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Gerhard Schaumann
Gerhard Schaumann: Tautenburg bei Jena. Kulturgeschichte einer thüringischen Sommerfrische, quartus-Verlag, Bucha bei Jena 1999.
Mit Friedrich Nietzsche beginnt Tautenburgs Zeit als Sommerfrische für Literaten und Denker. Er kam 1882 nicht als Erholungssuchender nach Thüringen. In Rom hatte er die junge Russin Lou Andreas-Salomé kennengelernt. In Tautenburg wollte er sie näher kennenlernen. Aber nicht er, sondern seine agile Schwester Elisabeth hatte den Ort bestimmt. Mit der Wahl Tautenburgs verfolgte sie die Absicht, den Bruder mit der von ihr mißtrauisch betrachteten Russin unter Aufsicht zu haben.
Die philosophisch ungebildete Schwester und ihre Mutter erhofften sich sogar einen positiven Einfluß, der vielleicht zu einem Umdenken Nietzsches führen könnte. Mutter und Schwester wohnten im nahen Naumburg. Sie kannten Pfarrer Stölten von früheren Besuchen. Der Pfarrer, so schien ihnen, könnte auf den atheistischen Bruder in der von ihnen gewünschten Richtung einwirken. Der Kirchenmann schreibt zu Nietzsche, er halte ihn für: »einen geistvollen Mann mit einem so reichen Gemüt, daß man es kaum begreift, wie er in seinen Schriften immer nur Gift spritzt.«
Nietzsche war am 25. Juni nach Tautenburg gekommen und wartete ungeduldig auf Lou. Er wohnte im Hause des Gärtners Albert Hahnemann (jetzt Lindenstraße Nr. 50), direkt unterhalb des [erwähnten] Waldstücks »Toter Mann«. Überliefert ist auch die glaubhafte Anekdote, wonach Nietzsche das frühe Krähen des Hahnes seines Gastgebers gestört und er gefordert habe: »Herr Hahnemann, der Hahn muß weg!« Der Hahn sei daraufhin sofort geschlachtet worden.
Schon am Tag nach seinem Eintreffen in Tautenburg schreibt Nietzsche an Lou von Salomé: »Der Ort hat Auswahl an hübschen bescheidenen Zimmern…ich wünsche sehr, Ihr Lehrer sein zu dürfen. Zuletzt, um die ganze Wahrheit zu sagen: ich suche jetzt nach Menschen, welche meine Erben sein könnten«. Der 38jährige Nietzsche bemühte sich ernsthaft um die kluge, interessante und sicher auch kapriziöse 21jährige Russin. Er hoffte auf vier Wochen, die er gemeinsam mit ihr verbringen würde. Die Begegnung mit Lou eröffnete ihm die Möglichkeit, aus einer isolierten und als unbefriedigend empfundenen Lebenssituation herauszukommen.
Der Ort wird von Nietzsche nicht nur sehr positiv aufgenommen, sondern auch als Impuls für eine Neuorientierung verstanden: »Dieses Tautenburg entzückt mich und passt zu mir in allem und jedem; und nochmals fühle ich mich in diesen wunderbaren Jahre durch ein unerwartetes Geschenk des Schicksals überrascht. Für meine Augen und meine Neigungen ist hier das Paradies; ich verstehe den Wink, dass die Zeit meiner Südländerei vorüber ist; die Reise von Messina bis Grunewald war ein dicker Strich unter diese Vergangenheit«.
Bis zum Eintreffen Lous in Tautenburg ist Nietzsche mit den Korrekturen an seinem gerade fertig gestellten Werk »Die fröhliche Wissenschaft« beschäftigt, einem Höhepunkt seines Schaffens. Nietzsches Umgang mit den Leuten im Dorf, seine Äußerungen über sie, seine in Briefen nach außen weitergegebenen Eindrücke lassen jene Haltung vermissen, die er für zwischenmenschliche Beziehungen als angemessen betrachtete, jenes »Pathos der Distanz«, das er auch für sich in Anspruch genommen hat. So fand er den Barbier »nicht ganz ungefährlich«.
Abb. 1: Foto: Atelier Gebrüber Siebe in Leipzig, um 1869 / Abb. 2: Foto: Atelier Elvira in München, um 1900.
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