Personen
Ort
Thema
Patrick Siebert
Detlef Ignasiak, Das literarische Thüringen, Bucha 2015 / Thüringer Literaturrat e.V.
Nach dem Ende des Zweites Weltkrieges, der die Stadt zwar nicht so hart traf wie andere deutsche Großstädte, dennoch 1600 Opfer durch Luftangriffe forderte, wurde Erfurt Teil der sowjetischen Besatzungszone. Die preußische Regierung stellte ihre Arbeit am 01. Juli 1945 ein. 1948 erhielt die Stadt ihren Status als Landeshauptstadt Thüringens, der 1952 mit der Auflösung des Landes zugunsten der Bildung von Bezirken aufgehoben wurde. Die Stadt war nun Hauptstadt des gleichnamigen Bezirkes. Eine lange Tradition weit über diesen Zeitenwandel hinaus konnten die Gärtnereien der Familie Haage aufweisen, die bereits sein 1685 in Erfurt betrieben wurden. Walter Haage (1899–1992) konnte sich neben der praktischen Arbeit auch als Fachschriftsteller etablieren. Seine Werke über Kakteen sind bis heute populär. Einen besonderen Stellenwert nimmt dabei »Kakteen von A‑Z« ein, das so etwas wie das Standardwerk der Kakteenzucht ist. Die einflussreiche Orientalistin und Religionswissenschaftlerin Annemarie Schimmel (1922–2003) wurde in Erfurt geboren. In ihren mehr als 100 veröffentlichten Büchern warb sie für ein besseres Verständnis des Islam und ein friedliches Nebeneinander von Muslimen und Nichtmuslimen. Ihre Aufenthalte in Lahore/Pakistan, das sie als ihre »zweite Heimat« bezeichnete, vertieften ein Bild des Islam, das sich von tagespolitischen Ereignissen entfernt hatte. Einen heftigen Disput löste die Verleihung des »Friedenspreises des deutschen Buchhandels« an Schimmel 1995 aus. Ihr wurden ein schwärmerisch-romantisierendes Islambild und fehlendes politisches Engagement vorgeworfen. Doch ihre Wirkung als Dolmetscherin der verschiedenen Kulturkreise bleibt unbestritten. Auch der Drehbuchautor Günter Kaltofen (1927–1977) wurde in Erfurt geboren. Seine mehr als 20 Film- und Fernsehdrehbücher im Auftrag der DEFA machten seinen Namen Landesweit bekannt. Besonderer Beliebtheit erfreuen sich dabei bis heute die Märchenadaptionen. Sein Essay »Das Bild, das deine Sprache spricht« von 1962 ist ein wichtiger Beitrag auf dem Feld der Fernsehdramatik.
Hildegard Jahn Reinke (1906–1995) kam 1940 durch die Arbeit ihres Mannes nach Erfurt, wo sie als Sachbearbeiterin wirkte. Sie fand in den 60er-Jahren Anschluss an einen christlich-literarischen Kreis, wo ihr die Förderung durch Inge Freifrau von Wangenheim (1912–1993) eine produktive lyrische Arbeit ermöglichte. Reinkes Gedichte, wie in den Bänden »Spur im Licht« von 1983 oder »Lichtzeichen« aus dem Jahre 1987 zeichnen sich durch eine zeitlose Wortwahl und eingängige Formulierungen aus, die sich außerhalb literarischer Moden bewegen.
Wer sich mit der Geschichte Erfurts auseinandersetzt kommt an Erich Kleineidam (1905–2005) nicht vorbei. Nachdem er kurzzeitig die DDR verlassen musste, kehrte er im Juli 1952 zurück und wurde in Erfurt Gründungsrektor des »Philosophisch-Theologischen Studiums«, wo er bis 1970 Professor für Philosophie blieb. Sein Hauptwerk »Universitas Studii Erffordensis – Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt«, in 4 Bänden erschienen, ist in seiner kenntnis- und materialreichen Gestaltung das zentrale Nachschlagewerk für sämtliche historischen Beschäftigungen mit der Erfurter Alma Mater. Kleineidam wurde 2005, zu seinem 100. Geburtstag, durch den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Kardinal Lehmann, als »Gestalt der Hoffnung« geehrt.
Ein wichtiger Verfechter der Idee einer Universität in Erfurt war Horst Rudolf Abe (1927–2006). Nach einem Studium in Jena mit Promotion zum Erfurter Humanismus war er Mitarbeiter und ab 1977 Professor an der medizinischen Akademie. Er wirkte bei der Errichtung einer Humanistengedenkstätte genauso mit, wie beim Aufbau der Abteilung für Geschichte der Medizin an der Akademie, deren Leitung er auch übernahm. Seine zentralen Themen waren neben dem Humanismus und der Medizingeschichte im Allgemeinen, vor allem die akademische Geschichte Erfurts und hier im speziellen die medizinische Fakultät.
Der in Erfurt geborene Autor Reinhard Lettau (1929–1996) gehört zu einer Reihe von Autoren, die überwiegend in Westdeutschland schrieben, aber von ihrer Kindheit in Erfurt tief geprägt wurden. Nachdem Lettau die Stadt aufgrund der Verfolgung seines Vaters durch radikale kommunistische Kreise 1947 verlassen musste, prägte er als Mitglied der »Gruppe 47« die literarische Landschaft der jungen Bundesrepublik mit. Mit flammenden Reden gegen die Springer Presse wurde er zu einer Ikone der 68er Bewegung, allerdings auch aus der BRD ausgewiesen. Seine ersten Werke zeichnen sich durch die Beschreibung kurzer, meist alltäglicher Szenen aus. In »Gruppe 47 – Bericht, Kritik, Polemik« von 1967 setzte er sich kritisch mit den Sitzungen der Literatengruppe auseinander. In seinem Essay »Täglicher Faschismus« von 1971 analysiert er faschistische Tendenzen in seiner Wahlheimat USA. Dabei legt er den Finger auch in Wunden, wie Manipulation der Presse und Rassismus. Themen sie zu dieser Zeit noch tief in Bewusstsein der US-Bevölkerung saßen. In »Zur Frage von Himmelsrichtungen« setzt sich Lettau 1988 mit der Situation der Menschen in Erfurt auseinander, die, egal in welche Richtung sie schauen, immer in den Osten blicken. Noch mehrfach besuchte er 1980 und in den Jahren 1990–93 Lettau die Stadt seiner Kindheit.
Harald Gerlach (1940–2001) hingegen kam erst 1962 nach Erfurt, wo er am Theater arbeitete, seit 1970 als Dramaturg. In seinem vielfältigen Werk spiegeln sich seine Erfahrungen dort wieder, so ist sein Roman »Gehversuche« aus dem Jahr 1985 eine direkte Auseinandersetzung mit den Erlebnissen an den städtischen Bühnen. Der Lyrikband »Mauerstücke« verbindet Erfurter Lokalitäten, sowie Figuren des Mittelalters und der Renaissance mit den politischen Gegebenheiten, wobei die schon im Titel angedeutete Mauer immer wieder durchscheint. Als Gast des Kunsthauses Erfurt 1995 lebte Gerlach bereits im pfälzischen Leimen, nicht mehr in seiner vorherigen Erfurter Wohnung in der heutigen Hochheimer Straße 58.
Seit 2009 wird vom Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur auf Anraten von Ingo Schulze das Harald Gerlach Stipendium vergeben, zu dessen Preisträgern Lutz Seiler und Daniela Danz gehören.
Auch die Autoren Christoph Meckel (*1935) und Jürgen Becker (*1932) verlebten während des zweiten Weltkrieges Jahre ihrer Kindheit in Erfurt, was sich in ihren Werken wiederspiegelt. Sie beide machen autobiografische Daten zu wichtigen Teilen ihres künstlerischen Werkes. Meckels Auseinandersetzung mit dem Krieg drehte sich in »Suchbild. Über meinen Vater« von 1980 noch primär um die Figur des Vaters und dessen Generation und ihren Umgang mit dem Nationalsozialismus. In »Russische Zone. Erinnerung an den Nachkrieg« rückte er 2011 den Wechsel der Besatzung der Stadt Erfurt im Juli 1945 in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Die einmarschierenden Russen waren für die in der Arnstädter Straße lebende Familie ein Schreckgespenst. Auch Jürgen Becker verließ mit seinem Vater die Stadt, da dieser Repressionen durch die russischen Besatzer fürchtete. Im Spätsommer 1947 ging es mit dem Fahrrad zurück ins Bergische Land. Als die Familie im August 1939 in der Zeppelinstraße 4, direkt an der heutigen Löberfeldkaserne gelegen, ankam, konnte sich keiner vorstellen, dass sie hier für die Zeit eines kompletten Weltkrieges verbleiben müsste. In »Aus der Geschichte der Trennungen« verarbeitet Becker nicht nur die Erlebnisse aus dieser Zeit, sondern auch die Eindrücke eines Besuches in der Stadt 1990. Die Erfurter Kindheit spielt in seinem lyrischen Werk immer wieder eine Rolle. Besonders greifbar wird die Suche nach der Umgebung der Kindheit in den Bänden »Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft« aus dem Jahr 1988 und »Foxtrott im Erfurter Stadion« (1993) zieht der Lyriker aus tatsächlichen und erinnerten Wahrnehmungen die Bilder der Erfurter Jahre.
›Literaturland Thüringen‹ ist eine gemeinsame Initiative von
Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen · Thüringer Literaturrat e. V. · MDR-Figaro · MDR Thüringen – Das Radio
Gestaltung und Umsetzung XPDT : Marken & Kommunikation © 2011-2025 [XPDT.DE]
© Thüringer Literaturrat e.V. [http://www.thueringer-literaturrat.de]
URL dieser Seite: [https://www.literaturland-thueringen.de/artikel/erfurt/von-der-landeshauptstadt-zur-bezirksstadt-zur-landeshauptstadt-erfurt-bis-zur-gegenwart/]