Thema
Thüringen im literarischen Spiegel
Ruth Elias
Die Hoffnung erhielt mich am Leben. Mein Weg von Theresienstadt und Auschwitz nach Israel, Piper Verlag, München/Zürich 1990, S. 226-230) © Piper Verlag GmbH, München 1988. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Silvester 1944. Das Leipzig-Kommando hatte alle Hände voll zu tun gehabt, denn es mußten für die Feier der Deutschen Lebensmittel und Wein ins Lager geschafft werden. Wir Mädchen hatten schon einige Tage vorher fleißig mit den Füßen gescharrt, um soviel Kohle und Karotten als nur möglich vom Auto herunterzustoßen. Wir wußten, daß die Deutschen den Jahreswechsel feiern würden, und wir beschlossen, auch eine Feier zu begehen. Brot, Karotten und Kohlen hatten wir schon, und es gelang uns Mädchen nach einiger Anstrengung, eine alte Teekanne, Zucker und Marmelade zu stehlen. Also war für das leibliche Wohl gesorgt, und nun kam das geistige Wohl an die Reihe. Wir verabredeten, ein Unterhaltungsprogramm zusammenzustellen. In unserem Block waren einige Nationen vertreten, und jede Nation bekam den Auftrag, etwas für ihr Heimatland Typisches vorzutragen. Ich hatte auch einen Rotstift gestohlen, welcher einer jeden »Künstlerin« als Lippenstift diente.
Es war schon dunkel draußen, als wir Gesang von den deutschen Quartieren hörten. Das war das Zeichen, auch mit unserer Feier anzufangen. Wir heizten unseren Eisenofen an, im Block wurde es heiß, die Laune stieg, und wir begannen, nachdem wir vorher »gut gespeist« hatten, mit unserem Programm. Es wurden ungarische, slowakische, tschechische, polnische und französische Lieder oder Gedichte dargeboten. Da niemand etwas Deutschsprachiges gebracht hatte, bot ich mich an, ein Lied mit deutschem Text zu singen. Ich hatte einem Lied aus einer Operette neue, unserem Leben angepaßte Worte gegeben:
Es steht hier ein Häftling in Häftlingstracht,
von draußen her wird er streng bewacht.
Seine Heimat, ach, die ist so fern,
seinen Weg erhellt ihm gar kein Stern.
Rings um ihn her alles schweigt,
eine Träne ihm ins Auge steigt.
Und er fühlt, wie’s im Herzen frißt und nagt,
wenn der Mensch verhaftet ist,
und er fragt und er klagt:
Hast Du dort droben vergessen auf mich,
es sehnt doch mein Herz nach Freiheit sich!
Bitte, oh bitte! Ich flehe Dich an!
Mach, daß ich bald nach Hause geh’n kann.
Mein Rücken war der Eingangstür zugekehrt, und ich war ganz erstaunt, daß mir meine Mithäftlinge, während ich sang, ganz unverständliche Zeichen machten. Ich ließ mich aber dadurch nicht stören und sang seelenruhig mein Lied zu Ende. Plötzlich vernahm ich hinter mir eine Männerstimme:
»Ja, was habt ihr denn hier für einen Laden aufgemacht?«
Ich war entsetzt, denn es war der Lagerführer, ein SS-Mann. Wir Häftlinge waren doch so felsenfest davon überzeugt gewesen, daß die Deutschen feiern und wir deshalb keinen »Besuch« zu erwarten hätten. Bis heute weiß ich nicht, wie ich den Mut faßte, den Lagerführer zu fragen:
»Herr Lagerführer, hat Ihnen das Lied gefallen? Wollen Sie noch ein anderes Lied hören?«
Ohne mir zu antworten, drehte er sich um, und bei der Tür angelangt, machte er halt und rief mir zu:
»Morgen um zehn meldest du dich in meinem Büro!«
Aus war es mit unserer Silvesterfeier. Fieberhaft dachten wir nach, was mir wohl der nächste Tag bringen wird, denn wir wußten, daß solche Befehle im allgemeinen mit irgendeiner Strafe endeten.
Die Mädchen bemitleideten mich und gaben mir Ratschläge und gute Wünsche auf den Weg. Erhobenen Hauptes ging ich am Morgen ins Büro, fest entschlossen, mich ja nicht unterkriegen zu lassen, denn das Kriegsende und somit unsere Befreiung waren doch schon so greifbar nahe. Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen, als ich folgendes hörte:
»Binnen zehn Tagen stellst du ein komplettes Kabarettprogramm zusammen. Der Speisesaalblock samt der Bühne steht dir zur Verfügung. Es wird dort auch ein Klavier zur Begleitung der Lieder stehen.«
»Aber Herr Lagerführer, nie habe ich so etwas in meinem Leben gemacht. Ich weiß nicht, wie das geht, ich kann das doch gar nicht: Wie stellt man ein Kabarettprogramm zusammen?«
»Das ist deine Sache, wie man ein Kabarettprogramm zusammenstellt. Du hast eben einen Befehl erhalten. Wenn dieser Befehl nicht ausgeführt wird, bedeutet das für dich – Bunker.«
Bunker. Ein grausiges Wort und eine grausige Stelle in Konzentrationslagern. Ein Ort ohne Fenster, ohne Licht, wo kaum Platz zum Hinlegen auf der offenen Erde ist. Die Menschen kamen von dort halb verrückt zurück. Ein jeder fürchtete sich davor. Wie kann ich dem Bunker entgehen?
Am Block angelangt, stürzten sich die Mithäftlinge auf mich, denn jede wollte ganz genau wissen, was der Lagerführer gesagt hatte. Wir begannen fieberhaft nachzudenken, was man unternehmen könnte. Da kam mir plötzlich der rettende Gedanke. Unsere Mithäftlinge – die Zigeunerinnen. Ich arbeitete zwar nicht mit ihnen in der Fabrik, doch war ich öfter auf ihrem Block, um mich mit ihnen zu unterhalten und ihnen auch etwas Brot zu bringen. Sie sprachen untereinander eine Sprache, welche ich zwar nicht verstand, doch sie schienen trotz Hunger und Elend meist guter Laune, und wenn es ihnen am schwersten war, so fingen sie zu singen und zu tanzen an, was mich immer faszinierte. Da ich nie ohne Brot in ihrem Block ankam, war ich immer ein sehr gern gesehener Gast bei ihnen. Die meisten der Zigeunerinnen stammten aus Deutschland, sprachen daher ein ausgezeichnetes Deutsch, so daß ich mich mit ihnen sehr gut verständigen konnte. Nachdem ich ihnen von meiner Begegnung mit dem Lagerkommandanten erzählt und ihnen meine Sorgen mitgeteilt hatte, überlegten wir sofort gemeinsam; so dauerte es nicht lange, und wir hatten ein Kabarettprogramm zusammengestellt. Es bestand aus einigen fremdsprachigen Liedern und Sketchen, von meinen Blockinsassen vorbereitet. Die Zigeunerinnen jedoch wollten tanzen, ganz wilde Tänze und dazwischen Step, was so phantastisch war, daß alle Anwesenden mitgerissen wurden. Die Klavierbegleitung übernahm eine ausgezeichnete polnische Pianistin, welche früher Stummfilme begleitet hatte.
So paradox es auch klingen mag, es fingen in Taucha zehn schöne Tage an. Diese zehn Tage waren mit Proben und Programmgestaltung ausgefüllt, und dies alles zeigte mir auch immer wieder die Freundschaft, die uns verband. Niemand wollte außerdem haben, daß die Ruth vom Leipzig-Kommando in den Bunker geht, denn das hätte Brotverlust bedeutet; auch deshalb setzten die Mädchen alles daran, um in dieser Zeit das Beste zu geben. Diese Zeit war eine Demonstration von Kameradschaft, Zusammenhalten und gegenseitiger Hilfe. Diese kurze Zeit gab mir eine Antwort auf das »Warum« und »Wozu« des Lebens im Konzentrationslager und ließ den Überlebenswillen ganz stark hervortreten.
Am Tage der Aufführung kamen wir in den Speisesaal und sahen, daß dieser nur mit SS-Leuten und Wehrmachtssoldaten besetzt war. Wir hatten gar nicht gewußt, daß sich in Taucha so viele Deutsche befanden. Jede von uns gab sich Mühe, soweit sie es konnte, das Beste herzugeben, damit niemand von uns bestraft werden würde. Häftlingskleidung, das waren unsere Kostüme, Kulissen gab es nicht, nur das Klavier hatte seinen Ehrenplatz vorne an der Bühne. Und was für ein Wunder – nach dem ersten Stück fingen die Deutschen zu applaudieren an! Zuerst war der Applaus ganz zaghaft, doch wurde er immer stärker. SS und Soldaten applaudierten Häftlingen – Politischen, Juden und Zigeunern! Waren sich diese Deutschen überhaupt dessen bewußt, wem dieser Applaus galt? Ja, wir Häftlinge haben es fertiggebracht, euch zu zeigen, daß wir Menschen sind, daß wir uns nicht unterkriegen lassen, daß wir trotz eurer Terrorherrschaft unsere Seelen nicht verloren haben. Und ihr, ihr Übermenschen applaudiert uns schön dazu. Danke, danke euch allen, danke dafür, daß wir die Gelegenheit hatten, euch zeigen zu dürfen, daß es euch trotz allem nicht gelungen ist, unsere Widerstandskraft zu brechen.
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