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Thüringen im literarischen Spiegel
Judith Magyar Isaacson
(aus: Seed of Sarah. Memoirs of a Survivor, University of Illinois Press, Urbana/Chicago 1991, S. 107-111) Auszugsweise Übersetzung von Judith Rosenthal. © 1990 by the Board of Trustees of the University of Illinois. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Ekopan Verlages, Witzenhausen.
Gegen Ende des Winters hörten wir von einigen Franzosen, daß die Amerikaner das nahegelegene Kassel besetzt hatten, und von da an erwarteten wir sie jeden Tag in Lichtenau. Der Munitionsfabrik gingen die Chemikalien aus, und die SS schleppte einige von uns zu einem riesigen hochgelegenen Wald, um einen Ablaufkanal zu graben. Unser Zug hielt in Helsa, einem märchenhaften Dorf, eingebettet in eine eiszeitliche Senke in der Nähe von Lichtenau. Es gab Fachwerkhäuser, auf deren Vorderfront Lebkuchenmuster gemalt waren.
»Wie idyllisch«, staunte Éva, »wie eine Abbildung für ›Hänsel und Gretel‹«.
»Es könnte ein Bühnenbild für eine Oper abgeben«, sagte Meda Dános.
»Bah!« spuckte Marcsa aus. »Ihr solltet euch schämen, alle beide. Es ist widerlich deutsch.«
Wir gingen in Fünferreihen einen sich windenden Bergweg hinauf, und mir stockte der Atem angesichts des sich immer weiter ausbreitenden klaren Himmels und der schneebedeckten Kämme. »Die germanischen Götter haben sich ein großartiges Plätzchen ausgesucht«, murmelte ich. »Ein Paradies – für Deutsche.«
Erschöpft von der Kletterei brachte Mutter mühsam hervor: »Nächstes Jahr werden wir mit Papa in die Tatra fahren. Das wird himmlisch …«
Als der Vormittag halb vorüber war, erreichten wir ein sonnenüberflutetes Plateau, das mit halbgetauten Kiefernnadeln und stellenweise mit Schnee bedeckt war. Die SS verteilte mit wichtiger Gebärde Straßenbaugerät, doch die Arbeit war nur ein Vorwand, um uns zu beschäftigen: Auf dem gefrorenen Boden war mit einer Spitzhacke nichts auszurichten.
Als die Sonne sich ihrem höchsten Punkt näherte, ließen die SS-Aufseherinnen uns trockene Zweige für ein Lagerfeuer sammeln. Da die Wachtposten mit dem Grillen ihrer würzig duftenden Würste beschäftigt waren, schenkten sie uns nur wenig Aufmerksamkeit. Unsere Pause nahm sich bescheidener aus: Wir kauten Brot, wärmten unsere Hände überm Feuer und gingen zum Pinkeln in den Wald. Wagemutig blieb ich auf einer sonnenbeschienenen Lichtung zurück in der Hoffnung, daß die Bluthunde mich nicht witterten. Die erwärmte, feuchte Erde verströmte das stechende Aroma von Verwesung und Wiedergeburt. Ein Vögelchen zwitscherte auf einem Kiefernzweig, und mir fiel das fröhliche Gedicht »Nyitnikék« von Lörincz Szabó ein, das von der Geduld und Zuversicht eines winzigen Vogels handelt: »Akinek tele rosszabb mint az enyém / és aki mégis csupa remény – Geht der Winter dem Ende entgegen, klingt sein Hoffnungslied rein und verwegen.«
»Wir schaffen es bis zum Frühling«, sagte ich meinem gefiederten Freund.
Plötzlich schreckte mich die »Hyäne«, unsere häßlichste Aufseherin, mit ihrer barschen Stimme auf: »Du willst dich wohl drücken, du Schlampe!« schnauzte sie mich an. »Statt zu pissen, lungerst du hier herum. Denkst bestimmt an Männer. Haha!« Ich schüttelte wortlos den Kopf und setzte mich in Richtung meiner Kameradinnen in Bewegung.
Die »Hyäne« packte mich am Arm und schlug mir auf die Wangen. »Lüg mich nicht an!« brüllte sie. »Ich seh’s dir an der Nasenspitze an. Aber Träume sind das einzige, was dir bleibt, du Schlampe. Nach dem Krieg wirst du auf eine einsame Insel gebracht. Keine Männer – nicht mal Eingeborene. Da wird dir dein feines Gesicht viel nützen, in Gesellschaft von Schlangen. Glaubst du, die Amerikaner gewinnen den Krieg? Das wäre dein Todesurteil. Bevor die Amerikaner kommen, werden wir euch Judenschlampen erschießen – Befehl des Führers. Dein Schicksal ist besiegelt, so oder so: keine Männer, kein Sex, keine Kinder Sarahs.«
Die Drohungen der »Hyäne« riefen sexuelle Phantasien bei mir wach: Sommernächte am Plattensee, Geschlechtsverkehr in einem kleinen Boot, das niemals kenterte. Der Held meiner Träume war ein hinreißender Zwangsarbeiter, den ich nur vom Sehen kannte. Ich hatte ihn wegen seines athletischen Körperbaus, griechischen Profils und der graziösen Art, wie er mit den Granaten hantierte, »Diskuswerfer« getauft.
Andere Dinge nährten diese Gedanken auch: das Ende des Krieges und der Frühlingsanfang. Éva Jámbor, meine bebrillte Freundin, bekam von einem holländischen Zwangsarbeiter einen Heiratsantrag. »Er sieht gut aus, er ist blond.« Éva wurde rot, als sie mir von ihm erzählte. »Ich kenne ihn nicht, und er kennt mich nicht. Und doch will er mich nach dem Krieg heiraten. Verrückt, was?«
»Nicht so verrückt, wie du denkst.«
Veras belgischer Verehrer wollte nicht so lange warten. Er verriet Vera, daß die SS vorhatte, alle Juden fortzuschaffen, bevor die Amerikaner Lichtenau befreiten. Der Belgier versprach, den elektrisch geladenen Drahtzaun durchzuschneiden und Vera zu befreien, sobald das Lager geräumt würde. »Ich werde mich im Lager verstecken, wenn ihr aufbrecht«, vertraute Vera mir an.
»Aber wo willst du dich verstecken?« fragte ich skeptisch
»Ich werde in ein Latrinenloch springen. Bete für mich, Jutka.«
»Du kannst nie und nimmer allein da rauskommen«, sagte ich erschaudernd. »Kannst du ihm trauen?«
»Mach’ dir keine Sorgen, Jutka«, sagte sie und warf ihren bronzefarbenen Kopf hoch. »Ich kenne meinen Mann.«
Ich hätte gewünscht, ich könnte dasselbe von mir sagen. Mein Franzose und ich hatten schon mehrere Monate miteinander geflirtet, aber nur aus der Ferne. Ein paar Tage später nahm er endlich Verbindung auf. Als unsere Schicht sich unterhalb seines Arbeitsplatzes zur Arbeit schleppte, hörte er auf, seine Granaten zu laden, und ließ ein winziges Papierflugzeug in meine Richtung gleiten. Unsere SS-Aufseherin mit der großen Nase, die »Hyäne«, die uns unentwegt mit Hilfe eines Taschenspiegels nachstellte, bemerkte diesmal nichts. Auf einem Flügel stand in französischer Sprache die Anschrift: »An das blaue Kopftuch«. Heimlich gaben es meine Kameradinnen weiter bis zu mir. Rasch entfaltete ich das Papierflugzeug und las die Botschaft: »Ich habe einen Fluchtplan.« Einen Moment dachte ich an Mutter und Magda und beschloß, sie mitzunehmen – in der Hoffnung, daß mein Franzose bessere Pläne hatte, als sich in Latrinenlöchern zu verstecken.
Einige Tage später setzte er eine weitere geflügelte Botschaft in meine Richtung ab. Mit glühendem Gesicht sah ich die Brieftaube aus Papier auf einem sanften Luftzug herschweben. Wird sie mich finden? Sie tat es, doch ich hatte keine Gelegenheit, die winzige Schrift zu entziffern. Die »Hyäne« stürzte sich auf mich, während ich noch die Flügel entfaltete.
»Ich hab auch hinten Augen!« Die SS-Aufseherin schwenkte triumphierend ihren Taschenspiegel. »Dafür wird dich der Kommandant erschießen, du Schlampe.« Doch am nächsten Tag erreichten die Amerikaner die Umgebung von Lichtenau, und ich kam ungestraft davon.
Während des Morgenappells verkündete der Kommandant zum Wummern des nahen Geschützfeuers: »Die Arbeit in der Fabrik fällt heute aus. Ihr werdet Gärten pflanzen.« Die Wachen verteilten eilig Schaufeln und Hacken und ließen uns ungeachtet des näherkommenden Artilleriefeuers Blumenbeete anlegen. Doch keine Stunde verging, bis sie uns befahlen, die Gerätschaften in den Schuppen zurückzubringen.
Als nächstes verteilten sie Häftlingskleidung aus Baumwolle. Unsere verdreckten Sachen waren zerschlissen, und wir drängelten und schrien, um die neuen gestreiften Kleidungsstücke in die Hand zu bekommen, solange der Vorrat noch reichte. Der Lärm war ohrenbetäubend. Neuman, der älteste unserer drei SS-Oberscharführer, den Magda »Stiefvater« zu nennen pflegte, weil er ihr gelegentlich etwas zu Essen zusteckte, wurde puterrot. »Ruhe!« brüllte er und feuerte in die Menge. Eine Kugel traf Magda Braun aus Kaposvár in den Bauch. In der nachfolgenden Stille wurde sie heftig blutend ins Krankenrevier gebracht, während ein fluchender »Stiefvater« zur Kommandantur stiefelte. Der Tumult hob wieder an. Ich bekam mein Kleid, Mutter und Magda gingen leer aus.
Kurze Zeit später ließ die Lagerälteste ihre Pfeife ertönen, und es gab noch einen Zählappell, unseren letzten in Lichtenau. Drei fehlten, was die SS rasend machte, aber es war keine Zeit zum Nachzählen. Begleitet vom sich nähernden Artilleriefeuer trieben sie uns hastig zum Bahnhof.
Ich reckte meinen Kopf und suchte die Menge ab: Vera schien zu fehlen. War es Mitleid, was ich fühlte, oder Neid? Ich dachte an die fehlgeschlagenen Pläne meines Franzosen und an die hübsche Vera, die bis zum Hals in Exkrementen steckte, und ich hätte gewünscht, ich könnte für uns beide beten – zu einem Gott, der auch zuhörte.
Einmal mehr fuhren wir in einem Viehzug. Magda verließ das Küchenpersonal und kam zu uns. Nachts schliefen wir dichtgedrängt, tagsüber saßen wir im Schneidersitz auf dem mit Stroh bestreuten Boden. Am nächsten Morgen hielt die Lokomotive auf einem belebten Bahnhof. Meda Dános richtete sich auf und sah aus dem Fenster, dann rief sie für alle hörbar: »Es ist Weimar!«
»Goethes Weimar!« echote Liz ekstatisch.
»Idioten«, spottete Marcsa und verzog das Gesicht. Sie schob sich durch die kauernde Menge, hob ihren zerlumpten Rock und hockte sich auf den Eimer. »Die Deutschen sind Schweine, gestern wie heute«, verkündete sie und pinkelte geräuschvoll.
Edit mit den weichen Haaren, die früher Lehrerin am Gymnasium gewesen war, wartete, bis Marcsa sich von dem Eimer wieder erhoben hatte, und sagte dann in ihrer ruhigen, gezierten Weise: »Weimar ist ein ganz besonderer Ort. Will jemand die Namen der berühmten Persönlichkeiten hören, die mit dieser Stadt verbunden sind?«
»Bitte erzählen Sie es uns, Frau Studienrätin«, sagte Éva wie in der Schule.
Edit kniete sich hin – der Waggon war zu niedrig zum Stehen –, faltete ihre ausgemergelten Hände wie zum Gebet und intonierte andächtig jeden einzelnen Namen: »Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller, Franz Liszt, Walter Gropius.«
Später zog uns die Lokomotive auf ein Abstellgleis und ließ uns dort stehen. Ich dachte an Goethes »Wanderers Nachtlied«, das Gedicht, das ich am Todestag meines Großvaters Klein aufgeschlagen vorgefunden hatte, und wiederholte es leise zu mir selbst: »… Warte nur, balde ruhest du auch …« Ich darf den Mut nicht verlieren, mahnte ich mich.
Vom Norden her hörten wir das ununterbrochene Dröhnen von Bomben und Geschützen; die Amerikaner waren nicht mehr weit. »Was liegt nördlich von uns, Frau Studienrätin?« wollte Meda wissen.
Edit schüttelte den Kopf. »Ich hab ein Jahr hier in Weimar studiert, habe aber nie die Dörfer besucht.« Keine von uns hatte von dem nur wenige Kilometer entfernt liegenden Konzentrationslager Buchenwald gehört.
Wer Brot hatte, aß es heimlich. Kurz bevor wir aufgebrochen waren, hatte Magda der SS neun gekochte Kartoffeln gestohlen – der kostbarste Besitz, den wir jemals hatten. Mit schlechtem Gewissen aßen wir pro Nacht und pro Person eine kalte Kartoffel. Sie reichten uns drei Tage.
Eine Woche lang saßen wir in dem verriegelten Waggon fest. Die Pessimisten prophezeiten uns ein tödliches Ende, doch wir baten sie, ihre Gedanken für sich zu behalten. Eine Gruppe versammelte sich, manche in Lumpen, manche in Häftlingskleidung, in einer Ecke, wo wir versuchten, uns die Zeit zu vertreiben.
Meistens sangen wir oder tauschten Kochrezepte aus. Ich erinnere mich an eine langatmige Diskussion über »rétes«, die außerordentlich blätterigen ungarischen Strudel. Marcsa mochte sie am liebsten mit scharf gepfefferten, gebratenem Kohl gefüllt, doch die übrigen mochten sie lieber süß, mit Äpfeln, Sauerkirschen oder sahnigem Hüttenkäse. Frau Weiss tischte eine neue Variante auf: »Meine Köchin pflegte sie schichtweise zu backen«, sagte sie und schmatzte dabei, »dann füllte sie den abgekühlten Blätterteig mit Schokoladencreme und verzierte das Ganze mit Schlagsahne, Wirbel über Wirbel. Einfach köstlich!« Während sie ihr letztes Stück Brot hervorkramte und es mit entrücktem Blick verzehrte, boten die Frauen, die zum größten Teil ihre Desserts einmal selbst hergestellt hatten, Dutzende äußerst üppiger Rezepte dar: Cremespeisen, »palacsintas, tortas« – alles mit Schlagsahne oder Schokolade gekrönt.
Wir legten nicht die ganze Zeit die Hände in den Schoß und schwatzten. Die hochgewachsene Puci Dukesz, unsere ehemalige Blockälteste, besaß eine Nadel und lieh sie freigebig aus. Ich riß einen Streifen vom Saum meines gestreiften Kleides und nähte eine große Tasche auf – um an unserem nächsten Bestimmungsort besser stehlen zu können, wo immer das sein mochte.
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