Personen
Anna Amalia v. Sachsen-Weimar-Eisenach
Carl August v. Sachsen-Weimar-Eisenach
Orte
Goethe-Nationalmuseum und Goethe-Wohnhaus
Thema
Jens-F. Dwars
Thüringer Literaturrat e.V.
Der Stadtname Wimari taucht zuerst im 9. Jahrhundert auf und bedeutet im Altgermanischen »Heiliger Sumpf«. Böse Zungen behaupten, dass sei die Stadt bis heute geblieben: ein Sumpf voller Intrigen, der sich selber heilig dünkt.
Zumindest das literarische Leben Weimars hat in seiner Geschichte Höchstes und Niedrigstes zugleich, Sternstunden und schmachvolle Peinlichkeiten zu bieten. Sein Geburtshelfer ist der Krieg. Ein Krieg um den wahren Glauben und natürlich um Macht und Territorien. Nachdem Johann Friedrich I. (1503–1554) als Anführer der protestantischen Partei 1547 im Schmalkaldischen Krieg die Kurwürde und Wittenberg verloren hatte, verlegte er seine Universität nach Jena und die neue Herzogliche Residenz nach Weimar. Jena entwickelte sich fortan zum Zentrum des Geistes, der Kritik und des technischen Sachverstandes. In Weimar waren Intellekt, Kunst und Kultur als Dekor gefragt, mit dem der Hof sich schmückte, um durch kulturelle Repräsentation seine geringe politische Bedeutung im Klein- und Kleinststaatengebilde Deutschland zu kompensieren.
Den ersten Weimarer Musenhof gründete die Herzogin Dorothea Maria (1574–1617), die als Witwe die Kirchenlieddichter Martin Rutilius und Melchior Vulpius sowie den Pädagogen Wolfgang Ratke förderte. Als sie starb, gründeten ihr Sohn Johann Ernst d.J. und ihr Bruder, Fürst Ludwig I. von Anhalt-Köthen nach dem Vorbild eines italienischen Ritterordens die »Fruchtbringende Gesellschaft« – die erste Vereinigung zur Pflege der deutschen Sprache und Literatur. Ihr Sitz war zunächst Köthen, erst mit Wilhelm IV. (1598–1662) als Oberhaupt kam der Palmenorden 1651 wieder nach Weimar. Er berief den Dichter und Komponisten Georg Neumark (1621–1681) zu seinem Bibliothekar und Sekretär der Gesellschaft, deren Geschichte er aufschrieb: »Der Neu-sprossende Teutsche Palmbaum« (1669).
Als regierende Witwe berief die Herzogin Anna Amalia (1739–1807) den damals schon berühmten Schriftsteller und Antikekenner Christoph Martin Wieland (1733–1813) zum Erzieher ihres Sohnes Carl August (1757–1828). Als der 1775 den Thron bestieg, zog er den Jungstar Goethe (1749–1832) nach Weimar, der ihm Herder (1744–1803) als neues Oberhaupt der Landeskirche empfahl. Andere Freunde Goethes, wie Lenz (1751–1792) und Klinger (1752–1831), mussten wieder gehen, da sie sich nicht in die höfischen Konventionen fügten. Goethe kam auch nicht als Schriftsteller, sondern übernahm als Multiminister ein Amt nach dem anderen, um sich selbst zu wandeln, an den Aufgaben zu wachsen, den ungeheuren, nach absoluter Freiheit gierenden Subjektanspruch des Sturm und Drang durch praktische Erfahrung der vielschichtigen Wirklichkeit zu objektivieren. Als er Ordnung in die Ämter gebracht, d.h. sich ersetzbar gemacht hatte, zog sich Goethe 1786 nach Italien zurück, um (wieder) Künstler zu werden. In sich hatte er bereits jenes Maßhalten entwickelt, das er nun äußerlich nach dem Vorbild der Antike zur Klassik erhob.
Der eigentliche Musenhof, dem sich Anna Amalia nach ihrer Regierungszeit widmete, war mehr ein geselliger Kreis zur Unterhaltung, als ein Ort der Kunstproduktion. Was Goethe – ebenso wie Herder und Wieland – für das »Tiefurter Journal« oder die Liebhaberbühne schrieb, blieben, bis auf die »Iphigenie«, Bagatellen, ebenso wie die Maskenaufzüge, die der Dichterfürst später für höfische Feste entwarf. Gezielte Auseinandersetzungen über die Gesetze der Kunst konnte Goethe erst nach 1794 mit Schiller und den Frühromantikern in Jena führen.
Die Bestseller schrieben zu dieser Zeit Goethes Schwager Christian August Vulpius (1762–1827) in Weimar und der geborene Weimarer August von Kotzebue (1761–1819). Auch der einzige Weimarer Unternehmer Friedrich Justin Bertuch (1747–1822) war mit seinem »Journal des Luxus und der Moden« erfolgreicher als die Klassiker, deren Zeitschrift »Die Horen« von Jena aus die besten Schriftsteller vereinen sollte. Weil ihnen dies misslang, führten sie 1796 ihren »Xenien«-Krieg gegen den Zeitgeist. Positive Exempel für das klassische Konzept der Versöhnung im autonomen Kunstwerk sollten die Balladen und Schillers Geschichtsdramen seit dem »Wallenstein« bieten, mit dem Goethe 1798 das Weimarer Theater wiedereröffnen ließ. Um der Bühne auch als Dramaturg näher zu sein, zog Schiller 1799 nach Weimar, fühlte sich jedoch immer mehr von den höfischen Verhältnissen eingeengt und widmete sich in seinen Entwürfen Fragen der Großstadt, der Moderne.
Weimar war ein Residenzdorf mit 6000 Einwohnern, die zur Mehrheit vom Ackerbau lebten und noch ihr Vieh durch die Gassen trieben. Der Rest war als Handwerker oder Beamter für den Hof tätig. Und der Neubau des 1774 abgebrannten Schlosses zur Hochzeit des Kronprinzen mit der Zarentochter Paria Pawlowna verschlang bis 1804 alle Reserven des Landes. Hohes und Niederes, Gold und Dreck lagen hier unmittelbar nebeneinander. Seelisch gesprochen: das Weimarer Bürgertum hatte sich eingerichtet, das Bewusstsein der eigenen Minderwertigkeit paarte sich mit dem einer kulturellen Sendung, Demut mit Arroganz. Diese gefährliche Mischung sollte die nächsten Jahrzehnte fortwirken.
1803 starb Herder, 1805 Schiller, 1807 Anna Amalia. Und 1806 hatten das Fiasko von Jena und Auerstedt sowie die Besetzung Weimars durch 70.000 Franzosen, die wie Heuschrecken über das Nest herfielen, die Klassik-Idylle zerstört. Sie war Schein, wie jener Baseler Separatfrieden zwischen Frankreich und Preußen, der die Atempause des Geistes ermöglicht hatte. Für einen Augenblick war der Eiswind der Geschichte eingebrochen. Doch das Überkommene erfror nicht, man hielt sich daran fest, wärmte sich daran. So kam Carl August als Großherzog vom Wiener Kongress, der 1815 das Alte Europa konservierte.
Goethe zog sich in sein Werk zurück, vollendete, was er begonnen hatte (vor allem »Faust« und »Wilhelm Meister«), wurde sich selbst dabei »historisch« (»Dichtung und Wahrheit«) und hob seine Ideale in feinster Spiegelung und symbolischer Mehrdeutigkeit auf, so dass er der fortschreitenden Zeit immer fremder wurde. Zugleich begann jetzt, im Biedermeier, die Verklärung der verlorenen Klassik einzusetzen.
Unter Carl Alexander (1818–1901), dem Enkel Carl Augusts, sollte der Musenhof noch einmal erblühen. Musikalisch gelang dies durch die Bindung Liszts. In anderen Künsten dagegen scheiterte der Versuch. Arnold Böcklin etwa, der 1860 an die Kunstschule berufen wurde, floh vor dem »philiströsen Leben« und der »strengen Hofetikette«.
Auch die Literaten dieser Zeit blieben nicht lange: Ferdinand Freiligrath (1810–1876) erklärte 1840, er wolle in dem »deutschen Pompeji« nicht dauerhaft leben. Hoffmann von Fallersleben (1798–1874), der immerhin von 1854 bis 1860 an der Ilm wohnte, war froh »dieser Acker- und Dorfresidenz« zu entkommen. Friedrich Hebbel (1813–1863), der heftig umworben wurde, kam zwar von 1857 bis 1861 jedes Jahr für ein paar Wochen nach Weimar, meinte aber zuletzt, man müsse hier »entweder Goethe oder sein Schreiber sein«. Und Karl Gutzkow (1811–1878) war in Weimar von 1861 bis 1864 Generalsekretär der von ihm mitbegründeten Deutschen Schiller-Stiftung, d. h. er konnte nur an der Rettung verarmter Literaten mitwirken, nicht am produktiven Neubeginn einer modernen Literatur, die von den Großstädten ausging.
Anfang des 20. Jahrhunderts versuchten Berater des Großherzogs Wilhelm Ernst, ihn für den Plan eines radikal neuen Weimars zu gewinnen, das im Gegensatz zum Wilhelminischen Berlin der Kunst und dem Lebensgefühl der Moderne zum Durchbruch verhelfen sollte. Dazu zählte vor allem Harry Graf Kessler, der 1903 das »Großherzogliche Museum für Kunst und Kunstgewerbe« übernahm. Hier präsentierte er Meisterwerke der französischen Impressionisten, gründete den »Deutschen Künstlerbund« und holte Henry van de Velde nach Weimar, um mit der Großherzoglichen Kunstgewerbeschule das gesamte Handwerk, also die Produktion des ganzen Landes zu designen, nach dem »Neuen Stil« zu gestalten. Zentrum und Ideengeber dieses Stils sollte das von van de Velde umgebaute Nietzsche-Archiv sein.
Doch Kessler musste schon 1906 zurücktreten, weil eine Ausstellung mit Akt-Zeichnungen Rodins einen Skandal erregte, und van de Velde emigrierte 1917 in die Schweiz. Sein Nachfolger Walter Gropius vereinte 1919 die Kunstgewerbeschule mit der Kunstschule zum Staatlichen Bauhaus, das 1924 aus Weimar vertrieben wurde.
Weil im Weimarer Theater die Nationalversammlung nach der Novemberrevolution von 1918 getagt hatte, wurde die neue Republik ausgerechnet nach der Klassikerstadt benannt. Deren Einwohner waren jedoch mehrheitlich nicht republikanisch gesinnt, sondern monarchistisch und national-konservativ. Das Nietzsche-Archiv unter Elisabeth Förster-Nietzsche repräsentierte tatsächlich diesen Geist von Weimar und nicht den der Avantgarde. Offenen Nationalismus und Antisemitismus vertrat Adolf Bartels (1862–1945) mit seinem Schillerbund, der seit 1909 in Weimar »Nationalfestspiele für die deutsche Jugend« veranstaltete. Friedrich Lienhard (1865–1929) gründete mit Bartels 1900 die Zeitschrift »Heimat«, die immer mehr zum Sprachrohr der »völkischen« Bewegung wurde. Und Hans Severus Ziegler (1893–1978) gab im Auftrag Bartels die Zeitschrift »Deutsches Schrifttum« heraus, bis er 1924 die erste NS-Zeitung gründete: »Der Völkische«. 1933 wurde er Schauspieldirektor, organisierte seit 1935 die »Wochen des deutschen Buches« in Weimar und von 1939 bis 1942 die »Großdeutschen Dichtertreffen«.
Natürlich gab es auch Ausnahmen: Wilhelm Bode (1862–1922) bemühte sich seit 1899 in Weimar um eine Popularisierung von Goethes Leben und Werk. Selbst um Sachlichkeit besorgt, wirkte er ungewollt an der Verklärung der Klassiker mit. Georg Kaiser (1878–1945), der hier von 1911 bis 1918 zwei seiner expressionistischen Dramen verfasste, schrieb daher: »Ich verbinde mit Weimar keinerlei Begriff von Zukunft«.
In diesem rückwärtsgewandten Weimar konnte Hitler 1926 den zweiten Parteitag seiner neu formierten NSDAP feiern. In diesem Geist wuchs Baldur von Schirach in Weimar auf, der 1931 zum Reichsjugendführer aufstieg. Und mit diesem Selbstverständnis protestierte ein NS-Kulturbund 1936 gegen den Namen »Ettersberg« für ein geplantes Konzentrationslager bei Weimar. Denn dieser Name sei so eng mit Goethes Leben und Werk verbunden, das »ein Umerziehungslager, wo sich der Abschaum der Menschheit versammeln werde«, die Erinnerung an den Dichter nur beschmutzen könne. Und so nannte man das KZ »neutral« Buchenwald. Doch dieser Höllenort wurde in Weimars dunkelsten Jahren zu seinem wahren Dichterhaus, in dem Schriftsteller wie Jean Améry, Bruno Apitz, Robert Desnos, Jorge Semprun, Fred Wander, Ernst Wiechert, Elie Wiesel u.a. lebten und widerstanden.
Nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reichs« wurde der Geist von Weimar als Symbol des Humanismus beschworen. Man appellierte an die Einheit Deutschlands und trieb zugleich dessen Teilung voran. Thomas Manns Reden zu den Goethe- und Schillerjahren 1949 und 1955 waren Signale der Verständigung über Gemeinsames und von Seiten der DDR-Regierung zugleich Machtansprüche eines »anderen Deutschlands«. Zwischen wirklicher Pflege des Erbes und dessen ideologischer Vereinnahmung schwankte die Gründung der nationalen Forschungs- und Gedenkstätten 1953 in Weimar unter Helmut Holtzhauer (1912–1973). Während Theodor Plievier und Caspar Witsch vor der neuen politischen Einengung des Denkens in den Westen flohen, fanden andere Autoren in der Kleinstadt jenseits der Zentren einen Rückzugsort selbstbestimmten Schreibens: wie Louis Fürnberg (1909–1957), Walther Victor, Inge von Wangenheim, Harry Thürk und Armin Müller. Als Tochter eines Goethe-Philologen hielt Jutta Hecker (1904–1912) mit ihren Romanen die Tradition sachlicher Klassikvermittlung wach. Der Berliner Aufbau-Verlag edierte in seiner Weimarer Filiale die Bibliothek Deutscher Klassiker und zahlreiche Arbeiten zur Klassik. Zudem gab er seit 1955 die Zeitschrift »Weimarer Beiträge« für Ästhetik und Literaturwissenschaft heraus.
Nicht zuletzt als Sitz der gesamtdeutschen Goethe-Gesellschaft wirkte Weimar bis zum Ende der DDR zwischen Ost und West vermittelnd, dabei freilich immer staatstragend und mehr im Sinn der Klassik als des Sturm und Drang, mehr bewahrend als experimentell in Frage stellend. Letzteres geschah in der autonomen Kunstszene der 1980er Jahren, u.a. in der Untergrund-Zeitschrift »Reizwolf« oder in dem Super-8-Film »Die Täuschung verträgt die Realität nicht. Goethe-Projekt«, den Gino Hahnemann 1989 in Weimar drehte.
Abb. 1: Stadtplan von 1784, Abb. 2: Aquarell von Georg Melchior Kraus, 1777, Abb. 3-5: Fotos Jens Kirsten.
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