Ort
Thema
Thüringen im literarischen Spiegel
Siegfried Oppenheim
aus: Peter O. Chotjewitz / Renate Chotjewitz-Häfner, Die mit Tränen säen. Israelisches Reise-Journal, Verlag AutorenEdition, München 1980, s. 202-206.
Gleich am ersten Tag wurden wir, wie alle Ankömmlinge, kahlgeschoren und rasiert – für unser Geld natürlich. Die Friseure waren auch Inhaftierte. »Mein« Friseur war aus Leipzig, er war schon zweieinhalb Jahre »Lagerist«. Man hatte ihn geholt und ins Lager gebracht, warum, wußte er nicht. Er war nicht ein einziges Mal vernommen worden. So hat er mir erzählt. Eines Tages wurde durch den Lautsprecher bekannt gegeben: Der Rabbiner oder Oberrabbiner Dr. Wilde aus Marburg bekommt seinen Bart und sein Haar nicht abgeschoren. Welchem Umstand er diese »Gnade« verdankte, wurde nicht bekannt. Vermutlich war er ein Bekannter eines Henkers oder gar des Oberhenkers. Dadurch, daß man haar- und bartlos war, kam es oft vor, daß man seine nächsten Bekannten nicht erkannte, wie es mir mit Herrn Rabbiner Kunstadt aus Fulda ging. Er sprach mich an, fragte mich nach meinem Befinden etc. Als ich erwiderte, wer er sei, da ich ihn doch nicht kenne, kamen ihm die Tränen.
Wir bekamen weder Freitag noch Schabat[1] etwas zu essen noch zu trinken. Endlich Sonntag mittag war auf dem Appellplatz »Essen-Empfang«: Kartoffeln und Gulasch. Da mich der Gulasch ekelte, nahm ich zweimal Kartoffeln »ohne«. Als ich das dritte Mal Kartoffeln erhaschte, war schon etwas Gulaschsauce dabei. Ich goß sie ab. Das war mein Glück. Der Gulasch war entweder aus fettem Walfischfleisch oder das verwendete Fleisch war verdorben oder aber man hatte dem fertigen Gulasch Rizinusöl beigegeben, wie viele vermuteten. Es entstand unter den Genießern des Gulasch eine Durchfallepidemie, wie man sie sich schrecklicher nicht ausmalen kann. Alles rennt zur Latrine – aber noch war sie im Bau begriffen. Es waren dreißig bis vierzig »Sitz«-Gelegenheiten und viele hunderte Reflektanten[2] auf Sitze. Im Lager, das heißt in den Baracken, auf dem Weg zur Latrine in deren Nähe, war es vor Gestank nicht auszuhalten. Die ganze Welt schien besch…n. Das dauerte die ganze Nacht, aber – das Austreten war ab 10 Uhr abends verboten. Die Menschen krümmten sich vor Schmerzen, sie weinten, sie schrien; sie eilten trotz Verbot vor die Türe der Baracke. Die SS-Männer erklärten: Ihr wollt einen Aufruhr gegen uns anzetteln. Das soll euch übel bekommen. Mit dem Gummiknüppel, dem KZ-Allheilmittel, schlugen sie die wie wahnsinnig Tobenden nieder. Mancher Häftling blieb auf dem Schlachtfeld. Wir anderen lagen zähneklappernd auf unseren »Betten«. Denn wer die Bestien (SS) unter den Unglücklichen wüten sah und die Sonntag-Nacht miterlebt hatte, von der ich noch erzähle, dem mußte der Angstschweiß ausbrechen, wenn er sich sonst auch noch so standhaft benahm. Zerrissene Hosen, Hemden, Taschentücher, arg besudelt, lagen in der Baracke und auf dem Weg zur Latrine. Da das Austreten nach 10 Uhr anfangs nicht erlaubt wurde – es war mit Lebensgefahr verbunden, weil der Posten auf die »Ausreißer« schießen durfte –, traf unsere Baracke folgende Einrichtung: Es wurden zwei Eimer aufgestellt, auf die man für 10 Pfennige einmal »schiffen« durfte. Für ältere Leute, die zwei- bis dreimal nachts kamen, wurde der Preis auch auf 5 Pfennige ermäßigt. Die »Unternehmer« entleerten die Eimer.
Später konnte man in Gruppen von zehn Mann unter eines »Führers« Befehl austreten. Der meldete dann dem Posten: »Zehn Mann zur Latrine angetreten.« Mit Ascher-jozar-Papier[3] entwickelte sich ein lebhafter Handel an der Kantine. Ein bis zwei Blätter aus einer gebundenen illustrierten Zeitung kosteten 10 Pfennig. Und Wasser war nicht da! Daß es keine Wasserleitung in unseren Notbaracken gab, ist selbstverständlich. Aber auch sonst gab es kein Wasser, etwa acht bis zehn Tage lang, weder zum Trinken noch zum Waschen. Ich glaube, Mittwoch (oder Donnerstag) hatte der Himmel mit uns Erbarmen, es regnete. Mit den Eßnäpfen, die anfangs Gemeingut waren und dann auch als Waschschüssel dienten, fingen wir an den Dachtraufen die Regentropfen auf. Es waren köstliche Tropfen, wenn sie auch nach Teer schmeckten, da die Baracken mit Teerpappe gedeckt waren. Fleißige Menschen sammelten sogar Wasser zum Verkauf. Da Getränke immer gesucht waren, wurde es gut bezahlt. Der Bruder meines Mechutten[4], Karl Katzenstein aus Fulda, Heinrichstraße, zahlte einmal für eine Flasche »Selters« (Soda) Wasser zwei Mark!
Im allgemeinen verlief ein Lagertag wie folgt: Gegen 6 Uhr aufstehen. Nach einer halben Stunde etwa auf dem Appellplatz antreten, barackenweise in Reih und Glied. Vorgesetzte waren die Kapos. Das waren Sträflinge, die sich gut geführt hatten. Über sie waren die SS-Leute gesetzt. »Ausrichten«, »Vordermann-Nehmen«, »Stillgestanden«, das waren die Kommandos, die man ununterbrochen hören konnte. Manchmal wurde auch nach Landsmannschaften oder städteweise angetreten. Wir zählten zur Gruppe Darmstadt. Dabei gabs meistens wildes Durcheinander, was den SS-Unmenschen Gelegenheit zum Nachhelfen durch Rippenstöße, Tritte oder Schläge gab. Zu ihrer Unterhaltung ließen uns diese auch Freiübungen machen, Armstrecken, Kniebeugen etc. bis zum Zusammenbrechen. Nach den ersten Tagen gabs früh bei diesem Antreten manchmal »Kaffee«. Wir standen immer 10 Mann hintereinander. Der vorderste Mann bekam ein Schüsselchen Brühe (aber sie war naß!), trank und reichte sie seinem Hintermann weiter, bis der letzte getrunken hatte – wenn noch etwas in der Schüssel war. So standen wir, bis es fast dunkel war, auf dem Platz in Regen und Kälte, bis zum Einrücken in die Baracken. Als nach 8 Tagen ca. 800–900 Mann (18- bis 45jährige) ins Lager kamen und eingekleidet wurden, lungerten wir den ganzen Tag in unserem Lager umher.
Das Mittagessen wurde im alten Lager in der modernen Küche zubereitet. Sträflinge aus dem alten Lager brachten die Töpfe ans kleine Tor, wo sie von unseren Leuten abgenommen wurden. Vor dem Barackentor verteilte einer der Obmänner der Baracke das Eintopfgericht, pro Mann etwa 1 Liter Essen (Erbsbrei mit Speck, Fischsuppe, Fisch, Kartoffeln, Brühe, Kartoffeln mit Fleisch etc.). Die Schüsseln reichten meist nicht aus, ebenso Löffel und Gabeln – also wenn einer fertig war, mußte er das »Werkzeug« weitergeben. Später konnte man Blechteller, Löffel und Gabeln kaufen für den vielfachen Preis des Wertes. Wer entlassen wurde, mußte sein Geschirr dalassen. Abends gabs ein größeres oder kleineres Stück Brot, das auch für den nächsten Tag reichen mußte, ein Stückchen Blutwurst, Sülze oder Käse. Manchmal war das Mittagessen nicht aufgezehrt worden; wer Glück hatte, konnte dann abends noch einen viertel oder halben Liter Essen empfangen. Aber es gab nichts zu trinken oder nur ein wenig Wasser, das in der Waschküche abgeholt, in zwei Fässer der Baracke geschüttet und unter die 2.000 Barackenbewohner verteilt wurde. Es mußte zum Trinken und Waschen reichen. (In der dritten Woche hatte ich einen Bekannten in der Waschküche, der mir manchmal einen köstlichen Schluck verabreichte.) Bei der Kost, die man nicht als schlecht bezeichnen konnte, habe ich trotzdem 15 Kilo abgenommen, weil ich vieles einfach nicht essen konnte.
Ab und zu gabs auch bei uns in der Kantine Wurst, Zigarren (echt Buchenlaub!), Zigaretten, Selterswasser, Schokolade, Bonbons und anderes. Lagerhalter waren Wiener Juden, die aus der Kantine des Hauptlagers die Waren bezogen, dort Aufschlag bezahlten und natürlich sich auch eine Gebühr erhoben. Die Preise waren daher gesalzen. Aber ich hatte Geld bei mir, bekam 8 Mark geschickt und 25 Mark von meinem Bruder geborgt, der nicht lange bei uns zu bleiben brauchte. Ich kaufte mir sogar ein paar Schuhe – die Sohlen waren Holz – weil in dem Ton- und Lehmboden bei Regen die leichten Schuhe, die ich an hatte, nicht mehr wasserdicht waren. Sie kosteten 13 Mark und waren 3 bis 4 Mark wert. In der Kantine des Hauptlagers war die Auswahl größer und die Preise viel kleiner. Als von uns 800–900 Mann eingekleidet im alten Lager waren, besorgten sie an Bekannte ab und zu Schokolade, Zigaretten und dergleichen. Die Übergabe fand unter größter Vorsicht am Drahtzaun statt.
An die erste Nacht in Buchenwald denken sicher alle »Aktionsjuden« der Baracke I A (und jedenfalls auch viele andere) heute noch mit Schrecken zurück. Bei Anbruch der Nacht, sobald das Abendessen vorbei war, mußte jeder ruhig auf seinem Plätzchen liegen. Die Aufsicht sorgte für größte Ruhe. Ich war schon eingeschlummert, als ich durch Geschrei aufwachte. Die Patrouille war da, ich sah sie beim Scheine der elektrischen Lampe, die im Vorraum brannte, durch die Ritzen zwischen den Betten. Es waren mehrere riesenhafte »Mordskerle« mit Gummiknüppel und einem großen Hund. Niemand regte sich, alles war vor Angst mäuschenstill. Da fiel in der dritten Reihe, auf der Seite, wo ich »wohnte«, ein Holzstückchen, wie viele vom Barackenbau noch umherlagen, herab. Einer der Kerle sprang nach der Richtung, wo das Holz herabgefallen war, holte einen Kameraden (dessen Namen ich leider nicht erfahren konnte) herunter und hieb unter Schreien auf sein Opfer ein. Viele Worte konnte ich in der Aufregung nicht verstehen. Nur die Worte des Unglücklichen »Ich lebe noch« waren zu hören. Wieder sausten die Gummiknüppel, der Hund schlug an. Keiner regte sich. Nachdem diese Prozedur einige Minuten gedauert hatte, packte der Hund mit seinen Zähnen den nur noch schwach Jammernden und zerrte ihn hinaus. Bald war draußen alles ruhig. Wir haben von dem unglücklichen Opfer nichts wieder gehört.
Am Morgen nach der Gulaschnacht lag zwischen Baracke I A und II A ein Toter mit vielen Stichwunden. In einem aufgenommenen Protokoll war zu lesen, daß der Tote Selbstmord begangen habe durch Stiche, die er sich selbst beigebracht hätte. Ein Messer oder eine andere Stichwaffe war bei der Leiche aber nicht gefunden worden.
[1] (auch Sabbat) jüdischer Feiertag; siebter Tag der jüdischen Woche – vom Sonnenuntergang am Freitag bis zum Sonnenuntergang am Samstag.
[2] Bewerber.
[3] (hebr. »der geschaffen hat«) zwei Worte aus der »Beracha« (Sammlung von Lobpreisungen und Segenssprüchen), die der Jude nach religionsgesetzlicher Vorschrift nach einer Entleerung zu sprechen hat, daher als Bezeichnung für diese Tätigkeit selbst gebraucht. Davon abgeleitet ist die volkstümliche Bezeichnung »Ascher-jozar-Papier«.
[4] (abgeleitet vom hebr. Verb »chaton« = »sich verschwägern«). Die Eltern und Verwandten eines Braut- bzw. Ehepaares bezeichnen sich gegenseitig als Mechuttanim, d. h. Verschwägerte.
›Literaturland Thüringen‹ ist eine gemeinsame Initiative von
Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen · Thüringer Literaturrat e. V. · MDR-Figaro · MDR Thüringen – Das Radio
Gestaltung und Umsetzung XPDT : Marken & Kommunikation © 2011-2025 [XPDT.DE]
© Thüringer Literaturrat e.V. [http://www.thueringer-literaturrat.de]
URL dieser Seite: [https://www.literaturland-thueringen.de/artikel/literatur-aus-buchenwald/siegfried-oppenheim-die-gulaschnacht/]