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Thüringen im literarischen Spiegel
Fritz Lettow
Arzt in den Höllen. Erinnerungen an vier Konzentrationslager, edition ost, Berlin 1997.
Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Eulenspiegel Verlagsgruppe Berlin.
Aktuell ist Fritz Lettows Buch »Arzt in den Höllen. Erinnerungen an vier Konzentrationslager« im Verlag »Das Neue Berlin« als E-Book lieferbar.
Wie in allen Haftanstalten und um so mehr unter den schwierigen und grausamen Bedingungen eines KZ gab es nicht selten Unfälle. Viele Häftlinge litten unter schwer heilenden Wunden oder hatten innere Erkrankungen. So war auch die SS gezwungen, allein schon zur Erhaltung der notwendigsten Arbeitskraft, eine Stätte für die gesundheitliche Behandlung dieser Kranken zu errichten. Diese Krankenstation, wie beim Militär »Revier« genannt, stand zwar nominell unter ihrer Leitung, die Arbeit wurde dort aber – wie in allen Einrichtungen des Lagers – von den Häftlingen getan, sie hatten deshalb in diesem Bereich des Lagers eine ziemlich weitgehende Selbständigkeit erreicht.
Die SS-Ärzte und ihre Gehilfen aus der SS, die Scharführer und Unterscharführer, waren allein daran interessiert, daß der äußere Ablauf funktionierte und überall Sauberkeit und Ordnung herrschten. Es lag ihnen am äußeren Schein, den sie ab und an demonstrieren wollten. Um das wirkliche Wohl und Wehe der Patienten kümmerten sie sich überhaupt nicht, höchstens von weitem, wenn mal, selten genug, ein besonders interessanter Fall zu studieren war. Sie unterschrieben meist nur die täglichen Meldungen über Aufnahmen, Entlassungen, Bestand, Sterbefälle, Anforderungen an die Apotheke, Medikamente und Verbandsstoffe betreffend, und die nach draußen gehenden Berichte oder Briefe an Angehörige. All das mußten aber, und zwar eigenständig, die Häftlingsarztschreiber entwerfen und so formulieren, wie es die SS wollte.
Die aseptischen Operationen machten die SS-Ärzte – soweit sie das konnten –, wobei ihnen Häftlinge als »Sanis« assistierten, instrumentierten und die ganze übrige Arbeit taten. Manche von diesen Sanis lernten allmählich so viel dazu, daß einige von ihnen, die begabtesten, allmählich in die Lage versetzt wurden, die Arbeit der Ärzte am OP-Tisch mehr oder weniger auch allein zu tun. Die septischen, also eitrigen Operationen machten sie meist sowieso, und einige von ihnen, wie der als »Auerhahn« bekannte Vorarbeiter Klangwarth oder der »Bär« Walter Krämer, verfügten über eine beachtliche Geschicklichkeit im Schneiden von Wunden und Abszessen. Diese Eingriffe und Operationen waren das Häufigste, Gewöhnlichste und für die SS-Ärzte natürlich Uninteressanteste.
Die Sanitäter waren zwar sämtlich Laien, aber im Laufe der Jahre hatten sie sich von den SS-Ärzten und den im Lager befindlichen Häftlingsärzten umfassendes medizinisches Wissen angeeignet, auch über ihre chirurgischen Kenntnisse hinaus. Und sie besaßen wegen der Unmenge von Kranken, die sie im Laufe der Zeit behandeln mußten, eine riesige Erfahrung. Sie waren alle intelligent, und viele sahen sich in der Lage, in gewissen Dingen manchen Arzt auszustechen. Wenn es galt, Wunden zu behandeln und gute Verbände anzulegen, so waren viele von ihnen erstklassig, und man konnte sich ihnen wohl anvertrauen.
Daß Häftlingsärzte im Revier arbeiteten, war in den Anfangsjahren des Lagers noch verboten, und auch später wollten die Sanitäter auf Grund ihrer immensen Selbständigkeit und Erfahrung von Ärzten im allgemeinen nichts wissen. Andererseits gab es jüdische Ärzte im Lager, von denen sie sich auch manches absahen, die aber ihrerseits den Sanis schmeichelten, um ihre Posten im Judenrevier, das in einer besonderen Baracke untergebracht war, zu behalten.
Auch ich durfte in den ersten eineinhalb Jahren nicht im Revier arbeiten. Ich wurde in dieser Zeit zunächst als Bauhilfsarbeiter, später in der Effektenkammer und danach in der Lagerkapelle eingesetzt.
Während des Tages wurden jene verbunden und behandelt, die in den Lagerwerkstätten arbeiteten, am Abend kamen die dran, die aus den Außenkommandos einrückten. Das war ein nie abreißender Strom. Zu Hunderten standen sie Schlange, und wäre nicht der »Bär« Walter Krämer gewesen und hätte er nicht manchen Drückeberger schon vorher ausgesiebt, die Arbeit wäre nicht zu schaffen gewesen. Alfred Tittel tat seinen Dienst in der inneren Ambulanz, neben ihm die kleine, verwachsene »Waldfee«. Während Alfred durch Seriosität, Ernst und Menschenkenntnis vieles meisterte, fertigte die kleine »Waldfee« mit nie verlegener Schnauze die Zudringlichen ab. Da waren Drückeberger, die Temperaturen schwindelten, um ins Revier aufgenommen zu werden, wußten sie doch genau, daß hohe Temperaturen ein Grund dazu waren. Man mußte sie so setzen, daß sie beim Temperaturmessen beobachtet werden konnten. Da waren andere, die eine Diarrhöe vortäuschten, um sich vielleicht über den Tag im Revier herumdrücken zu können. Man kontrollierte ihre Angaben und wehe, es stimmte nicht.
Nicht Herzlosigkeit war für dieses unnachgiebige Verhalten bestimmend. Galt es doch, den wirklich Kranken zu helfen – so gut es unter den herrschenden, stark beschränkten Bedingungen eben ging. Einige Medikamente standen zur Verfügung, ein paar Lichtkästen und Bestrahlungslampen. Während er die Wunden der einen behandelte, mußte Alfred in demselben Raum gleichzeitig die Lichtbehandlung geben. Später wurde dafür ein fast eleganter Raum gebaut. Auch ein Laboratorium kam hinzu, in dem ein erstklassiger jüdischer Bakteriologe die kompliziertesten Untersuchungen ausführte. Er ging später nach Schanghai und wurde dort Direktor eines Instituts. Hier aber, in der Haft, mußte er sich die Anpöbeleien der Sanitäter gefallen lassen. Da war vor allem Karl Peix, der alle tyrannisierte. Er war der Vertraute Walter Krämers. Aber Walter, der für die Politischen alles tat und der eine »Kanone« war, hatte dadurch sein Leben an einen Menschen gekettet, der ihm noch zum Verderben werden sollte.
Die SS-Ärzte griffen, wie gesagt, nur selten ein, sie gaben nur Befehle und ließen den Sanis freie Hand. Offenbar fürchteten sie, daß Häftlingsärzte zu viel sehen und berichten könnten. Und es war dort schon manches zu sehen! So gehörte es zu den krassen Methoden der SS-Ärzte, auf ärztlichen Wege Geständnisse zu erpressen. Dr. Ding, ein junger SS-Arzt, hatte einen Häftling vor sich, der überhaupt kein Wort reden wollte, den Stummen markierte. »Nun, den kriege ich schon«, sagte er und gab ihm eine Brechspritze. Der Häftling erbrach sich windend, aber er redete nicht. Dann versuchte es der SS-Arzt mit elektrischem Strom, so stark, daß der Häftling sich vor Schmerzen aufbäumte.
Der elektrisierende Sanitäter fuhr auf Befehl des Arztes plötzlich mit der Elektrode über das Herz des Häftlings, was der Stumme nicht aushielt. Er starb, und obwohl Dr. Ding, dem das peinlich war, sofort Spritzen gab, war er nicht mehr zu erwecken.
Ein anderes war es mit den vielen aussichtslos Kranken, den Tuberkulösen, Siechen. Es hatte sich bald und heimlich im Lager herumgesprochen, daß mit den meisten von ihnen irgend etwas passierte. Sie wurden ins Revier eingeliefert, und nach zwei oder drei Tagen waren sie tot. Das war sehr auffällig und ging nicht mit rechten Dingen zu, aber es war gefährlich, darüber zu reden. Doch die Fälle waren zu eklatant, irgend etwas mußte dort mit den Kranken angestellt werden. Es gelang mir, einiges darüber zu erfahren. Irgendwelche Spritzen schienen gegeben worden zu sein, die den Tod zur Folge hatten. Mich schauderte bei diesem Gedanken. Ich wußte damals noch nicht, daß Platzmangel in den Revieren möglicherweise zu einer Gewaltlösung zwang. Aber ich hätte es entschieden abgelehnt, bei einer solche Sache mitzutun.
Jene Häftlinge, die anfänglich offenbar auf Befehl der SS-Ärzte diese Dinge mitgemacht hatten, verloren schließlich jedes Maß und Ziel. Es kam vor, daß gesunde Leute, meist Juden, die eine kleine Finger- oder Fußwunde hatten, abends ins Revier aufgenommen wurden und schon am Morgen tot waren. Hinzu kam, daß Peix offensichtlich pervers war. Zu jungen Häftlingen die Liebenswürdigkeit selbst, zu alten brutal, war er immer darauf bedacht, sich aus dem Kreis seiner Patienten hübsche junge Menschen heranzuziehen, die er monatelang als Kalfaktoren behielt, und mancher wußte delikate Affären von ihm zu erzählen. Irgendwann kam eine solche Affäre heraus. Der unbequeme Zeuge war ein bildhübscher junger Pole namens Gornick, intelligent und strotzend vor Gesundheit. Er hatte es gut im Revier, er hatte nicht zu viel Arbeit, sie war nicht zu schwer für ihn, und er hatte viel und gut zu essen. Und das war für einen Siebzehn- oder Achtzehnjährigen damals im Lager ganz wesentlich. Während die anderen herumliefen und sich etwas gegen den Hunger organisieren mußten oder sich den Bauch mit dünner Suppe vollschlugen, befand er sich sogar in der Lage, seinen Kameraden etwas abzugeben. Oft sah man sie am Revierzaun stehen, und er steckte ihnen kleine Päckchen zu. Aber er hatte sich an Peix verkauft.
Eines Tages, der Junge war bei voller Gesundheit, hieß es, er sei plötzlich verstorben. Es wurde nicht allzu viel darüber geredet, fanden doch im Lager ständig zu viele erregende Dinge statt. Aber die den Jungen gekannt hatten, wurden blaß vor Schreck: Er hatte zuviel gewußt und war zu unbequem geworden, deshalb hatte ihn jemand kurzerhand beseitigt.
Später hörte man von einigen dieser SS-Ärzte schreckliche Dinge. Dr. Eisele machte sich ein Vergnügen daraus, kräftige Kerle, meist Zigeuner oder Asoziale von der Lagerstraße weg ins Revier zu holen und sie mit einer Spritze zu erledigen. Man nannte ihn darum den »Henker von Buchenwald«.
Sicher wußte Walter Krämer um all diese Dinge. Er mußte die SS-Ärzte gewähren lassen, aber er ließ auch Peix gewähren. Im übrigen war Walter von einer geradezu fanatischen Arbeitskraft beseelt, und er hatte ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl. Überall war sein dröhnender Baß zu hören, und wo er konnte, sorgte er für das Wohl unserer Kumpels, der Politischen. Tag und Nacht war er auf den Beinen. Er ahnte, daß er als bekannter ehemaliger Politiker das Lager nicht lebend verlassen würde. Er hat das selbst manchmal geäußert. Aber er sagte dazu: »Dann will ich wenigstens so viel für meine Kumpels getan haben, daß ich ruhig sterben kann.« Und das tat er.
Er hatte sich eine große Erfahrung im Operieren angeeignet, und sogar SS-Männer wollten lieber von ihm, als von einem SS-Arzt behandelt werden. Eines Tages ließ ihn sogar der Kommandant im Auto abholen und konsultierte ihn. Oft bot er den SS-Ärzten mit der ihm eigenen Energie Trotz und überzeugte sie von der Unrichtigkeit mancher ihrer Maßnahmen. Aber er wagte auch viel. So ließ er mit Hilfe befreundeter Kapos ein großes Steingebäude ausführen, das als Operationssaal erstklassig eingerichtet und benutzt wurde. Illegal, ohne Bauerlaubnis, war es errichtet, aber jeder freute sich darüber.
Allerdings wurde er den SS-Ärzten durch seine Eigensinnigkeit und Eigenwilligkeit allmählich unbequem. Auch seine Verfilzung mit Peix war der SS natürlich wohlbekannt. Spitzel hatten der SS ausführlich über die beiden berichtet, die zu viel wußten und deshalb gefährlich wurden.
Eines Tages erschienen mehrere SS-Leute im Operationssaal, wo Walter gerade arbeitete, und schrien: »Wo ist denn dieser Schlosser? Eine Schande, daß man solche Metallarbeiter auf die Menschheit los läßt!« Walter wußte, was die Stunde geschlagen hatte. Man verhaftete ihn und Peix und brachte beide zum Bunker, von wo sie nach kurzer Zeit weggebracht wurden. Später erfuhren wir, daß sie in das Außenkommando Goslar gebracht worden waren. Sie hatten dort zwei Tage mitgearbeitet, waren plötzlich beiseite geführt worden, einige Schüsse krachten in der Ferne, und nie hat man wieder etwas von ihnen gehört. Alle im Lager trauerten um Walter, vermißten ihren hilfsbereiten Kameraden, und sein tragisches Schicksal wurde durch Häftlinge, die auf Transport gingen, in allen KZs schnell bekannt.
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