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Orte
Großherzoglich Sächsische Kunstschule
Thema
Von Goethes Tod bis zur Novemberrevolution
Hermann Schlittgen
Erinnerungen. Hamburg-Bergedorf 1947.
Ich hatte in der Schützenstraße [Schützengasse] zu ebener Erde ein Zimmer gemietet; es war, wie fast alles in Weimar, klassischer Boden. Im Hause war in früherer Zeit die städtische Zeichenschule installiert, welche von Goethe als oberstem Inspektor oft besucht wurde. Hier auf dem nackten Steinboden, ohne Heizung, fror ich entsetzlich, wenn ich meine Zeichnungen anfertigen mußte. Mein Freund auf der andern Seite des Ganges, der junge Dichter Schulte vom Brühl, war praktisch gewesen; er hatte sich ein großes Faß angeschafft, es mit Stroh ausgefüllt und saß nun vergnügt drinnen, dichtete und dampfte eine lange Pfeife, die außen am Faß herabhing.
Wenn ich fror, lachte der Dichter vergnügt und riet mir, ich sollte mir auch ein Faß anschaffen, aber ich war für diese steife Umhüllung ein zu unruhiger Geist.
Unser Mittagbrot nahmen wir jungen Künstler, Maler und Musiker, bei einer verwitweten Frau Baurat ein; es war bei ihr schmutzig und schlecht, aber billig. Eines Tages zog ein Teil ab, zu ihrer Konkurrenz, der verwitweten Frau Pastor, bei der es noch schlechter, aber noch billiger war: Die bei Frau Baurat verbliebenen Freunde erzählten uns, daß die gute Frau über unser Fortgehen geklagt, aber doch einen gewissen Trost gefunden hatte: »Na um den Herrn Schlittgen nun is mir’s weeß Kott gar nicht leid; er hat so immer so viel Kemüse kekessen.«
Ich mußte mich mit den Illustrationen abplagen. Der Schalk florierte zum Schluß nicht mehr; als alle bekannten Namen, einer nach dem andern, abfielen, war ich der Hauptzeichner geworden, wohl hauptsächlich deshalb, weil ich der billigste war. Ich erhielt für die Zeichnung nur noch fünf Mark; des Morgens, wenn ich erwachte, mußte ich mir sagen: bis heute abend mußt du eine fertig haben. Dabei blieb für die Kunstschule nicht viel Zeit übrig, tagsüber war ich dort kaum zu sehen, da wir auch sonst viel Zeit mit Bummeln vertrödelten.
Abends saß ich fleißig im Akt und der Perspektivlehre. Aber die Hauptsache, nach der ich strebte, die Malerei, erblickte ich sehnsüchtig wieder nur von weitem, von glücklichen Freunden ausgeübt, die sorglos im Malsaal vor ihrer Studie standen. Die Hauptanziehung der Schule waren die beiden jungen belgischen Maler Linnig und Struys, die vor kurzem hierher berufen waren, aber bald wieder in ihre Heimat zurückkehrten. Nach Jahren hörte ich von Struys, als ich an der belgischen Küste lebte. Seine Bilder hatten gewöhnlich einen etwas sensationellen Anstrich, doch waren sie von großem Können und einer seltenen Formbeherrschung. Auf der Weltausstellung in Paris 1889 hatte er für sein großes Bild »Das Testament«, worauf ein Geistlicher dargestellt war, der auf dem Bett vor einem Sterbenden sitzt und ihm die Hand führt, wie er seinen letzten Willen schreibt, die höchste Auszeichnung für jedes Land, die Ehrenmedaille, erhalten.
Als Struys von Paris in seine Vaterstadt Löwen, in welcher er jetzt lebte, zurückkehrte, wurde er von den Vereinen, die Feuerwehr an der Spitze, am Bahnhof empfangen und mit Musik im Triumph durch die Hauptstraßen zu seinem Heim geleitet, ein rührender Beweis von Künstlerverehrung.
Gegenüber unserer Kunstschule wohnte Franz Liszt in einem schönen, fürstlichen Gartenhaus; in den herrlichen Bosketts, Laubengängen und Obstbaumanlagen sahen wir ihn mit seinen Schülern und Schülerinnen, wie ein großer Meister aus der Renaissancezeit, umgeben von seinem Hof.
Oft traf ich ihn nachts, wenn ich heimkehrte, wie er langsam durch die Straßen der Stadt ging, den Hut in der Hand, die Arme verschränkt, den Blick im Sternenhimmel verloren, das echte Bild eines träumerischen, großen Künstlers.
Der Großherzog war stolz auf sein Ilmathen und liebte seine Künstler; er war nachsichtig gegen ihre tollen Streiche, über die sich seine biederen Untertanen entsetzten. Der Direktor erzählte, daß er ihn bei einer Audienz gefragt habe: »Nun, was machen meine jungen Künstler? Sie haben lange keine Laternen eingeschlagen; sollen es nur tun, sollen es nur tun.«
Die aufbrausende stürmische Lebendigkeit der Künstler war ein lauter Protest gegen die lahme, einschläfernde Spießbürgerlichkeit der Kleinstädter, die sich hier noch dazu in
einer echt sächsischen Klatschhaftigkeit äußerte. Wie konnte es Goethe hier fast sein ganzes Leben lang aushalten, fragte man sich da und verstand seine Flucht nach Italien, die vielleicht nicht allein von der Frau von Stein veranlaßt war. Als er von Rom zurückkam, wo er fast ausschließlich mit freien deutschen Künstlern verkehrt hatte, war er gefeit, unempfindlich geworden und konnte nun ruhiger leben. Als die Weimarer von seiner Künstlerliebe zu Christiane hörten, sagten sie: Er ist in Rom verdorben; dort ist er in schlechte Gesellschaft geraten.
Hier im schönen Ilmtal hat sich die kleine, tüchtige Landschafterschule Weimars gebildet: Theodor Hagen, Buchholz, v. Gleichen-Rußwurm und vor allem Christian Rohlfs, ein geborener Kolorist, der sich später unter dem Einfluß von Claude Monet zu einer der interessantesten Erscheinungen der heutigen deutschen Malerei entwickelt hat.
Rohlfs mußte jahrzehntelang ein elendes Leben führen, das Hungerdasein des verkannten Künstlers; man ließ ihn ruhig im Krankenhaus von Weimar am Hungertyphus liegen, vor seinem sichern Untergang rettete ihn nur seine angeerbte eiserne holsteinische Bauernnatur.
Erst sehr spät kam er zur Anerkennung und konnte sich an seinem Ruhme sonnen. Im Alter von siebzig Jahren malte er noch frisch wie ein Junger und stampfte auf seinem Holzbein in die Landschaft hinaus.
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