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Thüringen im Nationalsozialismus
Peter Braun und Martin Straub
Die Exkursion entstand im Rahmen eines Projekts der Literarischen Gesellschaft Thüringen e.V.
Die Schule, die Gerhard Wolf und Christa Ihlenfeld besuchten, liegt im Zentrum der Stadt, am Anger 1. Heute ist in dem ehemaligen Schulgebäude das Altenpflegeheim »Haus Wilma« untergebracht. Auch in der Schule suchte Christa Ihlenfeld nach Halt und Orientierung. Besonderen Einfluss übte in dieser Hinsicht ihr Mathematiklehrer Erwin Dewald, zugleich Direktor der Schule, auf sie aus. Noch in ihrem Roman Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud , erinnert sich Christa Wolf an diesen Lehrer, der ihr diese revolutionären Schriften empfohlen hatte und nicht ohne Wohlgefallen bemerkt, wie es dir einleuchtete, daß die Welt nicht immer nur interpretiert, sondern daß sie von Grund auf verändert werden mußte, und er hatte ohne zu zögern die Bürgschaft übernommen, als du dich entschlossest, der Partei beizutreten, die eben diese Veränderungen ja in ihrem Programm hatte.
Sonja Hilzinger weist in ihrer lesenswerten Doppelbiographie zu Christa und Gerhard Wolf darauf hin, dass der Dozent Erwin Schwarzenbach, eine Figur in Der geteilte Himmel aus dem Jahr 1962, Züge von Erwin Dewald trägt. Schwarzenbach ist derjenige, der die Hauptfigur des Romans, Rita Seidel, für ein Studium am Lehrerbildungsinstitut wirbt. Im Gegensatz zu dogmatischen und seelenlosen Parteiarbeitern ist er voller Empathie für den anderen. Allerdings verschwieg sein reales Vorbild Dewald, dass er Mitarbeiter in Goebbels‹ Propagandaministerium war. Er wurde, erinnert sich Christa Wolf in Stadt der Engel, degradiert und an eine kleine Landschule versetzt. Und sie resümiert: Du aber, so sehr dich diese Nachricht traf, nahmst keinen Augenblick an, daß er euch, daß er dich betrogen hatte, indem er selbst an die Lehren nicht glaubte, die er dir anempfahl, oder daß er an die Wahnsinnslehren seiner ehemaligen Dienstherren geglaubt hatte.
Weniger als Christa Wolf habe er, Gerhard Wolf, über die Lektüre der theoretischen Schriften zum Sozialismus gefunden. Für ihn sei, so sagt er in unserem Gespräch, die Literatur sehr viel wichtiger gewesen und nennt u.a. Theodor Plievier und seinen dokumentarischen Roman Stalingrad. Ein Buch indes ist für beide besonders wichtig. Es sticht aus den Lektüren der Zeit heraus: Das siebte Kreuz von Anna Seghers. Für Christa Wolf blieb sie Zeit ihres Lebens eine wichtige Autorin. Später wurden sie Freundinnen, tauschten Briefe und Christa Wolf setzte sie sich immer wieder schreibend mit ihrem Werk auseinander. So heißt es in einem essayistisch gehaltenen Nachwort zu dem Roman aus dem Jahr 1963, sich an die Schulzeit in Bad Frankenhausen erinnernd:
Ich sehe noch in der altmodischen Handschrift meiner alten Lehrerin, den merkwürdigen Namen und den merkwürdigen Titel an unserer Schultafel stehen: Anna Seghers, Das siebte Kreuz. Wir wurden – das muß 1948 gewesen sein – gebeten nach Goethe und Rilke nun auch dies durchzunehmen, da es heutzutage nun einmal sein müsse. Ohne Vorbehalte, wenn man bitten dürfte. Ich sehe noch den schnell zerfledderten Rowohlt-Rotationsdruck, den wir dann wirklich lasen. – Was aber lasen wir? Die atemberaubende Geschichte der Flucht eines Menschen, eines Kommunisten. Wir wünschten diesem Flüchtling das Gelingen der Flucht – man konnte nicht anders. Gleichzeitig wunderten wir uns: Glaubten wir doch, das zu kennen, was in jenen Jahren Deutschland gewesen war; wir hielten unsere kindliche Erinnerung damals noch für zuverlässig. Sollte also unter der glatten, uns oft glücklich erscheinenden Oberfläche ein solcher Heisler, sollten viele seinesgleichen um ihr Leben gelaufen sein, vielleicht an uns vorbei? Und hatten die anderen, die Erwachsenen, ihn aufgenommen – ihn ausgeliefert? Die Fragen, die uns das Buch eingab, hingen eng mit unseren anderen Fragen aus jener Zeit zusammen. Sie drückten uns so, sie drängten sich vor, daß wir weit entfernt waren, dieses Buch wirklich zu erkennen und zu verstehen. Außerdem: um ein Buch richtig schätzen zu können, muß man viele gute Bücher gelesen haben. Auch davon waren wir weit entfernt. Doch die Frage, was in unserem Volk lebendig, gesund und wandlungsfähig geblieben sei, war direkt an uns gerichtet.
Wir danken Gerhard Wolf für das Gespräch, das im März 2013 stattgefunden hat. Damals bereiteten wir eine literarische Stadtwanderung in Bad Frankenhausen auf den Spuren von Christa und Gerhard Wolf vor, die von der „Literarischen Gesellschaft Thüringen“ initiiert und unterstützt wurde.
Weiterführende Literatur:
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