]. Wenn das Sterben zur Massenerscheinung wird, steigert sich aber nicht die Erschütterung, die der Einzeltod den Lebenden bereitet, sondern sie vermindert sich. Tausend Tote sind eine mathematische Abstraktion, nicht eine tausendfältige Begegnung mit dem Mysterium des Lebens, dem wir durch den Tod des einzelnen gegenübergestellt werden. Dennoch kann auch im Massensterben der Tod des einzelnen die Transzendenz der Schicksalszusammenhänge wie mit Scheinwerferlicht im Dunkel des Geschehens plötzlich erkennbar machen.
Mir wurde durch den Tod eines namenlosen Kommunisten die schauerliche Tiefe dessen sichtbar, was wir mit den Worten »Schuld« und »Sühne« anzudeuten versuchen. Um verständlich zu machen, was gemeint ist, muß ich über die Zustände im Lager noch etwas sagen.
Bei den Kommunisten in Buchenwald gab es eine streng hierarchische Ordnung. Wer als einer der ihren galt, stand unter dem Schutz einer geheimen Solidarität, er unterstand aber auch einer Gehorsamspflicht, deren Ursachen nicht diskutiert werden konnten. Wer Reichstags- oder Landtagsabgeordneter oder führender Funktionär gewesen war, gehörte zum Führungskreis. Innerhalb dieses Kreises hatte besondere Autorität, wer es als Häftling fertigbrachte, mit der SS-Führung so umzugehen, daß er durch seine Unentbehrlichkeit Einfluß auf die Entscheidungen der SS-Götter auszuüben vermochte. Eine ganz besondere Bedeutung solcher Art erlangte beispielsweise der preußische Landtagsabgeordnete Walter Krämer als Kapo des Krankenreviers. Er hatte vor seiner Verhaftung nie etwas mit der Medizin zu tun gehabt, wurde jedoch durch seine Klugheit und Geschicklichkeit, aber mehr noch durch seine Tatkraft für viele Häftlinge zum Lebensretter, weil er aus eigenem Entschluß inmitten des Revierelends sich zum erfolgreichen Chirurgen machte. Die SS-Ärzte waren nicht nur dumm, unwissend und faul, sie behandelten auch die ihnen anvertrauten Häftlinge wie Objekte der Anatomie. Der gefürchtete Lagerkommandant Koch, der wußte, wie schlecht die SS-Ärzte waren, ließ sich von »seinem« Häftling Krämer behandeln, als ob einer der Herren Roms sich seinem griechischen Sklaven überantwortete, auf dessen ärztliches Können er besonders stolz war, weil es ihm gehörte, denn der Sklave war sein Eigentum. Dieses Vertrauen des Sklavenhalters kostete dann freilich Krämer und seinem Helfer Peix das Leben. Beide ließ Koch ermorden, weil sie über seine Syphilis Bescheid wußten. Ähnlich große Autorität wie Krämer besaßen im Kreise der Kommunisten der Lagerälteste Reschke – er wurde nach 1945 in der Sowjetzone Organisator der zentralen »Volkspolizei«, fiel aber dann in Ungnade – und Walter Bartel, der bei Pieck als persönlicher Sekretär amtierte und jetzt am Institut für Zeitgeschichte in Ost-Berlin Professor sein soll. Diesen Sachverhalt muß man kennen, um zu begreifen, was inmitten des Massensterbens, das zum Alltag des Lagerlebens geworden war, der Tod eines einzelnen bewirkte.
Bei einem dieser führenden Gefangenen meldete sich ein Kommunist, der als Kapo mit einem Arbeitskommando in ein Außenlager auf »Transport« geschickt worden war (zu Buchenwald gehörte eine große Zahl solcher Außenlager) und jetzt wieder in das Hauptlager zurückkehrte. Er beichtete und verlangte einen Richterspruch: Unter der Drohung, er werde sonst gleich miterhängt, sei von ihm verlangt worden, einen Polen zu strangulieren, der den Versuch gemacht hatte zu fliehen. Der zurückgekommene Kapo wollte von seinen Kameraden wissen, ob man ihn für einen Mörder hielt oder ihm das zubilligte, was man heute »Befehlsnotstand« nennt.
Die Kommunisten beschäftigten sich gründlich mit dieser Beichte. Die Beratung dauerte tagelang, denn man konnte sich ja nicht zusammensetzen und diskutieren, sondern einer mußte zum anderen gehen (natürlich ohne dabei aufzufallen, aber auf fremde Ohren achtend), unter vier Augen das Für und das Wider besprechen und dann die erarbeitete Meinung weitergeben. Nach Tagen wurde der Kapo freigesprochen. Er habe den Polen nicht retten können und sei nicht verpflichtet gewesen, wegen Befehlsverweigerung selbst zu sterben. Am nächsten Morgen fand man den Freigesprochenen tot in seinem Bett. Liegend hatte er sich erhängt. Neben ihm lag ein Zettel, auf dem stand, nicht wörtlich, aber sinngemäß: »Kameraden, habt Dank für Euren Freispruch, weil ich so in Eurer Gemeinschaft bleiben durfte. Ich kann mit der Schuld aber nicht weiterleben.«
Die SS erfuhr nur, daß sich wieder einmal ein Häftling das Leben genommen habe. Seine Leiche wurde fotografiert, das übliche Protokoll für die Akten angefertigt (den Zettel hatte der Stubendienst längst in Sicherheit gebracht), und dann war Alltag wie bei anderen Toten. Im Kreise der Politischen wurde lange über diesen Mann gesprochen, der uns vorgestorben hatte, wie man aus der moralischen Verantwortung nicht entlassen wird, auch wenn einem die politische Gemeinschaft den »Befehlsnotstand« zubilligt.
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