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Von Goethes Tod bis zur Novemberrevolution
Annette Seemann
Die Exkursion entstand im Rahmen eines Projekts der Literarischen Gesellschaft Thüringen e.V.
Gabriele Reuter, die Goethe-Verehrerin, war in ihrer Jugend, wie damals sehr viele Weimarer, immer bei den fast rituell durchgeführten Aufführungen des Faust dabei und beschreibt diese Ereignisse wie auch die Haltung der Bevölkerung dazu sehr plastisch:
Der Faust wurde in jedem Jahr nur zweimal aufgeführt – im Frühling, wenn der Flieder blühte. Das war jedes Mal ein Volksfest für ganz Weimar. In zwei Tagewerken, hieß es auf dem Zettel, wodurch schon angekündigt wurde, dass es sich nicht um eine gewöhnliche Theateraufführung handelte. Aus allen Bevölkerungsschichten nahm man teil an dem Werk als Zuschauer oder als Mitspieler, denn das gewöhnliche Theaterpersonal reichte bei weitem nicht aus. Dadurch verbreiteten sich Worte und Gedanken der Dichtung, wie Samenflöckchen von einem mächtigen blühenden Baum, vom Wind geführt, hinaus in alle Lande wehen.
Die Schuljugend auf der Straße übte sich in den Sprüngen der Meerkatze und schrie das hexeneinmaleins dazu. Als meine Mutter einen braven Tischlermeister bat, ihr ein paar Fassreifen übereinander zu schlagen, damit sie ihre Rosen hinaufranken könne, antwortete er: ›I freilich – ich mache Sie ein Kreuzgewölbe, so wie bei›n Doktor Faust im ersten Akt.‹ –Eine Marktfrau, die gelobt wurde, dass ihr Stand so reich bestellt sei, meinte schlagfertig: ›Wer vieles bringt, wird jedem etwas bringen.‹ Diese Beispiele können endlos fortgeführt werden.
Man begab sich um fünf Ihr nachmittags, noch bei hellem Tageslicht,zum Theater,vor dem das Zwillingspaar der Dichterheroen milde auf die Scharen niederlächelte, die nicht nur aus Weimar selbst, auch aus Erfurt, Jena, Apolda und Naumburg herbei wallfahrteten, oft ganze Familien andächtiger Pilger, den Reiseproviant in gestickten Beuteln oder Körbchen am Arme schaukelnd. An zwei aufeinanderfolgenden Tagen dauerte die Vorstellung, von längerer Pause unterbrochen, jedes Mal bis Mitternacht. Das Theater war bis auf den letzten Platz gefüllt, auf dem rechten Balkon die adligen Abonnenten und was sonst zum Hof gehörte, auf dem linken Balkon die eingesessenen bürgerlichen Familien, im Parkett die Fremden – oben auf den Galerien drängte sich Volk und Jugend, fast jeder von diesen hatte einen angehörigen, der mitspielte.
Die Kreise von Verwandten, Freunden und Bekannten fanden sich in der Pause zusammen. In den Gängen und Treppen des engen Theaters, draußen auf den Stufen des Goethe-Schiller-Denkmals, in den Gärten der benachbarten Restaurationen saß man und stärkte sich an den mitgeführten Esswaren. Es entstanden fröhliche kleine Picknicks, man plauderte, tauschte heftige Rede und Gegenrede, stritt glühend über die Spieler, über die Lassensche Musik, über Unverständliches des an dunklen Stellen reichen zweiten Teiles, bis man erquickt und erfrischt wieder zu andächtiger Hingebung an die Dichtung fähig war. Das mag manchem Ästheten anstößig erscheinen, war es aber ganz und gar nicht. Ein heimliches Hinunterschlingen von Butterbroten in einem dunklen Winkel oder ein rücksichtsloses Stürmen und Drängen um ein spärliches Büfett ist es viel mehr.
Hier schwebte ein lindes Abendlicht freundlich verklärend über die frohen Gruppen. Die Düfte des Flieders und des jungen grünen Laubes umwehte sie, all die eifrigen jungen und älteren Mädchen in den frischgestärkten weißen und bunten Sommerkleidern, die Schüler und Studenten mit den farbigen Mützen, die würdigen Mütter mit den ehrbaren Spitzenbarben über den Scheiteln und den besten schwarzseidenen Kleidern, die stattlichen weißbärtigen Herren, deren Weimar so viele besaß. Ein volksfest war es – wie jene fromm-weltlichen Kirchenfeste alter Zeiten, und der Meister selbst würde seine Lust daran gefunden haben. Mit derselben inbrünstigen Liebe, mit der man kam zu hören, gaben auch die Spieler von der Bühne herab ihr Bestes. Von innen heraus, aus der Seele von Zuschauern und Darstellern geboren, entstand die weihevolle Stimmung, die beflügelt über alle Unzulänglichkeiten hinwegtrug. Dieselben Schauspieler spielten dieselben Rollen durch Jahre hindurch, auch in den Dekorationen wurden keine Experimente gemacht. Der Faust war ein wenig zu brav, das Gretchen in den lieblichen Szenen zu wenig naiv, um später zu großer tragischer Wahrheit emporzuwachsen. Der Schäfer, der sich zum Tanze putzte, war nahe an die Siebzig, der Schüler immer wieder entzückend und Euphorion von der leicht manierierten Grazie eines Fragonard-Püppchens. Der Himmel mit seinen Engelscharen erschien – man musste es zugeben – eher komisch als erhaben, und die Musik von Lassen fügte sich nur in den idyllischen Szenen restlos der Dichtung an, im ganzen blieb sie wohl hinter dem gewaltigen Schwunge dieses Weltgedichts weit zurück.
All das Primitive, Ärmliche, Enge – erinnerte es nicht an die mittelalterlichen Puppenspiele, aus denen der Faust einst entstanden? Und deckte es sich nicht in einem tiefen Sinne mit des Dichters bescheidenem Worte:
›Das Unzulängliche –
Hier wird›s Ereignis.‹
Doch gleich möchte man hinzufügen:
›Das Unvergleichliche,
Hier ist›s getan.‹
Vollendet kann eine Aufführung des Faust niemals werden, auch mit den raffiniertesten Mitteln moderner Bühnentechnik nicht. Hier in den Frühlingstagen des alten Weimar war sie durchleuchtet von hingegebener Begeisterung und wirkte wie ein Symbol alles Menschlichen: in dürftigem Gefäße trug sie das Ewige.
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