In ihrem Tagebuch, das ihr Sohn Alexander der Schriftstellerin Elfriede Brüning nach Erscheinen ihrer Erinnerungen Anfang der 1990er Jahre übergab, schreibt Elisabeth Wellnitz:
So war unsere Lage, objektiv gesehen, ziemlich hoffnungslos, aber wir waren jung und optimistisch und ließen uns nicht so rasch unterkriegen. Dennoch war ich glücklich, als eines Tages in der Partei eine sowjetische Genossin erschien, die um Lehrkräfte für ein Fremdsprachen-Institut in Engels warb; man sollte dort Deutschunterricht geben. Das war die Chance, auf die ich immer gewartet hatte und die ich mit Freuden ergriff. Überstürzt bereitete ich meine Übersiedlung vor, denn mein Kind sollte nach Möglichkeit schon in Engels in geordneten Verhältnissen zur Welt kommen; ich reiste also schon 1931 ab. Sally, der noch zu einigen Vorträgen in der Masch verpflichtet war, konnte nicht sogleich mitkommen, er hatte sich aber ebenfalls um eine Anstellung in Engels bemüht, wurde auch angenommen und folgte mir im Sommer 1932 nach.
Die Aussichten für den kommunistisch-jüdischen Schriftsteller Samuel Glesel im Deutschland des Jahres 1932 lassen sich leicht ausmalen. Daß die Entscheidung, Deutschland zu verlassen, beiden leicht fiel, liegt auf der Hand. Beide erhofften sich von dem Leben in der Sowjetunion eine bessere Zukunft; die Erfüllung ihrer Vorstellungen von gesellschaftlichem Fortschritt. Elisabeth Wellnitz trat eine Stelle als Deutschlehrerin am Deutschen Pädagogischen Institut in Engels an, wo auch Samuel Glesel Arbeit fand. In der wolgadeutschen Stadt Engels wurden sie jedoch mit einem Schlag mit den realen sowjetischen Verhältnissen jener Jahre konfrontiert. Sie mußten mit mehreren fremden Personen ein Zimmer teilen, hier lernten sie die katastrophale Versorgungslage jener Jahre in der Sowjetunion kennen. Ihre 1932 in der UdSSR geborene Tochter Else starb bald an Unterernährung. Samuel Glesel erkrankte an Malaria und reiste nach Moskau, um dort eine Wohnung und Arbeit zu finden.
Schließlich signalisierten Freunde bessere Lebensbedingungen aus Leningrad, woraufhin sie ohne Abmeldung in Engels und ohne Erlaubnis der Behörden dorthin aufbrachen. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland im Januar 1933 verhinderte, dass sie aufgrund ihres Kontraktbruchs in Engels zur Rechenschaft gezogen wurden. Als deutsche Emigranten genossen sie den Schutz der sowjetischen Regierung. Samuel Glesel wurde als Kandidat in die deutsche Sektion des Sowjetischen Schriftstellerverbandes aufgenommen.
Elisabeth Wellnitz schreibt in ihrem Tagebuch:
Als solche bekamen wir, wie auch andere Emigranten, jetzt sogar eine Wohnung, und zwar wurden wir alle zusammen in einem Haus untergebracht, das einmal für Unteroffiziers-Witwen des Ersten Weltkrieges gebaut worden war. Wir bewohnten zwei Räume, und da wir Arbeit hatten, ging es uns verhältnismäßig gut. Sally arbeitete als Schriftsteller; 1935 wurde im Deutschen Staatsverlag in Engels sein erstes Buch, eine Sammlung von Reportagen, veröffentlicht, und ein Theaterstuck sollte in naher Zukunft Premiere haben. Ich war an der Leningrader Hochschule für Fremdsprachen als Lehrerin tätig.
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