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»Wanderlust oder Die Sehnsucht nach dem Paradies«
Jens Kirsten
Thüringer Literaturrat e.V.
In Weimar muss man nur ein wenig durch die Straßen gehen und schon trifft man einen Bekannten. Der Weimarer sagt »ich gehe in die Stadt«, um die Kleinheit des Ortes zu überspielen, aber er geht zu Fuß. Vor etwa einem Jahr, als ich einmal mehr dieser Passion oblag, begegnete ich, kaum hatte ich zwei Füße vor die Tür gesetzt, Justus H. Ulbricht, der mir ohne Umschweife von einem Ausstellungsprojekt erzählte, das Reinhard Lorenz in Eisenach plane. Sobald ich hörte, es werde um das Wandern gehen, bekundete ich mein Interesse und sagte, der Thüringer Literaturrat könne bestimmt etwas beitragen. Eine Ausstellung, die aus heutiger Sicht etwas über das Wandern, nicht nur, aber vor allem auch in Thüringen erzählen würde, interessierte mich sehr.
Beim Wandern, das mir von kleinauf antrainiert wurde und später zum regelmäßigen Bedürfnis geworden ist, denke ich eigentlich nie an den Thüringer Wald. »Der Thüringer Wald ist eine Nadelholzfabrik«, pflegten meine Eltern mit siebenbürgisch-sächsischen und sächsischen Wurzeln zu sagen. Selbstverständlich haben wir ihn irgendwann kreuz und quer durchwandert – notgedrungen, da mein Vater stets auf das Beschreiten neuer Wege drang. Wenn sich das Antlitz des Thüringer Waldes allerdings wandelt und die eintönigen grünen Gesellen Laubbäumen Platz abtreten, wird er herrlich, wie in der Gegend um Eisenach, wo der Hainich und die Hörselberge grüßen.
An den Hainich war vorzeiten nicht zu denken. Dennoch bin ich mit meinen Eltern in den auf damaligen Wanderkarten nicht genau zu lesenden Wäldern und Landschaften das eine oder andere Mal vor den Lauf einer Maschinenpistole in deutschen oder russischen Händen gelaufen. Schon damals gingen die Touren mehr auf Ab- und Nebenwegen, um größere Menschenaufläufe zu meiden. Mitunter unfreiwillig durchs Unterholz, wenn die Karten wieder einmal versagten. Die Abneigung gegen jegliche Form des organisierten Wanderns hat ihre Wurzeln sehr wahrscheinlich im notorischen Drang des ehemaligen Staates, alles zu organisieren. Der Rennsteig blieb ein erklärtes Nichtziel. Wir wanderten, ohne zu rennen, nicht selten 30 Kilometer, mal mehr, mal weniger.
Für das Abenteuer vor der eigenen Haustür braucht es nicht viel. Wenn ich nicht mit Freunden wandern gehe, sondern allein unterwegs bin, gehe ich in den letzten Jahren am liebsten ohne Karte und Wegweiser quer durchs Gelände. Vorzugsweise durch heimische Laub- und Mischwälder, wie eingangs angedeutet, und verlasse mich auf meinen durch die Großvater- und Vatergeneration vererbten Orientierungssinn. Mitten im Wald die Hängematte aufspannen und zwei Stunden traumlos schlafen, um dann weiterzuwandern und all die Dinge zu entdecken, die in der nächsten Senke verborgen liegen. Die nächste Aussicht zu genießen, die sich an der Abbruchkante bietet, die unvermittelt auftaucht. Am Grat gehen, wo Wildwechsel den gangbaren Weg aufzeigen und die Schönheit der Natur von dem Gedanken beflügelt wird, dass auf diesem Weg neben den Tieren nur ich gegangen bin.
Als ich von der Wanderausstellung hörte, dachte ich spontan an Muck Lamberty und seine »Neue Schar«, die 1920 singend und spielend durch Franken und Thüringen gewandert war, an den schwarzen Kugel-Kerzenleuchter meiner jugendbewegten Großeltern, der aus der Werkstatt »Mucklambertys« stammte, wie er im Hause meiner Großeltern nur hieß, an den großelterlichen Hordentopf auf meinem Schlafzimmerschrank, in dem man gut und gern fünf Kilo Kartoffeln kochen kann, und an René Halketts autobiographisches Zeitporträt »Der liebe Unhold«, in dem der 1900 geborene Autor von seiner Begegnung mit der »Neuen Schar« berichtet. Wie kein anderer hat er die Sinnsuche der nach dem Ersten Weltkrieg Entwurzelten beschrieben und die Bereitung des Bodens für den Faschismus durch Inflations heilige und andere Heilsverkünder. Thüringen als Schmelztigel der Geschichte.
Dazu die Geschichte des Greifenverlages, der mit Karl Dietz von Hartenstein nach Rudolstadt zog, und die Reformschulen in Wickersdorf, Haubinda oder Keilhau. Das alles spielt für mich weit mehr in das Thema hinein als das ritualisierte Singen vom Rennsteig. In der Schönheit des Reinstädter Grundes, zwischen Orchideen, Elsbeeren, Mufflons und Schwalbenschwänzen wird einem so etwas überhaupt nicht einfallen. Ebensowenig auf den Hörselbergen oder im Saaletal zwischen Dornburg und Jena. Im gefühlten Thüringen zwischen Naumburg und Bad Kösen im selbigen Tal gilt seit Franz Kugler die Devise: »An der Saale hellem Strande«. Darauf will ich mich mit jedem Wanderfreund gern verständigen.
Der Thüringer Literaturrat hatte in den letzten Jahren eine Reihe von literarischen Wanderungen initiiert und viele unserer Mitstreiter waren mit Interessenten im »Literaturland Thüringen« auf Spurensuche unterwegs. Mal waren es Stadtspaziergänge, mal Ortserkundungen, nicht selten Wanderungen, bei denen man feste Schuhe und Kondition mitbringen musste. Eindrücklich der Gang mit Wolfgang Haak und 35 Schweizer Lehrern auf den Jenzig, bei dem »Der Spaziergang« von Friedrich Schiller zum poetischen Lokaltermin wurde. Oder die Probewanderung mit Hubert Schirneck und Jürgen M. Paasch von Plaue nach Ilmenau auf den Spuren der Dichterin Sidonia Hedwig Zäunemann in gleißender Sonne, als es galt, die beste Wegstrecke zu erkunden. Am Tag der eigentlichen Wanderung regnete es in Strömen und die Wanderung fiel aus. Die Zahme Gera, die im Sommer meist trocken liegt, führte plötzlich eine beachtliche Menge Wasser, was die Wanderung am historischen Ort anschaulich illustriert hätte.
Oder die Wanderung mit Detlef Ignasiak von Dorndorf. Vorbei an den in Thüringen endemischen Rotflügeligen Schnarrschrecken auf die Hohe Lehde, wo Eugen Diederichs mit seinem Serakreis ganze Nächte verbrachte, nach Tautenburg, wo Nietzsche mit Lou Andreas Salomé wanderte, James Krüss auf dem Weg aus dem Krieg nach Helgoland Station machte, wo Joachim Ringelnatz in den Ferien war, wo Ricarda Huch einige Monate dem Krieg entfloh. Der Rückweg steil über den Berg, den wir nahmen, war der gleiche, den der expressionistische Dichter Johannes Reinhard Sorge mit seiner Frau auf der Hochzeitsreise nahm, als er mit ihr im Februar 1913 in Dorndorf den Zug nach Rom bestieg.
Reinhard Lorenz lud mich wenige Tage nach meinem Gespräch mit Justus H. Ulbricht zu einem Gespräch nach Eisenach ein, und wir verabredeten, dass der Thüringer Literaturrat im Rahmen eines Projektes zehn Texte zusammenträgt, in denen Schriftstellerinnen und Schriftsteller etwas zum Thema Wandern schreiben. Gesagt, getan. Hermann Glaser schlägt in seinem Beitrag, der mit denen von Justus H. Ulbricht und Ulrich Grober am Beginn steht, einen kulturgeschichtlichen Bogen vom Mittelalter bis in die Gegenwart.
Das Wandern ist für Hermann Glaser ein »Hinaustreten aus der alltäglichen Welt mit ihren Pflichten und Aufgaben« und stimmt damit den Grundton für die übrigen Beiträge. Der von ihm erwähnte »Taugenichts« aus Eichendorffs gleichnamiger Erzählung steht pars pro toto für den Aussteiger oder Außenseiter, der sich dem Fluss des bürgerlichen Lebens entzieht. Ulrich Grobers Beitrag setzt sich mit der Rückbesinnung auf das Thema Wandern in der Gegenwart auseinander.
In einer Zeit, in der sich das Klima der Erde drastisch verändert, Vogelbestände in Deutschland um bis zu achtzig Prozent zurückgegangen sind und die industrielle Land- und Viehwirtschaft zur Produktion riesiger Abfallberge von Lebensmitteln geführt hat, ist eine Orientierung auf alte und neue Denkansätze unerlässlich. Dass sich für das Thema Landschaft vor allem auch die junge Generation interessiert, die in den kommenden Jahrzehnten in dieser Welt leben muss, gibt Hoffnung. Ulrich Grober führt das, was in vielen der hier versammelten Texte angesprochen wird, in 16 Abschnitten zu einem »Plädoyer für ein zukunftsfähiges Wandern« zusammen. Man könnte auch sagen: zu einem Manifest des künftigen Wanderns.
Dass wir Hamed Abboud gebeten haben, uns einen Text über das Wandern zu schreiben, der vor allem ein Text über den Traum vom Paradies geworden ist, hat seine Ursache in zwei Begegnungen mit dem syrischen Dichter im vergangenen Jahr. Auf Vermittlung der Schweizer Journalistin Renate Metzger-Breitenfellner luden wir Hamed Abboud zu einer interkulturellen Lesereise nach Thüringen ein, auf der er sein Publikum begeisterte. Beindruckt hat uns der Dichter, der über den Tod schreibt und vor allem der Mensch, der eine Lebenszuversicht und ‑freude ausstrahlt, die uns Deutschen, die wir doch an unserem gesicherten Leben oft so vielerlei auszusetzen haben, ein Beispiel gibt. Hamed Abboud ist von Griechenland über Mazedonien auf der sogenannten Balkanroute bis nach Österreich gewandert. Gewandert, um zu überleben und nicht, um sich an der Schönheit der Natur zu erfreuen. Dennoch gehört diese Art der (Aus-)Wanderung unbedingt zum Wandern dazu.
Paul-Josef Raue hat sich auf seiner Wanderung entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze auf eine Spurensuche begeben, die ebensoviel mit dem Traum vom Paradies zu tun hat, der für viele Menschen tödlich endete. Dass Wandern nicht jedem Freude bereitet und elterlich verordnete Gewaltmärsche sich nachhaltig auf das spätere Wanderverhalten auswirken können, weiß Kathrin Schmidt zu berichten. Ihr Rückblick auf die wochenends angesetzten Wanderungen mit dem Vater künden jedoch nicht nur vom inneren Protest des Kindes; sie schildert auch, wie auf den Wanderungen en passant ihr Sinn für Sprache geweckt wurde.
Wolfgang Haak wandert auf dem schmalen Pfad der Jena umgürtenden Kernberghorizontale und begegnet dort einigen Bekannten aus der Literatur. Mag das dem einen oder anderen unrealistisch und verträumt anmuten, so wird sein Text, der weit mehr über das Wandern erzählt, als es auf den ersten Blick scheinen mag, andere erfreuen. Die Schönheit der Landschaft, ob in der Provence oder in Thüringen, hat zu allen Zeiten Schriftsteller inspiriert, über sie zu schreiben. Für Wolfgang Haak sind literarische Figuren nicht in der Vergangenheit gebunden. Er zeigt uns, dass sie von jedem Leser wieder zum Leben erweckt werden können.
Daniela Danz schreibt über das Gehen und die Entschleunigung. Dabei verlangsamt sie den Blick des Lesers Schritt für Schritt. Vom Brachland in die Straße, von der Straße ins Haus, vom Haus in den Tunnel. Ihr Text schärft unsere Sinne für das Bewusstwerden der eigenen Fortbewegung.
Schließlich nehmen uns zwei Texte von Jan Volker Röhnert und Wulf Kirsten mit in die Gegend zwischen Weimar und Rudolstadt. Jan Volker Röhnerts Notate einer Wanderung, die ihren Ausgang am 80. Geburtstag von Wulf Kirsten nimmt, führt 40 Kilometer von Weimar nach Rudolstadt, auf dem wir den Gedanken des Dichters Röhnert folgen können.
Wulf Kirsten schließlich, der sich mit über 80 Jahren an derartig dimensionierte Fußmärsche über 40 und mehr Kilometer in besagtem Gelände und anderswo nurmehr zu erinnern vermag, allenfalls Teilstrecken bewältigt, lässt in seinem Beitrag manche Wanderung Revue passieren und nimmt den Leser auf seinen Abschweifungen mit durch ein bewegtes Wanderleben, flankiert durch eine Wanderung von Rudolstadt nach Weimar.
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