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Thüringen im literarischen Spiegel
Joachim Ringelnatz
Meine Kindheit bis zu Kriege, Rowohlt, Berlin 1931.
Die Ferien hatten uns in die Sommerfrische gebracht. Und ich zählte zehn Jahre, als mein Vater mich und meine älteren Geschwister in Frauenprießnitz in Thüringen taufen ließ. Bei dieser Zeremonie gebrauchte der Pastor eine Art Sahnenkännchen. Über dieses Kännchen und über den ungewöhnlich tief herabhängenden Hosenboden des Küsters brach ich in ein nicht zu unterdrückendes Lachen aus.
Ferien! Das Wort klang wie Freiheit. Vater nahm uns dann meist nach Thüringen mit. Durch dieses, sein engeres Heimatland, führte er uns in herrlichen Wanderungen. Er wußte dabei ebenso lustig wie spannend zu erzählen, und er kannte die Gegend und ihre Geschichte genau. Auch durften wir uns genügend allein umhertummeln, Wolfgang Steine sammelnd, ich Insekten, Schlangen und Eidechsen fangend, Ottilie Blumen und Beeren pflückend.
Den Onkel Fries in Marksuhl besuchten wir während der Sommerfrische. Er war ein rauher Weidmann, der selbst vor dem Kaiser, der gelegentlich bei ihm jagte, kein Blatt vor den Mund nahm. Zu dem herrlichen Gutshof gehörte ein alter gespenstischer
Turm. Die Fledermäuse, die sich in dessen Gebälk aufhängten, brannte ein Knecht von Zeit zu Zeit am Tag, wenn sie schliefen, mit einer brennenden Kerze herunter. — Ich sah lebendig gerupfte Puten und Hühner ohne Kopf, die noch lange fürchterlich zuckten.
Auf einer der schönen Spazierfahrten, bei denen ein Jagdhund neben den Pferden herlief, warf der Onkel seinen Schlüsselbund ins Dickicht. Als wir auf der Rückfahrt in die Oberförsterei einbogen, rief Fries dem Jagdhund zu: „Such! Verloren!« Eine Stunde später brachte das Tier den Schlüsselbund an unseren Abendtisch im Garten. — Früchte gab’s in Hülle und Fülle. Beim Einfahren des Korns hatte ich einmal auf einer Kreuzotter gesessen, was mir einen heldenhaften Nimbus verlieh.
Zuweilen ritt meine Mutter mit dem Onkel aus. Man mußte der kleinen Frau dann erst auf eine Kiste hellen, damit sie aufs Pferd kam.
Vom Onkel Hilgenfeld, Theologe in Jena, und von dessen Familie sind mir nur noch eine tiefe Baßstimme und Stachelbeeren in Erinnerung.
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