Jens Kirsten / Christoph Schmitz-Scholemann (Hg.) – »Der Weg entsteht im Gehen. Literarische Texte aus 100 Jahren Thüringen«

Lese­buch aus Thü­rin­gens Mitte. Jens Kirs­ten und Chris­toph Schmitz-Schole­mann geben bri­sante Text­samm­lung heraus

Von Frank Quilitzsch

 

Die Demo­kra­tie ist Thü­rin­gen nicht in die Wiege gelegt wor­den. Sie musste erstrit­ten und wie­derer­run­gen und muss auch heute mit aller Macht ver­tei­digt wer­den. Das ist die poli­ti­sche Quint­essenz der Antho­lo­gie „Der Weg ent­steht im Gehen – Lite­ra­ri­sche Texte aus 100 Jah­ren Thü­rin­gen“, die der Thü­rin­ger Lite­ra­tur­rat zum Lan­des­ju­bi­läum her­aus­ge­ge­ben hat. Ihre poe­ti­sche Sub­stanz ist gleich­wohl rei­cher und umfas­sen­der, letzt­lich so viel­fäl­tig und wider­sprüch­lich wie das Leben der Men­schen in die­sem Land.

Bewusst knüp­fen die Her­aus­ge­ber, der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Jens Kirs­ten und der Jurist Chris­toph Schmitz-Schole­mann, mit ihrer breit­ge­fä­cher­ten Text­aus­wahl an die Tra­di­tion des Volks­le­se­bu­ches an. „Der Weg ent­steht im Gehen“ ist nach der 2018 erschie­ne­nen „Thü­rin­ger Antho­lo­gie – Eine poe­ti­sche Reise“ bereits ihr zwei­tes regio­na­les Standardwerk.

Das „Lese­buch aus Deutsch­lands Mitte“, wie es im Vor­wort genannt wird, ist eine leben­dige Chro­nik eines Jahr­hun­derts vol­ler Hoff­nun­gen, Kämpfe und Ent­täu­schen, die sich auf engs­tem Ter­ri­to­rium bün­deln. Den Erleb­nis­be­rich­ten vor­an­ge­stellt ist der „Gemein­schafts­ver­trag über den Zusam­men­schluß der thü­rin­gi­schen Staa­ten vom 4. Januar 1920“, womit ein Jahr nach der Wei­ma­rer Ver­fas­sung die Lan­des­grün­dung besie­gelt wurde.

Auf den fol­gen­den fast 400 Sei­ten erwar­tet den Leser ein Cho­rus ver­schie­dent­lich mit­ein­an­der kor­re­spon­die­ren­der publi­zis­ti­scher und lite­ra­ri­scher Stim­men – von Wal­ter Ben­ja­min, Joseph Roth und Klaus Mann bis zu Tank­red Dorst, Rai­ner Kunze, Sig­rid Damm, Ingo Schulze und Kath­rin Schmidt. Da fol­gen etwa auf Harry Graf Kess­lers Tage­buch­ein­trag vom 17.8.1924, der den her­auf­zie­hen­den brau­nen Spuk auf dem Wei­ma­rer Thea­ter­platz beschreibt, Tho­mas Manns „Goe­the-reise“ und Kurt Tuchol­skys „Schul­auf­satz“ über Hit­ler und Goe­the, ehe der Brief eines SS-Manns an Reichs­füh­rer Hein­rich Himm­ler die Anbin­dung des Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers Buchen­wald an die Kul­tur­stadt for­dert und der ehe­ma­lige Häft­ling Bruno Apitz sich an die Hölle des „Klei­nen Lagers“ erin­nert. Die Auf- und Umbrü­che der Geschichte struk­tu­rie­ren alle Teile des Ban­des: Kriegs­ende und Grün­dung der DDR. Hoff­nung, Des­il­lu­sio­nie­rung und Resi­gna­tion. Fried­li­che Revo­lu­tion und Wie­der­ver­ei­ni­gung Deutsch­lands. Die Freude und Ernüch­te­rung danach.

Lite­ra­ri­sche Bekennt­nisse zu dem klei­nen, gebeu­tel­ten Land

Wenn zum Bei­spiel der Süd­thü­rin­ger Land­schafts­dich­ter Wal­ter Wer­ner sein Geburts­dorf beschreibt, flie­ßen ver­lo­ren geglaubte All­tags­er­fah­run­gen mit ein. Jür­gen Fuchs for­mu­liert Fra­gen eines inhaf­tier­ten Oppo­si­tio­nel­len. Der Repor­ter Lan­dolf Scher­zer gibt die Hoff­nun­gen und Zwei­fel eines SED-Funk­tio­närs kurz vor dem Zusam­men­bruch der DDR und der aus Wol­fen­büt­tel zuge­reiste Zei­tungs­ma­cher Paul-Josef Raue seine Ein­drü­cke von einer Wan­de­rung am ehe­ma­li­gen Todes­strei­fen zu Protokoll.

Und immer wie­der lite­ra­ri­sche Bekennt­nisse. Die­ses kleine, gebeu­telte Bun­des­land muss schon aller­lei zu bie­ten haben, wenn es von Dich­tern wie Lutz Sei­ler, Hanns Cibulka oder Wulf Kirs­ten „besun­gen“ wird. Somit zeigt die Antho­lo­gie Thü­rin­gen auch „als Lite­ra­tur­land par excel­lence“: Von der Wart­burg bei Eisen­ach bis zum Frau­en­plan in Wei­mar, von Rein­hard Lett­aus zer­bomb­tem Erfurt bis zu Wolf­gang Hil­bigs Knei­pen in Meu­sel­witz sei „ein gan­zes Land mit Poe­sie auf­ge­la­den“, betont Chris­toph Schmitz-Schole­mann. In allen Tex­ten schwin­gen ja die Bio­gra­fien der Autoren mit, die etwas aus ihrem Leben erzäh­len – „mal hei­ter, mal iro­nisch, mal trau­rig, mal resi­gniert“, ergänzt Jens Kirsten.

So fügt sich aus vie­len klei­nen Tei­len ein Mosaik der letz­ten 100 Jahre Thü­rin­gens. Man kann den Band Deutsch- und Geschichts­leh­rern und ihren Schü­lern nur wärms­tens emp­feh­len, ver­mit­telt er doch His­to­rie auf höchst indi­vi­du­elle und unter­halt­same Weise und för­dert das Bewusst­sein, dass Huma­nis­mus und Bar­ba­rei men­schen­ge­macht sind.

  • Der Weg ent­steht im Gehen. Lite­ra­ri­sche Texte aus 100 Jah­ren Thü­rin­gen. Her­aus­ge­ge­ben von Jens Kirs­ten und Chris­toph Schmitz-Schole­mann, Wei­ma­rer Ver­lags­ge­sell­schaft, 391 Sei­ten, 18 Euro
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