Theodor Storm in Heiligenstadt – Ein literarischer Spaziergang
4 : Palmsonntag in Heiligenstadt und Storms Novelle »Veronica«

Theo­dor Storm, von Haus aus evan­ge­li­scher Kon­fes­sion, war wie viele Intel­lek­tu­elle sei­ner Zeit ein reli­gi­ons- und kir­chen­kri­ti­scher Mann. Er lehnte bereits bei sei­ner Ehe­schlie­ßung mit Con­stanze Esmarch 1846 eine kirch­li­che Trau­ung ab, die für ihn eine Pro­fa­na­tion der Liebe bedeu­tet hätte.

Die katho­li­sche Kir­che aber hatte er im Grunde erst in Hei­li­gen­stadt näher ken­nen­ge­lernt und zudem eine zutiefst gläu­bige Bevöl­ke­rung. Wall­fahr­ten und große Pro­zes­sio­nen waren hier an der Tages­ord­nung. Durch die Erfah­rung die­ses Glau­bens­le­bens fühlte Storm sich her­aus­ge­for­dert, noch­mals ent­schie­den auch über seine eigene Welt­an­schau­ung nach­zu­den­ken. Dies geschah in Gedich­ten wie An dei­nes Kreu­zes Stamm o Jesu Christ (um 1861) und in Ein Ster­ben­der (1863), aber auch in einer klei­nen Novelle, die er Vero­nica (1861) nannte. Im männ­li­chen Prot­ago­nis­ten, so meint man, habe Storm sich selbst por­trä­tiert, so heißt es da:

Der Jus­tiz­rat gehörte zu der immer grö­ßer wer­den­den Gemeinde, wel­che in dem Auf­tre­ten des Chris­ten­tums nicht sowohl ein Wun­der, als viel­mehr nur ein natür­li­ches Ergeb­nis aus der geis­ti­gen Ent­wi­cke­lung der Mensch­heit zu erbli­cken ver­mag. Er selbst ging des­halb in keine Kir­che; seine Frau jedoch ließ er, viel­leicht in Erwar­tung einer selbst­stän­di­gen Befrei­ung, in der Gewöh­nung ihrer Jugend und ihres elter­li­chen Hau­ses gewäh­ren. 

Die erwähnte junge Frau nun, es ist die Titel­hel­din Vero­nica, schaut einer Palm­sonn­tags­pro­zes­sion zu, die der Autor wie folgt beschreibt:

Der Vor­mit­tag des Palm­sonn­tags war her­an­ge­kom­men. Die Stra­ßen der Stadt wim­mel­ten von Land­leu­ten aus den benach­bar­ten Dör­fern. Im Son­nen­schein vor den Türen der Häu­ser stan­den hie und da die Kin­der der pro­tes­tan­ti­schen Ein­woh­ner und blick­ten hinab nach dem offe­nen Tor der katho­li­schen Kir­che. Es war der Tag der gro­ßen Oster­pro­zes­sion. – Und jetzt läu­te­ten die Glo­cken, und der Zug wurde unter der goti­schen Tor­wöl­bung sicht­bar und quoll auf die Gasse hin­aus. Voran die Wai­sen­kna­ben mit ihren schwar­zen Kreuz­chen in den Hän­den, nach ihnen die barm­her­zi­gen Schwes­tern in den wei­ßen Schlei­er­kap­pen, dann die ver­schie­de­nen städ­ti­schen Schu­len und end­lich der ganze unab­seh­bare Zug von Land­leu­ten und Städ­tern, Män­nern und Wei­bern, von Kin­dern und Grei­sen; Alle sin­gend, betend, mit ihren bes­ten Klei­dern ange­putzt, Män­ner und Kna­ben bar­häup­tig, die Müt­zen in den Hän­den hal­tend. Dar­über her in gemes­se­nen Zwi­schen­räu­men, auf den Schul­tern getra­gen, rag­ten die kolos­sa­len Kir­chen­bil­der: Chris­tus am Ölberge, Chris­tus von den Knech­ten ver­spot­tet, in der Mitte hoch über allen das unge­heure Kru­zi­fix, zuletzt das hei­lige Grab.

Ähn­li­ches könnte man heute noch eine Woche vor Ostern aus Hei­li­gen­stadt berich­ten, denn wie zu Storms Zei­ten zieht die Palm­sonn­tags­pro­zes­sion – eine mit­tel­al­ter­li­che Lei­dens­pro­zes­sion, die 1581 von den Jesui­ten neu belebt wurde –  mit gro­ßer Anteil­nahme der hier leben­den Men­schen durch die Stra­ßen der Stadt (Abb. 1).

 Theodor Storm in Heiligenstadt – Ein literarischer Spaziergang:

  1. Ein Storm-Museum und doch nicht das Wohnhaus der Storm-Familie
  2. Im Kreisgericht
  3. Auf dem Iberg
  4. Palmsonntag in Heiligenstadt und Storms Novelle »Veronica«
  5. Am Wasserfall
  6. Auf der Teufelskanzel
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