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Thüringen im literarischen Spiegel
Carl Laszlo
Ferien am Waldsee. Erinnerungen eines Überlebenden, Das vergessene Buch – DVB Verlag GmbH. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages. http://dvb-verlag.at/book/ferien-am-waldsee/
Wenn man in einem naturwissenschaftlichen und liberalen Milieu erzogen wurde, hat man im allgemeinen wenig Gelegenheit, sich mit Phänomenen zu beschäftigen, die ans Okkulte grenzen. Man hört davon, wie man in diesen Kreisen von den meisten Dingen nur hört, man weiß etwa, daß es solche Dinge gibt, aber nur selten kommt man damit bewußt in Berührung. Im Arbeitslager von Thüringen habe ich meine erste merkwürdige Begegnung mit dieser Welt gehabt.
Das Lager war von herrlichen Wäldern umgeben, und man hätte sich eigentlich kaum gewundert, wenn Feen und Waldgötter plötzlich zwischen den Bäumen erschienen wären. Der Sinn des Lagers war, wie der von vielen im damaligen Deutschland, die zehn- bis fünfzehntausend Häftlinge verschiedenster Nationalitäten, darunter zahlreiche Deutsche, systematisch umzubringen. Die Mittel waren die üblichen: Hunger, unzureichende Kleidung – es war zufällig noch Winter –, Mangel an hygienischer und ärztlicher Fürsorge und acht bis zehn Stunden Arbeit täglich in einem Steinbruch. Die Anzahl der unmittelbar Totgeschlagenen war im Vergleich zu den Morden in anderen Lagern verschwindend gering.
Die Häftlinge waren ein buntes Gemisch aus Angehörigen verschiedenster Völker. Die Kategorien, denen sie ihrem Häftlingsstatus nach angehörten, waren auch sehr verschieden: Vagabunden, Homosexuelle, politische Gefangene, sogenannte Berufsverbrecher usw. Unvergeßlich bleibt mir ein fast zwei Meter hoher Hamburger, der wegen Wilderns ins Konzentrationslager geschickt worden war. Die Berufsverbrecher, meistens ziemlich harmlose Mörder und Diebe, waren nicht selten Menschen mit angenehmen Charakterzügen und gelegentlich von höchster sittlicher Gesinnung. Der Lagerälteste dieses Lagers, ein Deutscher namens Willy, der als Mörder ins Lager eingeliefert wurde, konnte mit Erfolg sowohl gegen Gewalttätigkeiten wie gegen Diebstahl einschreiten. Er war ein energischer, geradliniger und mutiger Mann, mit weichem und gutem Herzen, der überall versuchte, die Schwachen zu stützen und Ungerechtigkeiten zu vereiteln.
Eine andere Bekanntschaft, die ich in diesem Lager machte, war die zu einem älteren deutschen Arzt, der wegen Abtreibung ins Konzentrationslager gebracht worden war. Ich freute mich, mich mit ihm unterhalten zu können, er war ein nicht sympathischer, aber gebildeter älterer Herr, der sich seiner Situation im Lager in gewisser Hinsicht nicht immer klar bewußt war, und es konnte geschehen, daß er, wenn er mit einem Franzosen oder Russen in Streit geriet, verärgert vor sich hinbrummte: »Solche eine Frechheit! Wir haben aber den Krieg noch nicht verloren, ich muß mir das nicht gefallen lassen!« Selbstverständlich bestand an sich wenig Unterschied zwischen deutschen und anderen Häftlingen. Dieser ältere Arzt war schon ziemlich lange im Konzentrationslager und war den Lagerverhältnissen gegenüber, mit Ausnahme seiner Streite, gleichgültig geworden. Es überraschte ihn eigentlich nichts mehr, und dies machte auf mich, immer und überall, wo ich es erlebte, einen großen Eindruck.
Was er eigentlich im Lager machte, habe ich lange nicht begriffen. Er ging nicht in den Steinbruch arbeiten, wo er in seinem Alter in einigen Wochen zugrunde gegangen wäre, aber auch im Lager selbst schien er keinen Posten zu bekleiden. Er ging nur mit seinem schwarzen Mantel und in seiner grünen Mütze im Lager umher, sein Blick schaute irgendwie zwischen den anderen Häftlingen hindurch, als ob er gar nicht hierher gehört hätte. Er bekam regelmäßig Streit mit Russen und anderen »Fremden«, kam dann zu mir und klagte über die Frechheit der ausländischen Häftlinge und endete regelmäßig mit den Worten: »Noch haben wir den Krieg nicht verloren!«
Ich traf ihn oft, und er begann aus seinem früheren Leben zu erzählen. Wie die Welt für einen Schornsteinfeger in erster Linie aus Kaminen besteht, war die Welt dieses Mannes voller schwangerer Frauen, die ihre Kinder loswerden wollten. Er war zu Gast in vielen reichen Häusern gewesen, und viele große Herren der Erde hatten sich vor ihm gedemütigt.
Eines Tages zog er mich geheimnisvoll auf die Seite und teilte mir in größtem Vertrauen mit, daß er sich seit langem intensiv mit Astrologie beschäftige, darüber, bevor er ins Lager kam, viele Bücher und berühmte Astrologen konsultiert hatte und hier im Lager, inoffiziell, auch als Astrologe wirke. Seine Tätigkeit bestand in der astrologischen Beratung des Lagerkommandanten, eines SS-Offiziers mit Sommersprossen, der ihm auch bessere Nahrung und warme Kleider zukommen ließ. So lebte er schon seit einiger Zeit in diesem Lager, nur passierte ihm das große Unglück, daß seine Augen immer schwächer wurden und das Schreiben der Horoskope ihm unendliche Mühe bereitete. Er schlug mir deshalb vor, für ihn Horoskope zu verfertigen, wofür er mir jedesmal ein Stück Brot versprach. Das Angebot war sehr verlockend, nur mußte ich ihm schweren Herzens mitteilen, daß ich von Astrologie und Horoskopen nicht die geringste Ahnung hatte. Dies beunruhigte ihn aber wenig, er meinte, die Hauptsache sei, daß er Vertrauen zu mir habe, die Abfassung der Horoskope würde er völlig mir überlassen und würde mir noch mit einigen Ratschlägen und mit der Angabe von astrologischen Fachausdrücken beistehen. Auch beauftragte er mich sofort, das erste Horoskop zu verfertigen, gab mir Papier und Bleistift und teilte mir als wichtigste Tatsache mit, daß der Lagerführer ein Stiermensch sei. Er gab mir ferner den Rat, im Horoskop zu erwähnen, daß der Kommandant im Lager einen mächtigen und gefährlichen Feind habe, vor dem er sich in acht nehmen müsse.
Nicht ohne Aufregung schrieb ich mein erstes Horoskop; ich erfand die Eigenschaften des Stiermenschen. Ich schrieb von seinen besonderen Fähigkeiten, schilderte ausführlich die Vorzüge des Stiercharakters, unter anderem sein kritisches, klares Urteilsvermögen, seine Willenskraft und seine Ausdauer. Ich erwähnte, vorläufig ohne nähere Präzisierung, daß er im Lager einen heimtückischen und böswilligen Feind habe, der ihm zwar viel schaden wolle, den er aber, nach vielen Schwierigkeiten, doch völlig besiegen werde. Ich prophezeite ferner große Veränderungen – in sechs Monaten! – in der Lagerleitung, die seine Lage günstig verändern würden. Ich versuchte natürlich alles sehr vorsichtig und soweit als möglich mehrdeutig auszudrücken, sprach ferner schon jetzt von gewissen atmosphärischen Störungen, die dem ganzen Bild und der Konstellation des Horoskops andere Aspekte verleihen könnten. Als ich mit dem Horoskop fertig wurde, fühlte ich mich richtig als Astrologe und der Aufgabe gewachsen. Ich freute mich unsagbar auf das Stück Brot. Dann übergab ich das Horoskop dem alten Arzt, er schien zufrieden zu sein, ich erhielt mein Brot und auch Lob. Am Abend schaute ich zum ersten mal seit langer Zeit dankbar zum sternenbedeckten Himmel empor.
Nach einigen Tagen erhielt ich vom Arzt den Auftrag zu einem weiteren Horoskop. Da er das erste gutgeheißen hatte, gab er mir keine weiteren Instruktionen mehr, ich konnte schreiben, was ich wollte. In diesem zweiten Werk habe ich die besondere Gefährdung des Stiermenschen durch Intrigen und böswillige Verleumdungen unterstrichen. Der Feind im Lager wurde wieder erwähnt, weiterhin nur ganz allgemein, ohne genauere Angaben; ich warnte den Lagerkommandanten, ständig auf der Hut zu sein, riet ihm, alle seine Kräfte zu sammeln, um den Feind wirksam bekämpfen zu können. Ich schilderte eingehend, wie der Stiermensch immer am Ende, nach vielen Gefahren, alle seine Gegner besiegt; es wurde ferner auf die Möglichkeit von gewissen leiblichen Störungen, wie Kopfweh, Übelkeit, Müdigkeit nach Anstrengung und besonders unmerkbare innere Organunregelmäßigkeiten, hingewiesen. Das Bild von der äußeren rohen Schale und der inneren Feinfühligkeit vervollkommnete noch die Konzeption. Auch dieses Horoskop hatte Erfolg, sowohl bei meinem »Arbeitgeber« wie beim Lagerführer, und ich erhielt wieder mein Stück Brot. Von nun an war ich mehrere Wochen lang, bis zur eigentlichen Auflösung des Lagers, als Astrologe tätig. Ich habe außer der Voraussage von Geschehnissen in ferner Zukunft und bedeutungslosen gesundheitlichen Warnungen den Feind im Lager ins Zentrum des Horoskops gerückt. Er wurde scheinbar genau – praktisch völlig unverkennbar – in seinen Zügen geschildert, sein versteckter Charakter, seine unbekannten Taten in der Vergangenheit kamen aufs Tapet, es wurde angedeutet, daß er sich in der nächsten Nähe des Lagerkommandanten befinde und sich sehr geschickt camoufliere; ich habe die günstigen und gefährlichen Tage und Stunden des Kommandanten angegeben und beobachtete mit Vergnügen die Nervosität und Unsicherheit des Mannes an seinen labilen Tagen. Ich sah das Zittern desjenigen, der furchtlos Hunderte von Opfern in den sicheren Tod schicken konnte, der mit größter Seelenruhe die Häftlinge auspeitschen ließ, der in der Silvesternacht einen Russen, der ausgerissen war, erhängen ließ, um uns in dieser Form seine Neujahrswünsche zu übermitteln, und der im Steinbruch alte Männer mit einem riesigen Stein in den Händen am Berghang auf und nieder jagte, bis sie tot zusammenbrachen. Nur ich wußte eigentlich um die Gründe, wenn seine Stimme vor Angst sich ins Brüllen steigerte, wenn er mit verdrehten Augen zwischen den anderen SS-Offizieren umherlief. Ich sah ihn an und mußte jedesmal leise lächeln. Inmitten Tausender von Häftlingen, die ihren fast unausweichlichen Tod täglich erwarteten, lag der Lagerkommandant am Abend im wohlgeheizten Haus der Lagerleitung in seinem Bett, das Essen schmeckte ihm nicht mehr, und er hatte vermutlich einen angstvollen, unruhigen Schlaf.
Link zum Buch auf der Website des Verlages Das vergessene Buch – DVB Verlag GmbH.
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