Thema
Thüringen im literarischen Spiegel
Hélie de Saint Marc
Hélie de Saint Marc, Asche und Glut. Erinnerungen, Edition AtlantiS, Friedberg 1998, S. 63-66) (Les Champs de braises, Perrin, 1995. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Edition Atlantis.
Im September 1944 wurde ich zusammen mit Bertrand, Chaumel, Clogenson, Le Goupil, Mattern und Soulas nach Langenstein verlegt, einem Außenlager von Buchenwald. Dort erwartete uns ein abstoßender Anblick: windige Unterkünfte, die oben an einem Hügel gelegen waren, darunter die Baracken der SS und der Appellplatz. Wir stapften im Schlamm umher. Der Leichengeruch drang überall hin. Es gab dort kein Krematorium. Die Leichen wurden einige Tage lang aufeinandergestapelt und schließlich Haufen für Haufen in das Massengrab gekippt. Einen Kilometer von Langenstein entfernt gruben die Deutschen auf Anordnung von Hitler eine unterirdische Fabrikanlage in den Berg. Hitler wollte um jeden Preis seine V‑Waffen entwickeln, die zwar erst als Prototypen existierten, mit denen er jedoch noch einmal das Ruder herumzureißen gedachte. Auf die Menschen nahm er dabei keinerlei Rücksicht, da sie für ihn keinen Wert darstellten. Wir wurden mit Gewalt in den Tunnel getrieben. Dort mussten wir zwölf Stunden unter der Erde arbeiten, ohne Belüftung oder Verpflegung, starr vor Kälte und eingehüllt in dichten Staub, in dem wir fast erstickten. Um uns anzutreiben, schrien die SSLeute, prügelten auf uns ein oder bedrohten uns mit Polizeihunden. Ich frage mich heute noch, wie ich als wandelndes Skelett mit einem Pressluftbohrer in den Händen in dieser irrealen Welt noch hatte weiterleben können. Es gibt eine unsichtbare Grenze, an der der Mensch aufgibt, an der seine Kräfte ihn verlassen. Es kommt ein Augenblick, an dem er sich willenlos an der Wand herabgleiten lässt, an dem seine Finger den Stein loslassen und an dem er seinen Verfall nicht mehr erträgt. Warum bin ich niemals bis an diese Grenze gekommen? Mitten in den Eingeweiden des Harzes rettete mir ein Lette das Leben. Er war von Beruf Bergarbeiter und demselben Pressluftbohrer zugeordnet. Er war der einzige, der noch wie ein richtiger Mensch aussah. Dieser blonde Riese, eine ungebildete Rohnatur, stahl Nahrungsmittel an allen Ecken und Enden des Lagers, manchmal sogar noch aus den Blechnäpfen der Deutschen. Er teilte seine Beute mit mir: Es war ein regelrechter Schatz aus Brotkrumen und Rüben. Dieser skrupellose und ungemein kräftige Mann, der alles daran setzte, um seine Haut zu retten, hatte mich in sein Herz geschlossen. Ich werde wohl niemals den Grund dafür erfahren. Dies waren Fragen, die wir uns nie stellten, da wir gar nicht die Zeit dazu hatten. Wir waren so abgestumpft, dass wir uns wie Wölfe benahmen. Angesichts der Kälte, der Gewalt, der Schreie und Schläge blieb für Menschlichkeit kein Platz mehr. Der Geruch des Todes verfolgte uns überall hin. Der Hunger peinigte uns tagsüber und weckte uns in der Nacht auf. Fünfzig Jahre später erhielt ich Einsicht in die Photokopie des Namensverzeichnisses von Langenstein. Ich fand unter »Block 9« meinen Namen. Daneben waren all diejenigen Männer aufgelistet, deren Namen mir nichts mehr sagten, deren Gesichter ich jedoch unter tausend anderen wiedererkennen würde, so wie etwa diejenigen von Tachernenko, Kanabutov, Carlovich, Pankowicki, Man, Cudraro, Rutar, Baron, Mendez… Der tägliche Appell fand im Morgengrauen statt. Die SS musste immer mit dem Knüppel in der Hand durch die Baracken gehen und jene Männer herausholen, die sich aus Angst und Erschöpfung dort versteckt hatten. Die Leute vom Suppendienst wurden von den Häftlingen angefallen. Einige warfen sich auf den Boden, um die Schalen aus dem Schlamm zu ziehen. Wir waren voller Läuse, die nicht nur Ödeme hervorriefen, sondern auch noch Juckreiz auslösten. Langenstein war ein abgeschottetes Lager, in dem die
Gewalt hemmungslos herrschte. Tausende zu Tieren herabgewürdigte Menschen kämpften verzweifelt um ihr Überleben. Private Fehden wurden mit unerhörter Brutalität ausgetragen und endeten meist unmittelbar tödlich oder am Galgen der SS. Wie hielt ich nur bis zum Frühjahr 1945 durch? Inwieweit war ich mir überhaupt noch bewusst, was ich tat? Ich lebte zwei Leben, die nebeneinander abliefen. Das Leben als Zuchthaussträfling und das zweite Leben, das niemandem anders als mir gehörte, selbst unseren Wächtern nicht: mein inneres Leben. Meine Träume nährten sich von Halluzinationen und jener Erinnerung, die Sterbenden zu eigen ist. Ich hatte die Orte meiner Kindheit und die Gesichter derjenigen Personen, die ich liebte und die auf mich warteten, wieder vor Augen. Ich stellte mir das Vorrücken der Amerikaner vor, die Zeit der Résistance im Maquis der Dordogne, das Leben von Oberst Olivier und der Organisation »Jade-Amicol«, die Bombenangriffe meines Bruders über Deutschland… Ich klammerte mich an jede noch so kleine Hoffnung. Anfang April hörten wir, wie die Luftangriffe immer näher kamen. Das Gerücht, das Ende stehe unmittelbar bevor, breitete sich wie ein Lauffeuer im Lager aus, versiegte unvermittelt und erhielt bald darauf neue Nahrung. Eine irrsinnige Hoffnung erfüllte unsere ausgemergelten Körper. Obwohl ich kurz davor war, das Bewusstsein zu verlieren und bereits Blut erbrach, bäumte ich mich ein letztes Mal auf. Die Vorstellung, wenige Stunden vor der Befreiung jämmerlich zu krepieren, erfüllte mich mit unsäglicher Wut. Ich wollte sogar dem Blick des Letten nicht mehr begegnen. Doch ich hatte einfach keine Kraft mehr dazu. Unsinnige Gerüchte machten die Runde, verschwanden und wurden umgehend von noch verwirrenderen Lügen abgelöst. Eines Morgens fiel der Appell aus. Die Nazis verfrachteten alle Häftlinge, die nicht mehr gehen konnten, in die stinkende Krankenstation und legten sie übereinander auf die Bettgestelle, indem sie die Leichen jener, die in der Nacht gestorben waren, zwischen die Körper derjenigen warfen, die kurz vor dem Tod standen. Es war die Rede davon, die Baracke mit Flammenwerfern niederzubrennen. Schließlich überließen sie uns unserem Todeskampf. Ich erinnere mich an Dorfbewohner aus der Umgebung, die mit entsetzten Mienen an der Tür vorbeigingen und von unseren wüsten Flüchen empfangen wurden. Danach verlieren sich meine Erinnerungen in der Dunkelheit. Ich wachte in einem amerikanischen Krankenhaus auf. Man sagte mir, dass ich mich sogar eine Woche lang nicht mehr an meinen Namen hatte erinnern können. Einige Tage später sah ich wie in einem Nebelschleier das Gesicht meines früheren Retters in höchster Not vor mir auftauchen. Er hatte die Evakuierung des Lagers überlebt. Als letzte Geste seiner Zuneigung hatte er sich auf die Suche nach mir gemacht und wollte mir vor der Rückkehr in seine Heimat Lebewohl sagen. Dieser blonde Riese, der im Tunnel mein Freund, ja fast wie ein Bruder zu mir gewesen war, mit dem ich mich nur in der primitiven Sprache des Lagers unterhalten hatte, die wohl derjenigen der ersten Menschen ähnelt – essen, schlafen, Kälte, Hunger, Angst, gib, nimm, danke –, stand nun am Fuße meines Krankenbettes. Dieser Mann hatte mich Tag für Tag gestützt, ohne dass ihn irgend etwas dazu verpflichtet hätte. Ich konnte nicht sprechen, da ich noch ganz von den Medikamenten betäubt war. Ich sah ihn lange an. Wir hatten beide den typischen Blick der Deportierten. Er blieb einige Minuten bei mir. Wir verabschiedeten uns mit einem rauhen Händedruck, den ich noch heute spüre. Er kehrte in die UdSSR zurück. Lettland war zwischenzeitlich annektiert worden. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Angesichts der sowjetischen Unterdrückung, die dort nach dem Krieg einsetzte, hat er wohl neues Leid erfahren und ist in andere Lager geworfen worden. Einige Menschen sind so in diesem Jahrhundert von einer Hölle in die andere gekommen, nur weil sie am falschen Ort und zur falschen Zeit geboren wurden.
›Literaturland Thüringen‹ ist eine gemeinsame Initiative von
Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen · Thüringer Literaturrat e. V. · MDR-Figaro · MDR Thüringen – Das Radio
Gestaltung und Umsetzung XPDT : Marken & Kommunikation © 2011-2025 [XPDT.DE]
© Thüringer Literaturrat e.V. [http://www.thueringer-literaturrat.de]
URL dieser Seite: [https://www.literaturland-thueringen.de/artikel/literatur-aus-buchenwald/hlie-de-saint-marc-jenseits-des-todes/]