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Thüringen im literarischen Spiegel
Ernst Wiechert
aus: Ernst Wiechert, Der Totenwald. Ein Bericht, Aufbau-Verlag, Berlin 1947, S. 69-91.
Johannes stand am vorderen Ende des schmalen Mittelganges, dicht an dem vergitterten Glasfenster, hinter dem er den Fahrer sehen konnte. So bekam er ab und zu einen frischen Luftzug und konnte ein schmales Stück der Straßenböschung erblicken. Es war ein glühend heißer Tag, und manchmal fuhren sie durch eine bewegungslose weiße Staubwand. Doch konnte er erkennen, daß Wald die Straße begrenzte, und er erinnerte sich, daß er hier in besseren Zeiten unter hohen Buchen eine stille Wanderung zu den Stätten unternommen hatte, die noch immer mit einem leisen Leuchten aus einer großen Vergangenheit heraufstrahlten.
Sie fuhren etwa eine halbe Stunde, bis der Wagen hielt. Was Johannes sah, war eine breite Lagerstraße, von Rasenflächen und niedrigen Baracken begrenzt, sauber gehalten und nicht einmal eines dürftigen Blumenschmuckes ermangelnd. Doch ahnte ihm, daß dies wohl der Ort der Herrenwelt sei und daß die Sklavenwelt hinter einem Quergebäude mit einem Turm liegen müsse, auf dem er undeutlich den Umriß von Maschinengewehren zu erkennen meinte.
Auch blieb ihm keine Zeit, denn sie wurden in eine der Baracken gestoßen, in deren schmalem Gang sie in zwei Gliedern Aufstellung zu nehmen hatten. Alles in dem Raum war aus Holz, das Dach mit Dachpappe gedeckt, und die Sonne brannte durch die Fenster in ihren Rücken erbarmungslos auf sie herab. Hier mußten sie zwei Stunden bewegungslos unter dem Kommando »Stillgestanden!« stehen und dann nacheinander in den Schreibstubenraum treten, wo man ihre Personalien aufnahm oder verglich.
Nach der ersten halben Stunde sah Johannes, wie ein paar der älteren unter ihnen zu schwanken begannen. Sie wurden von ihren Gefährten gestützt, so gut es ohne Verletzung des Kommandos möglich war, doch stürzten sie dann doch vornüber, mit dem Kopf gegen die Holzwände, und auch Johannes vermochte den vor ihm stehenden »Vater Hermann«, den Fabrikbesitzer aus seiner Zelle in Halle, nicht mehr zu halten. »Laßt die Schweine liegen!« schrie jemand, und so blieben sie, bis das Bewußtsein ihnen wiederkehrte.
Von Zeit zu Zeit kam einer der SS-Männer den Gang entlang, ging langsam die Reihe hinunter und starrte in jedes Gesicht, als suche er sich sein Opfer schon heraus. Da war ein über siebzigjähriger Jude mit einem bekannten Namen, der sich eben von der Erde wieder aufgerichtet hatte und der die Blicke der Vorübergehenden besonders auf sich zog. Fast jeder versprach, ehe er weiterging, »mit dieser alten Judensau schon Schlitten zu fahren«. Und ehe sie den Raum wieder verließen, war das alte Gesicht schon von Faustschlägen geschwollen.
Johannes nahm alles wie in einem Spiegel in sich auf. Er wollte nichts übersehen und nichts vergessen. Es war ihm, als sei er hergekommen, um einmal Zeugnis abzulegen vor einem Gericht, das er noch nicht kannte und vor dem jedes Wort gewogen werden würde. Er sah die Gesichter an, die vorüberkamen, und er erschrak vor der ungebändigten Roheit, die aus ihnen sprach. Es war ihm, als habe man sie aus Millionen ausgesucht, und es blieb ihm nun nicht der geringste Zweifel mehr an dem, was ihn erwartete.
Von nun an wußte er, daß Karl die Wahrheit gesprochen hatte.
Nach zwei Stunden erschien der Unterlagerführer wieder. Er hieß Hartmann, und sie sagten, er sei der Sohn eines Pfarrers.[1] Sein Name soll hier aufbewahrt und in einem traurigen Sinn unsterblich bleiben.
Sie wurden durch das große, waffenstarrende Tor unter dem Quergebäude in den Hof geführt. Herumlungernde Wachmannschaften verfolgten grinsend jeden ihrer Schritte. Über dem Torbogen erblickte Johannes zwei Inschriften, ihm wohlbekannt, aber in unheimlicher Bedeutung an dieser Stelle. Die eine hieß: »Recht oder Unrecht: mein Vaterland!«, die andere darunterstehende: »Jedem das Seine!« Es ging ihm flüchtig durch den Sinn, daß es seltsam sei, sich zu solchen Zwecken das Wort eines fremden Volkes zu stehlen, und daß es beschämend sei, ein großes und schlichtes Königswort an solcher Stelle zu mißbrauchen. Doch blieb ihm keine Zeit zu solchen Gedanken. »An die Scheißhäuser!« brüllte der Führer, und sie mußten auf dem Hof sich gleich nach links wenden, laufend, und dann wieder in zwei Gliedern regungslos stehen.
Hier, während sie die erste und letzte »Erziehungsstunde« geschenkt bekamen, versuchte Johannes, alles aufzufassen, was er sehen und hören konnte. Sie standen mit dem Rücken gegen den Hof gewendet, der auch der Appellplatz war, und was er sah, war nur ein langer Streifen des Drahthindernisses, der niedrige linke Flügel des Quergebäudes und dahinter der lockere Buchenwald. Das Hindernis zeigte zunächst einen breiten niedrigen Streifen, wie spanische Reiter durcheinander geflochten (es war der Streifen, in den diejenigen sich zu werfen pflegten, die mit ihrem Dasein auf diese Weise ein Ende machen wollten; sie wurden dann von den Posten auf kurze Entfernung erschossen, obwohl von einer Flucht bei einem in diesen Drähten Hängenden natürlich nicht die Rede sein konnte). Dahinter stieg die hohe Wand der elektrisch geladenen Drahtmauer, mit Lampen gesäumt und von hohen Holztürmen unterbrochen, auf denen Posten mit Maschinenpistolen standen.
Von hier aus glitt ein Blick zu dem niedrigen Gebäudeflügel. Der Mittelteil, der den Turm trug und sich über dem Tor befand, war von zwei Posten mit einem Maschinengewehr besetzt und mit acht oder zehn Scheinwerfern ausgerüstet, die wie blinde Augen in das Lager starrten. Der niedrige Flügel, der bis zu ihrem Standpunkt reichte, zeigte nur vergitterte Fenster, zwölf oder dreizehn nebeneinander, und nach der anderen Seite wohl ebenso viel. Es waren die »Bunker«, von denen Johannes noch hören sollte, Betonlöcher, in die man bei besonderen Anlässen die Gefangenen warf und von denen immer ein Teil – meistens der größere – mit den Wachmannschaften der SS belegt war, die sich ihrer besonderen Uniform und Aufgabe nicht ganz würdig erwiesen hatten.
Aus einem dieser Bunker drang während der ganzen Zeit, die sie hier standen – es waren wieder zwei Stunden – die wilde, klagende, sinnlose Stimme eines Wahnsinnigen, den man mit einem evangelischen Pfarrer zusammengetan hatte. Aus anderen drang der scharfe Laut herniederfallender Schläge und fast unmenschliches Geschrei und Gestöhne der Mißhandelten. Über allem stand ein hoher blauer Himmel mit weißen Wolken, die über das helle Grün der Buchenwipfel lautlos glitten.
Währenddes erteilte der Pfarrerssohn die »einführende Instruktion«. Wer sich dem Drahtverhau auf dreißig Meter näherte, würde »abgeschossen«. Wer einem Befehl nicht gehorchte, würde »abgeschossen«. Wer sich einem Wachtposten während der Arbeit auf weniger als sechs Meter näherte, würde »abgeschossen«. Sollte in einer der Baracken zur Nachtzeit ein Brand ausbrechen, so war das Verlassen des brennenden Raumes verboten, und das Feuer aller Maschinengewehre würde auf diese Baracke gerichtet. Während er diese einfachen Gesetze verkündete, trat er mitunter auf einen der Gefangenen zu, schlug ihn ins Gesicht oder trat ihn mit Füßen, weil Haltung oder Gesicht des Betroffenen ihm nicht zusagten.
Johannes folgte ihm unablässig mit den Blicken. Es war ein schmächtiger Mensch, einige zwanzig Jahre alt, mit einem glatten, nichtssagenden Gesicht, von einem künstlichen Hochmut erfüllt, wie ihn junge Leute mit Befehlsgewalt leicht zeigen. Das Besondere an ihm war nur, daß er den Leib etwas vorgestreckt trug, was ihm das Aussehen gab, als sei er guter Hoffnung, und seine ganz helle Stimme, die an die eines quäkenden Hasen erinnerte. Doch verwischte das leicht Komische seiner Erscheinung sich schon durch die abgrundtiefe, kalte Verächtlichkeit seiner Haltung und Sprache, wie Johannes sie später an fast allen Lenkern dieses Lagers festgestellt hat. Es war, als gingen sie durch die sieben- oder achttausend Opfer, die man hier zusammengeschleppt hatte, nicht wie durch Tiere hindurch, sondern wie durch stinkenden Unrat. Auch hörte Johannes aus dem Munde des Pfarrerssohnes nie anders von ihnen sprechen als von »Mistvögeln« und «Wildsäuen«. (Im Dachauer Lager war nach Karls Erzählungen der entsprechende Ausdruck »Mistbienen«, was auf eine gewisse Gleichmäßigkeit der Weltanschauung schließen ließ.)
[…]
Es dämmerte schon, als Johannes noch einmal den Raum zwischen den Baracken verließ, wo sie ihre freie Abendstunde zubrachten. Er hatte nur eine Minute zu gehen, bis er unter der Eiche stand, von der man sagte, daß ihr Schatten schon auf Goethe und Charlotte von Stein gefallen sei. Sie stand neben einer der Lagerstraßen, und hier nun war die einzige Stelle, von der man weit in das Land hinuntersehen konnte. Der Mond hing über den waldigen Hügeln, und die letzten Töne des Lagerlebens erstarben.
Er sah noch eine Weile hinaus, so allein, als sei er der letzte Mensch auf dieser Erde, und er versuchte, sich aller Verse zu erinnern, die er von dem wußte, der vor hundertfünfzig Jahren hier gestanden haben mochte. Es war nichts verlorengegangen von dem großen Leben, und auch wenn er mit fünfzig Jahren an eine Galeere geschmiedet worden wäre, würde nichts verlorengegangen sein. »Edel, hilfreich und gut …« Nein, nicht einmal dies war untergegangen, solange ein einziger Mensch es vor sich hin sprach und es zu bewahren versuchte bis in seine letzte Stunde hinein.
Am dritten Tag hatte Johannes ein Stück Heimat und Josef gefunden. Sie verließen ihre Notbaracke und kamen in den 17. Block. Dieser Block umfaßte etwa einhundertzwanzig politische Gefangene und galt als ein Muster kameradschaftlicher Gemeinschaft. Ihr Blockältester Gorges, ein stiller und ernster Mann, nahm sich seiner auf besondere, wenn auch meistens schweigende Weise an, und ihm wird Johannes sein Leben lang eine unauslöschliche Dankbarkeit bewahren. Ihm wie dem Stubenältesten Jule, der schon fünf Jahre lang seine Heimat nicht gesehen hatte. Er bekam ein Bett im »dritten Stock«, bekam seinen Platz am Tisch zwischen stillen Leuten und hat oft sein Schicksal gesegnet, daß es ihn hier seinen Platz hat finden lassen.
Hier war auch Vater Hermann und der junge Rothermund, und hier fand er auch Josef. Ohne ihn wäre er nicht heimgekommen, sondern, wie es in der grausamen Lagersprache hieß, »durch den Schornstein gegangen«. Das heißt, er würde nach ein paar Wochen sein Ende im Weimarer Krematorium gefunden haben. Nicht umsonst hieß das Lager im Thüringer Land der »Totenwald«.
[1] Gemeint ist Hermann Hackmann, genannt »Jonny« (geb. 1913); Sohn eines Poliers; 1933 Eintritt in die SS; ab 1934 Angehöriger der SS-Wachtruppe des KZ Esterwegen; 1936/37 zunächst Blockführer, später Rapportführer im Zellenhaus des KZ Sachsenhausen; 1937 Versetzung ins KZ Buchenwald; zunächst Rapportführer, ab 1939 Adjutant des Lagerkommandanten Karl Koch; 1941 Versetzung als 1. Schutzhaftlagerführer ins KZ Majdanek; 1942 Versetzung zur SS-Division »Prinz Eugen«; August 1943 Verhaftung und Inhaftierung im SS-Arrest in Buchenwald; Dezember 1944 gemeinsam mit Karl Koch wegen Korruption zum Tode verurteilt; Einlieferung in das Straflager der SS und Polizei in Dachau; 1945 Verhaftung durch die Alliierten; 1947 im Dachauer Buchenwald-Prozeß zum Tode verurteilt; 1948 Umwandlung der Strafe in lebenslange Haft; März 1955 Entlassung; Vertreter einer Möbelfirma in Niedersachsen; 1975 Anklage im Düsseldorfer Majdanek-Prozeß; Juni 1981 Verurteilung zu zehn Jahren Haft.
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