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Von Goethes Tod bis zur Novemberrevolution
Richard Voß
Aus einem phantastischen Leben, Stuttgart 1920.
Nach den schwankenden Gestalten noch eine Erscheinung aus einem Grabe. Nein – schrecklicher als ein Grab war in Weimar die Gruft, in welcher ein Lebender die Tage, die Monate, die Jahre verbrachte. Und dieser Lebende war Friedrich Nietzsche! Ich besuchte seine Schwester, die durch treue Schwesterliebe ihres großen Bruders Unsterblichkeit teilt. Eine fast überzarte Gestalt trat mir entgegen, eine fast überfeine Wesensart enthüllte sich mir. Und bei solcher fraulichen Zartheit und Feinheit diese Liebeskraft und Willensmacht! Ich war gerührt und ergriffen.
Ich hatte für den Lebend-Toten Blumen mitgebracht, Rosen und Nelken. Seine Schwester wollte, ich sollte sie ihm selbst übergeben. Sie sagte: »Scheuen Sie sich nicht. Er ist sanft wie ein Kind und wird Sie mit einem Kinderlächeln begrüßen. Es ist kein furchtbarer, es ist ein fast lieblicher Anblick. Also kommen Sie und bringen Sie meinem Bruder Ihren Blumengruß selbst.«
Ich aber folgte der Schwester nicht zum Bruder, brachte Friedrich Nietzsche meine Blumen nicht, ich war feige. Ein Grauen faßte mich bei der Vorstellung, ich sollte den Sänger des »Zarathustra« sehen, einen fast lieblichen Anblick bietend und mit einem Kinderlächeln mich grüßend.
Meine Rosen und Nelken legte ich unter Friedrich Nietzsches Büste, die im Zimmer feierlich aufgestellt war und die mit Blumenschmuck einen »fast lieblichen Anblick« gewährt haben würde, wenn – in den weit offenen Augen nicht schon die Flamme des Wahnsinns geglüht hätte.
Also verließ ich das Haus, darin der große Tote immer noch lebte, mit einem Grauen in meiner Seele.
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