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Thema
Hermann Glaser
Begleitbuch zur Ausstellung »Wanderlust oder Die Sehnsucht nach dem Paradies« / Thüringer Literaturrat e.V.
Der Beginn des bekanntesten deutschen Wanderliedes – Joseph von Eichendorffs »Der frohe Wandersmann« – enthält eigentlich schon alles, was man, zumindest für lange Zeit zutreffend, die Quintessenz der »Philosophie« des Wanderns nennen kann; also des Versuchs, über den tieferen Sinn dieser menschlichen Freude am Durchstreifen von Landschaft und Natur nachzudenken.
»Wem Gott will rechte Gunst erweisen
den schickt er in die weite Welt,
dem will er seine Wunder weisen
in Berg und Tal und Strom und Feld…«
Demnach ist es eine besondere metaphysisch begründete Tugend, wenn man seine Sesshaftigkeit überwindet und sich in die Ferne aufmacht; dort kann man etwas Außergewöhnliches, im Alltag nicht Anzutreffendes, erfahren bzw. erleben. Diese Exegese des Liedumfangs bestätige die nachfolgende Strophe:
»Die Trägen, die zu hause liegen,
erquicket nicht das Morgenrot,
sie wissen nur von Kinderwiegen,
von Sorgen, Last und Not ums Brot…«
Die Abwertung der sowohl familialen als auch haushälterischen Tätigkeit macht das Lied zur Bekundung eines Außenseiters, der die bürgerlichen Prinzipien der Ordnung und Ordentlichkeit durchbricht; er ist also »Aussteiger«; das Lied findet sich in Eichendorffs Erzählung vom »Taugenichts« und missachtet sogar die »progenitive«, den Nachwuchs pflegende menschliche Bestimmung. Dem Kinderwiegen und dem Brotverdienen werden Freuden entgegengestellt, die offensichtlich die Natur nur für »Nestflüchtige« bereithält.
»Die Bächlein von den Bergen springen,
die Lerchen schwirren hoch vor Lust;
was sollt‘ ich nicht mit ihnen singen
aus voller Kehl‘ und frischer Brust?…«
Die Exorbitanz – das Hinaustreten aus der alltäglichen Welt mit ihren Pflichten und Aufgaben – eröffnet ein arkadisches Dasein, wofür die Natur glücksverheißend sorgt; (die Lerche ist ja der Vogel, der jeweils beseligte Befindlichkeit intoniert und repräsentiert).
Dieses »retour à la nature« – die Zivilisationsabsage bzw. ‑müdigkeit wird nicht direkt angesprochen – regeneriert den Menschen, der im Wandern seine Kräfte wieder findet (was sich auch in seiner Sangeslust bekundet).
Das beim Wandern gefundene (erfundene) Weltbild ist Emanation göttlichen Willens und Schaffens – allumfassend, aber besonders in der schönen Natur sich manifestierend. In sie ist der (wandernde) Mensch integriert und das gibt ihm »Seinsgewissheit« – man kann dies auch Heimat und Geborgenheit nennen.
»Den lieben Gott laß ich nur walten;
der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld
und Erd‘ und Himmel will erhalten,
hat auch mein Sach‘ aufs best‘ bestellt….«
Zumindest der Wanderer, das ist die implizierte Aussage, lebt in der »besten aller Welten«; die Theodizee-Überzeugung erscheint in Eichendorffs Gedicht in romantisch-lyrischer Diktion.
Das Datum, da die durch Eichendorffs dichterisch gefasste, menschlicher Erfüllung möglich und kommuniziert wurde, lässt sich durchaus feststellen. Es ist identisch mit einem Schlüsselereignis, das den Beginn der Renaissance und damit der abendländischen Neuzeit signalisiert bzw. symbolisiert. Voraussetzung fürs Wandern ist nämlich eine »horizontale Perspektive«, die den menschlichen Blick auf die Weite der Landschaft ermöglicht. Es ist in der Kulturgeschichte Europas eine Revolution gewesen, als im 14. und 15. Jahrhundert dies erfolgte. Hätte der Mensch nicht einen Sinn und Mut für offene Horizonte entwickelt, wäre es nicht zu einer »Kultur des Wanderns« gekommen.
Das Mittelalter ist bestimmt durch die »vertikale Perspektive«; der Mensch sieht sich in seinem Selbstbewusstsein und in seinem Weltbild eingefügt ins »Senkrechte«; er »oszilliert« zwischen Hölle und Himmel. In der Renaissance, die den »Herbst des Mittelalters« ablöst bzw. in der Zeit, da sich die neue Zeit vorbereitet (also in ihrer Inkubationszeit) ereignet sich »etwas Merkwürdiges«, so Egon Friedell in seiner »Kulturgeschichte der Neuzeit«: Der Mensch, bisher in dumpfer, andächtiger Gebundenheit den Geheimnissen Gottes, der Ewigkeit und seiner eigenen Seele hingegeben, schlage die Augen auf und sehe um sich. Er blicke nicht mehr über sich, verloren in die heiligen Mysterien des Himmels, nicht mehr unter sich, erschauernd vor den feurigen Schrecknissen der Hölle, nicht mehr in sich, vergrübelt in die Schicksalsfragen seiner dunklen Herkunft und noch dunkleren Bestimmung, sondern geradeaus, die Erde umspannend und erkennend, dass sie sein Eigentum sei. »Die Erde gehört ihm, die Erde gefällt ihm; zum erstenmal seit den seligen Tagen der Griechen.«
Dieser »neue Blick«, also nicht mehr vertikal, sondern horizontal ausgerichtet, ist freilich nur der eine Aspekt der Epoche. Wie bei der Person des Christoph Kolumbus, der gleichermaßen Gott- wie Goldsucher war, bestimmten die Renaissance auch noch mittelalterliche Strömungen; vielfach verstärkten sie sich sogar und schlagen ins Negative um. Dem Verlust des einheitlichen religiösen Weltbildes folgte die Angst vor dem Neuen; Unsicherheit und Zerrissenheit bewirkten oder förderten die Flucht in Wahnideen; dem Drang zur Überheblichkeit entsprach der Sturz ins Abgründige. Die Renaissance war rückwärts- wie vorwärtsgewandt, geprägt durch den Zwiespalt von Höllenfahrt und Sehnsucht nach dem Paradies, durch eine korrupte Kirche und dem Aufstand des Gewissens, durch Hinwendung zum Stadtkosmos und dem Streben nach offenen Horizonten.
»Offene Horizonte« ist ein wichtiges Stichwort sowohl für die Beschreibung der Renaissance in ihrer Realität und als auch ihrer Seelenlandschaft. Im Jahr 1336 – der große Schweizer Historiker Jakob Burckhardt hat in seinem Werk »Die Kultur der Renaissance in Italien« auf dieses emblematische Datum hingewiesen – bestieg der italienische Dichter Francesco Petrarca den in der Provence gelegenen, 1912 Meter hohen Mont Ventoux und berichtete darüber am gleichen Abend seinem geistlichen Mentor, dem Augustiner Francesco Diongi, in einem Brief darüber.
»Den höchsten Berg unserer Gegend, der nicht unverdienterweise der windige (ventosus) genannt wird, habe ich gestern bestiegen, lediglich aus Verlangen, die namhafte Höhe des Ortes kennenzulernen. … In den Schluchten des Gebirgs trafen wir einen alten Hirten, der versuchte, mit vielen Worten uns von der Besteigung abzubringen und sagte, er sei vor schier fünfzig Jahren in demselben Drang jugendlichen Feuers auf die höchste Höhe emporgestiegen, habe aber nichts mit zurückgebracht als Reue und Mühsal, Leib und Gewand zerrissen von Steinen und Gedörn, und es sei niemals weder vorher noch nachher erhört worden, daß einer ähnliches gewagt. Während er aber also plauderte, wuchs bei uns – wie ja der Jugend Sinn stets ungläubig ist für Warnungen – aus der Schwierigkeit das Verlangen. Da nun der Alte merkte, daß er nichts bei uns ausrichte, ging er ein Stück weit mit und bezeichnete uns mit dem Finger einen zwischen Felsen emporziehenden steilen Fußpfad, indem er uns noch vielfach ermahnte und vieles, nachdem wir uns schon getrennt hatten, noch von rückwärts nachrief.
Bei jenem ließen wir zurück, was uns an Gewändern und Gerät lästig war; gürteten und schürzten uns nun lediglich für die Bergbesteigung und stiegen wohlgemut und hitzig empor. Aber, wie es zu gehen pflegt – auf mächtige Anstrengung folgt plötzliche Ermüdung. Wir machten also nicht weit von da auf einem Felsen halt; von dort rückten wir wiederum vorwärts, aber langsamer, und ich insbesondere fing schon an, den Gebirgspfad mit bescheidenerem Schritt zu beschreiten. Mein Bruder strebte auf einem abschüssigen Pfad mitten über die Joche des Berges zur Höhe empor; ich, als weicherer Steiger, wandte mich mehr den Schluchten zu. Da er mir nun zurief und den Weg richtiger bezeichnete, erwiderte ich ihm, ich hoffe, von der andern Seite leichter emporzukommen, und scheue mich nicht vor dem Umweg, wenn er mich ebener führe. Dieser Vorwand sollte die Entschuldigung meiner Trägheit sein; aber während die andern schon hoch auf der Höhe stunden, irrte ich noch durch die Täler, ohne daß irgendwo ein sanfterer Aufweg sich auftat; nur mein Weg ward verlängert und die unnötige Arbeit erschwert. Indessen, da ich mißmutig mich meines Irrtums ärgerte, beschloß ich, geradewegs die Höhe zu erstreben, erreichte auch wirklich müd und mit zitternden Knien meinen Bruder, der sich mit langem Ausruhen erquickt hatte, und wir gingen ein Stück weit gleichen Schrittes. Kaum aber hatten wir jene Höhe verlassen, so vergaß ich meine frühere Erfahrung und kam wieder mehr zur Tiefe hinab – und indem ich etliche Täler durchwandelt und die leichten langen Wege einhielt, bereitete ich mir selber große Schwierigkeit, denn ich schob die Mühsal des Emporsteigens zwar hinaus, aber durch des Menschen Ingenium wird die Natur der Dinge nicht verändert, und niemals wird es möglich werden, dass einer durch Abwärtssteigen in die Höhe gelange.«
Die Erfahrung der Weite des Raumes eröffnete eine neue ästhetische Dimension. Als Künstler zwischen Mittelalter und Neuzeit empfand Petrarca den Gipfelblick als Faszination und Versuchung. »Ich war wie betäubt, ich gestehe es.« Die gewaltige Aussicht von den Alpen bis nach Marseille und zur Rhône, ja fast bis zu den Pyrenäen, zeigte ihm die Schönheit des Irdischen; doch regte sich beim Dichter auch »schlechtes Gewissen«: Eigentlich sei nichts bewundernswert, außer der auf Gott ausgerichteten inneren Welt. Durch Meditation versuchte Petrarca, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Dabei schlug er schuldbewusst den mitgenommenen »Gottesstaat« des Augustinus auf, in dem es heißt, dass der Mensch sich schämen müsse, wenn er die Gipfel der Berge, die ungeheuren Fluten des Meeres, die weit dahin fließenden Ströme, den Saum des Ozeans und die Kreisbahnen der Gestirne statt der menschlichen Seele bestaune. (Heute weiß man, dass der Brief erst 17 Jahre später entstand – der vorgegebene Adressat war bereits zehn Jahre tot; fraglich ist ebenso, ob Petrarca überhaupt auf dem Berg war: Ein frühes Beispiel für virtuelle Realität.)
Petrarca war insofern spirituell ein Vorläufer der Renaissance-Befindlichkeit, da nun – das zeigt die Schlüsselszene des »Gipfelblicks« – bei allen augustinischen Skrupeln die Natur für den Menschen immer faszinierender und vertrauter wurde – sei es als Landschaft (einschließlich der von kühnen Seefahrern neu erschlossenen Kontinente); sei es als Anatomie, die den Blick ins Innere des Körpers freigab; sei es als Astronomie, die den Blick in den Kosmos schweifen ließ; sei es als Malerei, die aus dem religiösen Innenraum heraus mit der Entdeckung der Perspektive den Blick auf die Welt richtete.
Ehe die Vorstöße der Seefahrer, Kaufleute, Wissenschaftler, Künstler in die Weite und Tiefe des Raums und irdischer Geheimnisse erfolgten, hatte sich ein Bewusstsein ausgebildet, das sich nicht mehr wie bei der mittelalterlichen Leitfigur Hiob, der die Strafen Gottes erwartet, aus dem Diesseits ins Jenseits als Erlösung hinweg- oder, wie bei Adam und Eva, in den Garten Eden zurücksehnt (wobei dieser mit dem himmlischen Jerusalem verschmilzt), sondern das irdische Paradies mit Hilfe eigener Kraft, Macht und Schlauheit schaffen will. Dieses Bewusstsein entwickelte zudem eine bis zur Besessenheit reichende Neugier (Curiositas) auf das, was man machen, beherrschen, erleben, erfahren kann, wenn man nur sich als Subjekt, als ich-starkes Individuum empfand.
Die Welt erweist sich, so Friedell, als ein Bauplatz: für alles erdenklich Nützliche, Wohltätige und Lebensfördernde, für Werkstätten der Heilkunst, der Messkunst, der Scheidekunst, für Institute und Apparate zur Verfeinerung, Erleichterung und Erhöhung des Daseins, für babylonische Türme, die sich zum Himmel recken, um ihm sein Geheimnis zu entreißen, ein unermesslich weites, unerschöpflich reiches Operationsfeld für die Betätigung und Steigerung der Kräfte des reinen Verstandes – eines Verstandes, der sich ganz auf sich selbst stellt, sich alles zutraut, vor nichts zurückschreckt, durch nichts zu enttäuschen ist.
Man kann – etwas »zugespitzt« – also sagen, dass die »Philosophie des Wanderns« ihren Ursprung in einem »virtuellen Ereignis« hatte, eben in der imaginierten Bergbesteigung eines Dichters, der damit ein meisterliches Literaturwerk mit seiner anschaulichen Schilderung schuf.
Seit Petrarca gibt es unzählige Reiseberichte, Reisereportagen, Reiseerzählungen – belletristische, journalistische, maler- und zeichnerische, fotografische und natürlich auch filmische. Der Wanderer, der heutzutage sich als Einzelner oder in einer Gruppe auf den Weg macht, wird begleitet von diesen Manifestationen einer landschafts- und natursüchtigen, ihn vorschwebenden literarischen und künstlerischen medialen Vorstellungswelt, die sich mit seinen Erwartungen, Hoffnungen (auch Ängsten) vermengt. Die wenigsten denken wohl daran, dass es nicht nur Gott ist, der dabei die rechte Gunst erweist, sondern es auch Revolutionäre der Kultur zu danken ist, dass der Blick in die Weite gerichtet werden kann (dem dann die Füße folgen). Der Mensch – das ist die »Philosophie des Wanderns« – erweist sich als ein Wesen, das im Horizontalen lustvoll sich zu bewegen weiß; er sollte aber über der »Eroberung« des Raums nicht sein Eingebundensein ins Vertikale vergessen.
Wilhelm Müller (1794–1827) meinte, das Wandern sei des Müllers Lust, weil dessen Gewerbe – zumindest früher – immer mit dem die Mühlen antreibenden Wasser zu tun habe.
»Vom Wasser haben wir’s gelernt,
vom Wasser.
Das hat nicht Rast bei Tag und Nacht,
ist stets auf Wanderschaft bedacht,
das Wasser…«
Heute sind die Antriebskräfte (Motivationen), die uns zum Wandern veranlassen, vielfältiger Art, so dass man des Mühlen-Wasser-Gleichnisses nicht bedarf. Und doch ist Wasser eine schöne Metapher für das, was an Gefühl und Bewusstsein jedem Wanderer zu wünschen ist, wenn er in die horizontale Weite lustvoll schweift; und da kommt das Vertikale explizit wieder ins Spiel.
»Des Menschen Seele
gleicht dem Wasser:
Vom Himmel kommt es,
zum Himmel steigt es,
und wieder nieder
zur Erde muß es, ewig wechselnd…«
Goethe ist damit ein »Wanderführer«, in alle Richtungen.
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