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Von Goethes Tod bis zur Novemberrevolution
York-Egbert König
Thüringer Literaturrat e.V.
Widerwillig folgt Lisa ihren Eltern im Herbst 1913 von Kassel nach Meiningen, wo die Familie eine Erdgeschosswohnung in der Feodorenstraße 7 bezieht. Ihr Vater Wilhelm Schmidt hatte die Gehaltshöchststufe erreicht und will als Pensionär seinen Lebensabend in der reizvollen Residenzstadt an der Werra verbringen. Sein Bruder Karl wohnt ebenfalls dort und sein ursprünglicher Heimatort Schmalkalden liegt ganz in der Nähe. Lisa ist darüber todunglücklich, sie muss die Ausbildung zur Klavierlehrerin kurz vor dem Examen abbrechen, außerdem ist sie frisch verliebt. Aber noch ist sie nicht volljährig und fügt sich zunächst in ihr Schicksal.
In Meiningen waren nun wieder Wälder und Wiesen um das Haus gebreitet mit ihrem frischen, belebenden Geruch. Die Augen stießen sich nicht mehr an Mauern. Ungehemmt spürte man den Anprall des Windes, die Sonne, die ums Haus wanderte, den Mond in allen Phasen. Manchmal, wenn ich schon zu Bett lag, trieb es mich noch einmal aufzustehen, um zu sehen, wie die Nacht auf den Wiesen lag, wie der Wind die Goldraute beugte, Wolken den Mond enthüllten oder verbargen. Der Winter ging ins Land. Viel stand ich am Fenster und sah hinaus in das Flockengestöber. Lange Schlittenkolonnen mit vollbesetzten Rodeln im Schlepp oder diesen neumodischen Skiläufern zogen mit fröhlichem Geläut zur Stadt hinaus auf den Dolmar. Ein frohes Treiben, blitzende Augen, lebensfrische Gesichter, Zurufe und Gelächter.
Keinesfalls will sie nur zuhause sitzen, im Haushalt helfen und sich schlimmstenfalls mit einem von ihren Eltern ausgesuchten Kandidaten verheiraten lassen. Sie hat die feste Absicht, eines Tages auf eigenen Beinen stehen zu wollen.
So kam ich auf den Gedanken, ein Handwerk zu erlernen. Es hieß, das habe goldenen Boden. Ich hatte einmal sagen hören, an Damenhüten würde viel Geld verdient. Für den Kauf eines Geschäftes, so gingen meine Überlegungen, würde mir mein Vater Geld geben. Wenn mein Interesse an Hüten auch ein durchaus gedämpftes war, so konnte man doch vorteilhaft das Interesse anderer Frauen in Gold ummünzen. War es nicht gleich, womit man etwas verdiente? ›Nur für meinen Bedarf, für den Hausgebrauch‹, sagte ich meinen Eltern und der Inhaberin des Hutsalons. Ich traute mir zu, mir in einem Jahr anzueignen, wozu andere drei brauchten. Viel Zeit gab ich mir nicht. Einige Zeit saß ich in einem Hinterstübchen an einem langen Tisch mit anderen Mädchen, deren Zungen unaufhörlich plapperten, die sich Abenteuer und Witze erzählten, von aufkreischendem Lachen begleitet. Manchmal kam die Prinzipalin herein, donnerte ein ›Ruhe!‹, warf einen verbeulten Hut auf den Tisch und knurrte brummig ein paar Anweisungen. Ich durfte nur Gummiband und Futter annähen und schaute dabei nach rechts und links, um den Nachbarinnen abzusehen, wie sie ein Band, eine Blume befestigten. Manchmal ließ eine von ihnen ihr fertiges Gebilde auf der Hand tanzen, schaute verliebt ihre Arbeit an, eine Komposition aus Vergissmeinnicht, Rosen, Kirschen und Bandschleifen, zwischen denen noch irgendwo ein Federfittich hing, und während alle begeistertes Lob spendeten, dachte ich: Was für eine scheußliche Dohle! Und damit müsste ich täglich umgehen, mein Leben darauf gründen, den Käufern anpreisen und aufschwatzen – gegen meine Überzeugung – das ist zuviel, das kann ich ja nicht.
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