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Literarisches Thüringen um 1800
Jürgen M. Paasch
Die Exkursion entstand im Rahmen eines Projekts der Literarischen Gesellschaft Thüringen e.V.
Die „Jakobiner“ Ludwig Wieland und Heinrich von Kleist mussten im Oktober 1802 aus der Schweiz fliehen. Gemeinsam reisten sie bis Erfurt, dann geht Kleist allein weiter, um Wieland, den Autor der »Sympathien: As Soul approaches Soul« (1756), den er seit diesem Text als seinen Lehrer betrachtet, persönlich kennenzulernen. Ludwig hatte ihn beim Vater angekündigt. Anfang November 1802 wird Heinrich mit seiner Schwester Ulrike, die als solche nicht erkannt wird, denn sie trägt Männerkleider, in Oßmannstedt empfangen. Ulrike wird kurze Zeit später wieder abreisen, Heinrich aber bis Anfang Januar in Weimar zur Miete wohnen, unterbrochen nur von den Weihnachtsfeiertagen, die er bei den Wielands in Oßmannstedt verbringt. Anfang Januar zieht er für einige Wochen auf das Osmantinum, trotz einer sehr hübschen Tochter Wielands. Nach einigen Wochen bekennt er der Schwester: Ich habe aber mehr Liebe gefunden, als recht ist, und muß über kurz oder lang wieder fort; mein seltsames Schicksal!
Noch aber ist er in Oßmannstedt und soll zunächst in den Dienst von Wielands Unsterblichkeit genommen werden, indem er, der künftige Verfasser der Penthesilea, sich die Memorabilien des Alten diktieren lässt. Ein groteskes Missverständnis Wielands, der freilich von Kleists tragischer Natur keinen Schimmer hat. Johann Gottfried Gruber wird die Aufgabe des Biografen später übernehmen, mit dauerhaftem Erfolg. Wieland entdeckt allmählich – und dann mehr und mehr – an seinem Gast etwas Rätselhaftes und Geheimnisvolles das tiefer in ihm zu liegen schien als dass man es für Affektation halten könne. Zum Beispiel eine Art Zerstreuung, so dass, wenn man ihn zu sprechen versuche, ein einziges Wort eine ganze Reihe von Ideen in seinem Gehirn wie ein Glockenspiel anzuziehen schien und etliche andere noch fatalere Verrücktheiten, als da wäre beim Essen leise mit sich selbst reden (murmeln). Kleist gesteht schließlich, insgeheim und unaufhörlich an einem Trauerspiel, dem Robert Guiskard, Herzog der Normänner, zu arbeiten. Von diesem habe er ein derart ideale Vorstellung, dass er bisher noch alle Szenen, die er einmal aufgeschrieben wieder vernichtet habe. Er lässt sich zu keinen näheren Erörterungen überreden, bis eines Nachmittags die glückliche Stunde kommt und Kleist einige Szenen aus dem Gedächtnis deklamiert. Ich glaube nicht zu viel zu sagen, wenn ich sie versichere: Wenn die Geister Aeschylus, Sophokles und Shakespeare sich vereinigten, eine Tragödie zu schaffen, sie würde das sein, was Kleists Tod Guiscards des Normanns ist. Kleist sei dazu geboren, die große Lücke in unserer dermaligen Literatur auszufüllen, die… selbst von Goethe und Schiller noch nicht ausgefüllt worden ist. Man versteht nun, warum Kleist jenen Nachmittag, an dem er sich Wieland anvertraute, den stolzesten Augenblick meines Lebens nennt. Der alte Wieland ermahnt ihn noch, das Meisterwerk zu beenden, nichts ist dem Genius der heiligen Muse, der Sie begeistert, unmöglich. Kleist aber reist Anfang März 1803 ab, Ende des Tête-à-têtes von Vorklassik und Nachklassik. Ich mußte fort… Ich habe das Haus mit Thränen verlassen, wo ich mehr Liebe gefunden habe, als die ganze Welt zusammen aufbringen kann…. Aber ich musste fort! Luise Wieland, die jüngste, noch nicht vierzehnjährige Tochter Wielands, war in heftiger pubertärer Leidenschaft für Kleist entbrannt. Der Vater wußte Anfangs nichts von ihr – wie er sie aber erfuhr hatte sich K schon auf mein und der Carolines Wunsch entschlossen uns zu verlassen. Luise wird später der älteren Schwester Caroline vorwerfen, sie nicht vor diesem zauberischen Kleist bewahrt zu haben. Noch im Juli sendet Wieland dem fliehenden Kleist beschwörende Briefe nach. Im Oktober bricht Kleist körperlich und seelisch zusammen und verbrennt das Manuskript. Der Himmel versagt mir den Ruhm, das größte der Güter der Erde… ich werfe ihm, wie ein eigensinniges Kind, alle übrigen hin (an Schwester Ulrike). Wieland korrespondiert zwar mit Kleists Arzt, aber nach einigen unbeantworteten Briefen, die Kleist an Wieland schickte, glaubt sich Kleist vergessen. Tatsächlich wird Wieland sich nie mehr zu Kleist äußern, dessen kurze Karriere doch erst nach den Oßmannstedter Tagen beginnen sollte.
Kleist ist der letzte bedeutende Gast, den Wieland in Oßmannstedt empfangen kann. Schon während seiner Anwesenheit, am 6. Februar, hatte er das Gut verkauft – für zweiunddreißigtausend Taler. Nun bereitet er die Rückkehr nach Weimar vor, nicht ohne Wehmut. Ich habe diesem Oßmannstedt doch auch viele selige Stunden zu verdanken…. Dieser reinen Natur- und Genußfülle entkeimte die schönste Blüte meines Alters, mein Aristipp, der ohne diesen stillen Selbstgenuß, ohne dies heitere Land- und Gartenleben nie empfangen und geboren worden wäre.
Abb. 1: Kreidezeichnung nach verschollenem Miniaturbild von Wilhelmine von Zenge, undatiert.
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