Der begabte junge Dichter Jura Soyfer starb am 16. Februar 1939 im Konzentrationslager Buchenwald in seinem 25. Lebensjahre. Sein Name hatte in der Literatur schon einen guten Klang. Im Alter von 16 Jahren war er bereits Mitarbeiter der »Arbeiter-Zeitung«, schrieb Kurzgeschichten, Romane und Stücke für die Wiener Kleinkunstbühnen. Er zählte gleichfalls zu den unglücklichen Opfern von Buchenwald. Da alle Häftlinge beschäftigt werden mußten, hatte auch er eine Arbeit zu verrichten. Man sollte meinen, daß Soyfer als junger, begabter Mensch wenigstens einigermaßen seinen Fähigkeiten angemessen beschäftigt worden wäre, etwa als Schreiber oder bei einem anderen günstigen Kommando. Aber wer den abgrundtiefen Widerwillen der Nazi gegen geistige Werte kennengelernt hat, wird sich nicht darüber wundern, welches Amt sie dem Dichter Jura Soyfer in Buchenwald zugewiesen hatten: er war dort als Leichenträger tätig. Seine Hauptaufgabe bestand darin, die Toten in Decken einzuwickeln und sie mit Hilfe anderer Häftlinge auf einer Bahre zum Lagertor zu tragen, wo er dem dienstführenden Scharführer den Abgang aus dem Lager zu melden hatte. Dieser stellte dann die Zahl fest, so gleichgültig wie ein Fabrikspförtner, der die auslaufenden Kolli kontrolliert. Hierauf wurde die tote Menschenfracht in längliche Holzkisten gezwängt, mit Sägespänen überschüttet, der Deckel mit einem einfachen Haken verriegelt und alles auf ein Lastauto verladen, das zum Krematorium nach Weimar fuhr. So ging es den ganzen lieben Tag, denn die Sterblichkeit im Konzentrationslager Buchenwald war eine hohe. Bauchtyphus wütete dort und sanitäre Gegenmaßnahmen waren so gut wie keine getroffen. Jura Soyfer verrichtete unermüdlich seinen Dienst. Er betrachtete ihn als eine Art Schule für sich. Oft erzählte er mir, welch einzigartiges Material er durch die bei seiner Beschäftigung gewonnenen Eindrücke sammle, ein Material, wie er es sich sonst nirgendwo beschaffen könne. Eines Tages aber ereignete sich das, was bei dieser Arbeit, wo Soyfer die Leichen mit den bloßen Händen anzufassen hatte, leider zu erwarten war. Er holte sich den Keim zu einer für ihn tödlichen Krankheit. Unter allen Zeichen der Typhusseuche brach er bei seinen Toten zusammen und mußte mit hohem Fieber zu Bett gebracht werden. Grausames Spiel des Schicksals! Auf seinem Schmerzenslager erreichte ihn zur selben Stunde die Nachricht, daß er aus dem Lager entlassen werden und seinen nach U.S.A. emigrierten Eltern dorthin folgen sollte. Ihrem Gesuch, das sie für ihn an die Wiener Gestapo gerichtet hatten, war stattgegeben worden, weil sie ein Auslandsvisum beschaffen konnten. Fürsorglich hatten sie seine Kleider und Bücher schon mit sich genommen und ihm nach der nahe bei Buchenwald gelegenen Stadt Weimar einen Vertrauensmann mit der Schiffskarte zur Überfahrt nach U.S.A. gesandt, der nun dort auf ihn wartete. Niemand, der das nicht miterlebte, vermag sich die grenzenlose Verzweiflung des jungen Menschen vorzustellen, für den sich das Tor der Freiheit schon geöffnet hatte, der aber nicht mehr die Kraft besaß, durchzugehen. Immer und immer wieder versuchte er, sich von seinem Lager zu erheben, immer und immer wieder schleuderte ihn das Fieber zurück. Wir taten unser Möglichstes, uns ihn zu trösten. »Was sind schon die paar Tage, die du hier noch länger verbringst, gegen die Erlösung, die vor dem Lagertor auf dich wartet!« Das waren unsere Worte des Trostes. Ja, die Erlösung wartete dort auf ihn, jedoch eine andere: die Erlösung jener, die er bisher dorthin begleitet hatte. Jetzt freilich brauchte er nicht mehr Träger zu sein; wir trugen ihn nun in einer Decke zum Lagertor, wir betteten ihn in die Kiste und streuten, statt Blumen, Sägespäne über ihn, ehe wir sie schlossen. Wieviel ungeschriebene Gedichte, wieviel unvollendete Werke haben wir darin mit ihm verriegelt! dachte ich, als ich die Kiste auf dem Auto nach Weimar zur Verbrennung fahren sah. In Weimar übergab man tagsdarauf dem Vertrauensmann der Eltern die letzten Habseligkeiten des Toten und das Paket mit seiner Asche. Später erfuhr ich, ein Verleger habe in U.S.A. Soyfers geistigen Nachlaß gesichtet und mit großem Erfolg herausgebracht. So ist mein armer Kamerad und Genosse doch auf seine Weise auferstanden aus dem Feuer, das sein Irdisches verzehrt hat.
Die Seuche, der er erlegen war, tobte im Lager weiter. Tag für Tag sauste das Auto voll mit ihren Opfern an den Villen der Lagerleitung vorbei nach Weimar. Hat die Bevölkerung der Goethestadt je Kenntnis genommen von dem Massenmord, der sich vor ihren Toren und Augen vollzog? Sie wird, wenn auch spät, einmal diese Frage beantworten müssen, warum sie, die durch die humanistische Tradition von Weimar verpflichtet gewesen wäre, so feig geschwiegen hat, anstatt ein wenn auch noch so bescheidenes Zeichen des Protestes zu äußern. Die Toten freilich werden davon nicht mehr erwachen, auch Jura Soyfer nicht. Doch in seinen Werken wird er weiterleben. Die Erfahrungen aus Buchenwald jedoch konnte er nicht mehr zur Dichtung werden lassen, was wir alle als schmerzlichen Verlust empfinden.
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