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Goethe-Nationalmuseum und Goethe-Wohnhaus
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Thüringen im literarischen Spiegel
Literarisches Thüringen um 1800
Eduard Genast
Aus Weimars klassischer und nachklassischer Zeit. Erinnerungen eines alten Schauspielers, Stuttgart 1904.
[…] Das Theater in Weimar war am 10. September mit der »Schuld« und einem Prolog wiedereröffnet worden. Bis zu Ende des Jahres wurde das Repertoire mit bereits gegebenen beliebten Opern und Schauspielen in reicher Abwechslung ausgefüllt.
Am 30. Januar 1815 kam als erste bedeutende Neuigkeit die »Zenobia« von Calderón zur Aufführung.
Da ich in dem Stück beschäftigt war, so wurde mir Gelegenheit, zum ersten Mal einer Goetheschen Leseprobe, die bei großen Werken stets in seinem Hause abgehalten wurde, beizuwohnen, und ich konnte mich persönlich von der Wahrheit dessen überzeugen, was ich bisher darüber gehört hatte.
Ein langer, grünbehangener Tisch stand in der Mitte von Goethes Empfangszimmer. Obenan nahm er seinen Platz; ihm gegenüber, am Ende der Tafel, der Regisseur. Zur Rechten von Goethe saß die Wolff, zur Linken Oels; die übrigen reihten sich der Ordnung gemäß an; der junge Nachwuchs bildete den Schluß. Ich hatte die Ehre, neben meinem Papa zu sitzen. Vier Exemplare lagen auf dem Tisch, wovon eines Goethe, ein zweites mein Vater und die beiden anderen die Wolff und Oels in Besitz nahmen. Mein Vater flüsterte mir zu: »Nimm dich zusammen!« Du lieber Gott! was brauchte ich mich denn da zusammenzunehmen, ich hatte ja nur ein paar Worte zu sagen, und diese wußte ich bereits auswendig.
Goethe las nun die Namen der handelnden Personen, dann gab er mit einem Schlüssel, womit er auf den Tisch klopfte, das Zeichen zum Beginn, und Oels fing an zu lesen; auf ein abermaliges Klopfen las Madame Wolff weiter, und Oels gab sein Buch an seinen Nachbar; ein gleiches tat dann die Wolff. So gingen die Bücher von Hand zu Hand. Nun war mir klar, was der Herr Papa mit dem »Nimm dich zusammen!« gemeint hatte; nun sah ich erst, welch kitzlige Sache es ist, Calderonsche Verse korrekt vom Blatt zu lesen und dabei einigen Ausdruck hineinzulegen. Zum Glück hatte ich das Stück auf meines Vaters Pult vorgefunden und bereits für mich gelesen; der Rhythmus und das Tempo wurden mir durch Oels und die Wolff trefflich angegeben, und so sah ich denn mit einiger Ruhe dem Zeitpunkt entgegen, wo das Klopfen des Schlüssels mich aufrufen würde.
Solche Leseproben hatten das Gute, daß sie die Aufmerksamkeit aller Mitwirkenden verlangten und man auf diese Weise eine genaue Kenntnis des Ganzen erhielt, was auch Goethe dabei bezweckte. Von solchen Vorbereitungen ist heutigentags freilich nicht mehr die Rede, und die jetzige Generation der dramatischen Darsteller würde solche Zumutungen als Beleidigung betrachten.
Abb. 1: unbekannter Künstler, undatiert / Abb. 2: Gemälde von Joseph Karl Stieler, 1828.
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