Literatur aus Buchenwald
1 : Bruno Apitz – »Das kleine Lager«

Person

Bruno Apitz

Ort

Gedenkstätte Buchenwald

Thema

Thüringen im literarischen Spiegel

Autor

Bruno Apitz

Nackt unter Wölfen.erw. NA auf der Grundlage der Erstausgabe des Mitteldeutschen Verlags Halle (Saale) von 1958, hg. Susanne Hantke und Angela Drescher, Aufbau Verlag, Berlin 2012, S. 503-508. © Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2012. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Aufbau-Verlags.

Der bekannte Schla­ger: »Das kann doch einen See­mann nicht erschüt­tern …« wurde von uns alten Lager­ha­sen in die Ver­sion abge­wan­delt: »Das kann doch einen Häft­ling nicht erschüttern«.

Damit sollte zum Aus­druck gebracht wer­den, wie abge­härtet wir waren, wel­che dicke Haut wir bekom­men hat­ten. Den Gefah­ren des Lager­le­bens, dem Tod und den Brutalitä­ten der SS stan­den wir gleich­gül­tig gegen­über. Wir hat­ten fast vor all die­sen Din­gen den Respekt ver­lo­ren. Es gab nichts, was uns noch hätte erschüt­tern kön­nen. Muss­ten wir »ste­hen«, gin­gen wir über den Bock, in den Bun­ker, oder hin­gen wir am Baum, beein­träch­tigte uns das kaum mehr. »Pech gehabt«, hieß es im äußers­ten Falle. Lei­chen, Kranke, Krüp­pel, Abge­zehrte, Ver­hun­gernde, was waren sie uns noch? Sie gehör­ten zum all­täg­li­chen Bild des Lagers.

Und doch gab es noch etwas, das auch uns alte, abge­brühte Kon­zen­tra­tio­näre erschüt­tern konnte. Das war das »Kleine Lager«. Auch heute, da wir der Hölle ent­ron­nen sind, nen­nen wir die­sen Namen noch mit einer gewis­sen Scheu. Die­ses »Kleine Lager« war der Inbe­griff alles mensch­li­chen Elends.

»Der Mensch­heit gan­zer Jam­mer fasst mich an!«, stöhnt Faust, als er vor Gret­chens Ker­ker steht. Hätte Goe­the Worte fin­den kön­nen, wenn er vor dem Ker­ker der Tausen­den da oben auf dem Etters­berg gestan­den? — Keine Spra­che der Erde fin­det auch nur annä­hernde Begriffe, um die furcht­barsten aller Zustände zu schil­dern, die im »Klei­nen Lager« herrsch­ten. Und ich soll dar­über schreiben? …

Das »Kleine Lager« war eine Gesamt­heit von Blocks inner­halb des Lagers Buchen­wald. Es bestand aus alten Pferde­ställen, die von einem dop­pel­ten Sta­chel­draht­zaun umge­ben waren. Hier wur­den die Mas­sen der täg­lich ein­lau­fen­den Zu­gänge zusam­men­ge­trie­ben. Hier haus­ten sie, die aus ande­ren Lagern nach Buchen­wald gebracht wor­den waren. Franzo­sen, Hol­län­der, Polen, Rumä­nen, Rus­sen, Grie­chen, Bel­gier, Ungarn, Deut­sche, Juden aller Natio­nen, Zigeu­ner, hochge­bildete Men­schen, Geis­tes­schwa­che, Kranke, Krüp­pel, Ver­brecher, Greise, Kin­der, alles durch­ein­an­der. Ein ein­zel­ner Block war im Durch­schnitt mit über 1000 Mann belegt.

Die Blocks ent­behr­ten jeg­li­cher Ein­rich­tung, die den Auf­enthalt von Men­schen, noch dazu in so gro­ßer Anzahl, be­rechtigt erschei­nen ließe. Es gab z. B. keine Fens­ter, denn es waren, wie gesagt, alte Pfer­de­ställe, die nur eine schmale, kaum 25 cm »breite« Glas­ritze als »Fens­ter« besa­ßen. An den Längs­wän­den befan­den sich die »Bet­ten«. Bet­ten! Wenn ich das Wort schon höre. Es waren drei­fach bis unter das Dach des Pfer­de­stal­les auf­ge­staf­felte Holz­ver­schläge, Obst­hürden ver­gleich­bar. In die­sen »Bet­ten« leb­ten die Gefange­nen. Leb­ten! Ja! Denn die Blocks waren so eng und der­art über­füllt, dass sich das täg­li­che Leben der Insas­sen buch­stäblich im Bett abspielte. Ein Auf­ent­halt im Block war durch die Enge des Rau­mes nicht mög­lich. So lagen denn die Gefan­ge­nen in ihren Ver­schlä­gen und ver­brach­ten den Tag. Hier aßen sie, wenn sie am Tisch kei­nen Platz fan­den, hier schlie­fen sie. Spinde oder Schränke zur Auf­nahme der Hab­seligkeiten gab es keine, und der Gefan­gene musste seine weni­gen »Bro­cken«, die er besaß, im Bett unter­brin­gen, selbst seine Ess­schüs­sel. Ein infer­na­li­scher Gestank herrsch­te im Raum, der selbst uns, die wir daran gewöhnt waren, den Atem sto­cken ließ. Es wim­melte von Unge­zie­fer, von Flö­hen und Läu­sen. Wenn ich sage, dass die Flöhe massen­weise auf dem Fuß­bo­den her­um­hüpf­ten, so bitte ich das wört­lich zu neh­men, selbst wenn du dir, lie­ber Leser, keine Vor­stel­lung davon machen kannst. Aber wärest du mit mir in einen sol­chen Block gegan­gen und hät­test auf den Fuß­boden geschaut, dann hät­test du sie fröh­lich hüp­fen sehen können.

Ver­dreckt, ver­laust und unge­wa­schen, unra­siert, stin­kend vor Kot, von eitern­den Wun­den geplagt, so leb­ten die Men­schen im »Klei­nen Lager«. Phleg­mone und Was­ser­sucht waren die häu­figs­ten Krank­hei­ten. Phleg­mone, das heißt: eiternde Wun­den, so groß wie eine Hand, mit Löchern, in die man bequem eine Faust ste­cken konnte. Was­ser­sucht, das heißt: geschwol­lene Füße, so dick wie Ober­schen­kel. Die Insas­sen des »Klei­nen Lagers« unter­schie­den sich we­sentlich von den ande­ren, die das Glück hat­ten, in rela­tiv bes­se­ren Wohn­ver­hält­nis­sen zu leben. Als Klei­dung dien­ten jenen nur Lum­pen, die sie Tag und Nacht auf dem Leib hat­ten, denn auch des Nachts ent­le­dig­ten sie sich ihrer Klei­dung nicht. Es gab für sie ja keine Decken, und die Nächte waren kalt. So wur­den Men­schen, die im zivi­len Leben viel­leicht eine acht­bare Stel­lung inne­ge­habt hat­ten, bin­nen kur­zem zu »Ton­nen­ad­lern«, »Musel­män­nern« und »Kre­ti­nern«, die sich aus Keh­richt­hau­fen und Abfall­ton­nen das noch »Brauch­bare« her­aus­klaub­ten, die Kar­tof­fel­scha­len und ver­faulte Steck­rü­ben aßen. Die den Fut­ter­wa­gen des Schweine­stalles über­fie­len und sich eine Mütze voll Schwei­ne­fut­ter klau­ten, um es an Ort und Stelle gie­rig zu ver­schlin­gen. Völ­lig abge­stumpft, in tie­ri­scher Gleich­gül­tig­keit, lie­ßen sie sich tre­ten und prü­geln. Einem »Ton­nen­ad­ler« konnte man in die Fresse hauen oder in den Arsch tre­ten, ohne dass er mit ei­ner Regung dar­auf reagiert hätte. Höchs­tens, dass er ein­mal weinte wie ein Kind. Wurde er ange­brüllt: »Hau ab, du ver­fluchter Speck­jä­ger!«, dann trot­tete er stumpf­sin­nig fort. Bekam er noch einen kräf­ti­gen Tritt in den Hin­tern mit auf den Weg, drehte er sich nicht um, lief auch nicht schnel­ler, son­dern tor­kelte nur – vom Fuß­tritt aus sei­nem Gleichge­wicht gebracht – einige Schritte, um dann wie­der in sei­nen stu­pi­den Trott zu ver­fal­len. Am Zaun des »Klei­nen Lagers« stan­den sie den gan­zen Tag über, ein­ge­fan­ge­nen Tie­ren ähn­lich, und stier­ten geist­los auf die Vor­über­ge­hen­den. Bettel­ten um eine Kippe. Sie emp­fin­gen keine Briefe und durf­ten keine schrei­ben. Ver­schol­lene für ihre Ange­hö­ri­gen waren sie, und wir wuss­ten nicht, woher sie kamen, wer sie waren. Sie spra­chen eine Spra­che, die uns fremd war, und hin­ter ih­rer gefurch­ten Stirn dach­ten sie Gedan­ken, die wir nicht kann­ten. Sie waren die Seu­chen­trä­ger des Lagers. Fleck­fieber, Bauch­ty­phus und Ruhr wüte­ten mör­de­risch unter ihnen. Sie ver­reck­ten, wo sie stan­den und lagen. Am Tage in einem Win­kel hin­ter ihrem Block, des Nachts in ihren Bret­terverschlägen. Früh­mor­gens wur­den die Toten aus den Blocks … getra­gen (hätte ich bald gesagt). Aber ein Toter des »Klei­nen Lagers« wurde nicht zum Block hinausgetra­gen, son­dern hin­aus­ge­wor­fen, so wie eine Schau­fel Keh­richt hin­aus­ge­wor­fen wird. Dann wur­den die Lei­chen auf einen gro­ßen Wagen ein­ge­sam­melt und zum Kre­ma­to­rium gefah­ren. Den größ­ten Teil der 51 000 Toten lie­ferte das »Kleine Lager« …

Der ewige Hun­ger, die abso­lute Besitz­lo­sig­keit leg­ten die nied­rigs­ten Instinkte, die in einem Men­schen woh­nen kön­nen, in ihnen nackt und bloß. In den Blocks bestah­len sie sich gegen­sei­tig in unvor­stell­ba­rer Weise. Täg­lich kam es zu Zusam­men­stö­ßen unter ihnen. Wenn die »Kre­ti­ner« des »Klei­nen Lagers« ande­ren gegen­über sich pas­siv und apa­thisch ver­hiel­ten, unter sich wur­den sie zu Bes­tien. Plötz­lich ent­steht ein Tumult im Block. Was ist wie­der los? Da haben sich zweie inein­an­der ver­bis­sen wie hung­rige Hunde. Der eine umklam­mert mit schmut­zi­gen Hän­den ein Stück Brot, das ihm der andere ent­rei­ßen will. Sie zer­ren und schreien, packen sich und schla­gen auf­ein­an­der ein. Das Brot fällt zu Boden und wird im Dreck zer­tre­ten und zer­tram­pelt. An­dere fischen es sich zwi­schen den tram­peln­den Bei­nen auf und stop­fen sich die Bro­cken has­tig in den Mund und wol­len mit dem Rest ver­schwin­den. Aber es sind schon wie­der Neue da, die Beute wit­tern, und so jagen sie sich gegen­sei­tig den Raub wie­der ab. Tumult und Men­schen­knäuel! Und ehe der Blo­ck­äl­teste kommt, um die Irr­sin­ni­gen aus­ein­an­der­zu­trei­ben, liegt schon einer am Boden, die zer­fetz­ten Lum­pen glit­schen im Blut, das aus sei­nem Bau­che quillt. Ein Kü­chenmesser liegt neben ihm. Wer hat gesto­chen? Der Täter ist im Tru­bel ver­schwun­den! Viel­leicht ist es jener, der dort in der Ecke steht und zer­tre­te­nes Brot gie­rig und has­tig ver­schlingt, mit wach­sa­men Augen um sich schau­end. Ein Pole, ein Russe, ein Fran­zose, ein Deut­scher? … Ein Menschen­tier! … Um ein Brot oder auch nur um einen alten Fet­zen ver­dreck­ten Stoff haben sie sich gegen­sei­tig totgeschlagen.

Das erschüt­terndste Bild aber boten die Insas­sen des »Klei­nen Lagers« am Tage unse­rer Befrei­ung, dem 11. April 1945! Wäh­rend das ganze Lager auf­ju­belte im Rausch der wiederge­wonnenen Frei­heit, wäh­rend die Kolon­nen der antifaschis­tischen Kämp­fer mar­schier­ten, die Knarre in der Hand, die SS gefan­gen nah­men und vom Lager Besitz ergrif­fen, stan­den die Insas­sen des »Klei­nen Lagers« noch lange nach dem Ein­marsch der Ame­ri­ka­ner am Draht­zaun und bet­tel­ten um etwas Rauch­ba­res. Keine Auf­lo­cke­rung ihrer Züge zeigte an, dass sie freie Men­schen gewor­den waren. Keine Freude und keine Erre­gung hatte sie erschüt­tert, so tief waren sie in den Pfuhl ihres erbärm­li­chen Daseins gesun­ken. Durch den fa­schistischen Ter­ror, durch die Schre­cken und Qua­len ihrer Gefan­gen­schaft völ­lig ent­menscht, hat­ten sie die Größe des Gesche­hens über­haupt nicht begriffen.

Sie blie­ben das, zu dem sie das »Kleine Lager« gemacht hatte.

Kann eine Anklage gegen die nazis­ti­schen Mör­der grauen­hafter sein als die see­li­sche Unfä­hig­keit Tau­sen­der Men­schen, die Tat­sa­che ihrer Befrei­ung zu erken­nen? Ich habe Trä­nen in den Augen ame­ri­ka­ni­scher Sol­da­ten gese­hen, als sie zum ers­ten Mal die Hölle des »Klei­nen Lagers« betraten …

 Literatur aus Buchenwald:

  1. Bruno Apitz – »Das kleine Lager«
  2. Ruth Elias – »Die Hoffnung erhielt mich am Leben« (Auszug)
  3. Julius Freund – »Der Schriftsteller als Leichenträger – Jura Soyfer«
  4. Ivan Ivanji – »Schattenspringen« (Auszug)
  5. Imre Kertész – »Roman eines Schicksallosen« (Auszug)
  6. Eugen Kogon – KL-»Freizeitgestaltung«
  7. Carl Laszlo – »Erinnerungen eines Überlebenden«
  8. Fritz Lettow – »Arzt in den Höllen« (Auszug)
  9. Fritz Löhner-Beda – »Buchenwaldlied«
  10. Jacques Lusseyran – »Leben und Tod«
  11. Judith Magyar Isaacson – Die Hyäne
  12. Hélie de Saint Marc – »Jenseits des Todes«
  13. Jorge Semprún – »Die Lorelei«
  14. Leonhard Steinwender – »Die Stimme des Rufenden in der Wüste«
  15. Karl Stojka – »Auf der ganzen Welt zuhause« (Auszug)
  16. Ernst Thape – »Befehlsnotstand«
  17. Ernst Wiechert – »Der Totenwald« (Auszug)
  18. Elie Wiesel – »Die Nacht zu begraben, Elischa« (Auszug)
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