Lisa Heise in Thüringen
6 : An der HNO-Klinik im Philosophenweg

Person

Lisa Heise

Ort

Jena

Themen

Thüringen im Nationalsozialismus

Weibliche Perspektiven

Autor

York-Egbert König

Thüringer Literaturrat e.V.

Lisa Heise wech­selt an die zu den Uni­ver­si­täts­kli­ni­ken gehö­rende HNO-Kli­nik im Phi­lo­so­phen­weg und wird,  als ihre Tage­buch­auf­zeich­nun­gen 1937 ein­set­zen, gerade in einen neuen Auf­ga­ben­be­reich eingewiesen: 

Die ers­ten Tage waren Zer­reiß­pro­ben. Ich fer­tigte jeden Mor­gen fünf­zig bis acht­zig Kranke ab, frage und schreibe ihre Per­so­na­lien, brülle in taube Ohren und in Hör­rohre, Kehl­kopf­lose lal­len, kräch­zen hei­ser, pie­pen durch Kanü­len, Kin­der schreien ›Mut­ter‹ und Erwach­sene ›Kuckuck‹. Mein Kabü­schen ist nur ein Anhäng­sel zum Behand­lungs­raum. Den Tele­fon­hö­rer zwi­schen Ohr und Schul­ter geklemmt, gebe ich gleich­zei­tig mit der Rech­ten meine Unter­schrift auf ein Papier und mit der Lin­ken stem­pele ich Aus­weise, Nach­weise, Vor­weise, Hin­weise. Tay­lor, der Furcht­bare, könnte von mir noch etwas ler­nen! Mehr als sech­zig Anrufe in der Stunde gehö­ren wohl zu den Sel­ten­hei­ten und mehr als vier Men­schen reden nie zugleich auf mich ein. Dazwi­schen dik­tiert der Ober­arzt mit 350 km Stun­den­ge­schwin­dig­keit Ope­ra­ti­ons­be­richte, Arzt­briefe, Kran­ken­ge­schichts­aus­züge. Den ers­ten Satz spricht er schon vor der Tür, den letz­ten schon wie­der auf dem Flur. Nie gehörte Fach­aus­drü­cke. Sagt, ich solle ihn nicht unter­bre­chen, er ver­löre sonst den Faden. Sinn soll es nach­her auch haben. Inter­punk­tion lie­fert er nicht. Mir bricht jedes Mal der Schweiß aus. Dabei schwir­ren mir immer noch Fra­gen durch den Kopf, die kei­nes­wegs zu mei­nem ›Res­sort‹ gehö­ren: Was hat eigent­lich der Gruß ›Heil Hit­ler‹ mit medi­zi­ni­schen Befund­be­rich­ten, wie sie von Kli­nik zu Kli­nik gehen, zu tun? In wel­chem uner­forsch­ten Zusam­men­hang ste­hen lue­ti­sche Papeln, Hirn­tu­more und Ova­rien-Ent­zün­dun­gen mit Heil Hit­ler? Ist es nicht eher eine Pro­fa­nie­rung des gehei­lig­ten Namens, wenn Briefe mit dem Satz schlie­ßen: ›…und ver­ges­sen Sie nicht, ein Fläsch­chen Mor­gen­urin mit­zu­brin­gen, Heil Hit­ler!‹ Finde es logi­scher, unter den der­ma­to­lo­gi­schen Bericht ›Heil Haut‹ zu set­zen oder unter einen gynä­ko­lo­gi­schen ›Heil Ade­bar!‹. Schließ­lich gehört ja Hei­len zu den wesent­li­chen Auf­ga­ben einer Kli­nik. Ledig­lich bei Berich­ten der Psych­ia­tri­schen Kli­nik könnte man dem ›Heil Hit­ler‹ einen vol­len Sinn unter­stel­len. Wenn ich – in der Manier des bra­ven Sol­da­ten Schweijk – ein­mal einen Arzt dar­auf auf­merk­sam mache, weil sich mein Gefie­der jedes Mal aufs Neue sträubt, so sieht er mich immer an, als sei ich vom Mond gefal­len. Trotz­dem aber scheine ich mit mei­ner Ansicht nicht ganz allein in der Welt zu ste­hen, min­des­tens in Hol­land gibt es Men­schen, die ähn­lich wie ich den­ken. Eine Erfur­ter Samen­groß­hand­lung, die ihre nach Hol­land gehende Bestel­lung auf Tul­pen­zwie­beln mit ›Heil Hit­ler‹ unter­zeich­nete, las näm­lich zu ihrem Erstau­nen als Post­skrip­tum auf der hol­län­di­schen Rech­nung: ›Unsere Köni­gin lässt auch schön grüßen!‹

 Lisa Heise in Thüringen:

  1. Lisa Heise in Meiningen
  2. Von Meiningen nach Kassel
  3. »Die Gärtnerei am Schießholz« - Lisa Heise in Tiefurt
  4. »Hinter den Gärten« in Oberweimar
  5. Sekretärin in Jena
  6. An der HNO-Klinik im Philosophenweg
  7. »Briefe an eine junge Frau« – »Briefe an Rainer Maria Rilke«
  8. Wieder in Meiningen
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