Thema
Thüringen im literarischen Spiegel
Jacques Lusseyran
Jacques Lusseyran. Das wiedergefundene Licht. Die Lebensgeschichte eines Blinden im französischen Widerstand. Aus d. Franz. v. Uta Schmalzriedt. © 1963 by Jacques Lusseyran. Klett-Cotta, Stuttgart 1966. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages Klett-Cotta, Stuttgart.
In der Tat entging ich nur knapp dem Tode. Aber wie kann ich, der ich heute lebe, das begreiflich machen? Ich werde all das sehr schlecht erzählen können. Trotzdem will ich es tun. Ich habe mich dazu verpflichtet.
Im März hatte ich alle meine Freunde verloren, alle waren weggegangen. In mir kam wieder das kleine Kind zum Vorschein, das überall seine Mutter sucht und nirgends findet. Ich hatte große Angst vor den anderen, ja sogar vor mir selbst, weil ich mich nicht verteidigen konnte. Fast jeden dritten Tag stahl man mir mein Brot, meine Suppe. Ich wurde so schwach, dass meine Finger bei der Berührung mit kaltem Wasser wie Feuer brannten. Den ganzen Monat über peitschte unaufhörlich ein eisiger Schneesturm über den Hügel von Buchenwald.
Da ich blind war, entging ich jedoch einer der großen Plagen: den Arbeitskommandos. Jeden Morgen um sechs Uhr verließen, begleitet von den Gassenhauern des Orchesters, eines offiziellen, tüchtigen Orchesters – der karikaturhaften Liturgie der Zwangsarbeit – alle gesunden Männer das Lager. Den ganzen Tag karrten diese Männer unter der Bewachung von Maschinenpistolen und von vor Wut blinden SS-Kapos Felsblöcke und Sand in den Steinbrüchen, brachen den gefrorenen Boden auf, um Rohrleitungen zu legen, oder transportierten Eisenbahnschienen. Sie kamen um fünf Uhr abends zurück, doch nie kamen alle wieder. Die Baustellen waren mit Toten übersät.
Übrigens starb man, was man auch tun mochte: auf dem schlüpfrigen Pfad des Steinbruchs von dem Gewicht eines Felsblocks in die Tiefe gerissen, bei Nacht, mit großem Pomp, unter den Augen von hunderttausend Kameraden, im vom Schneesturm getrübten Licht der Scheinwerfer, als abschreckendes Beispiel zu den Klängen eines Trauermarsches auf dem Appellplatz von Schlägen oder Kugeln niedergestreckt oder – bescheidener – in jener Scheune, die man das »Kino« nannte, gehängt. Andere starben an Lungenentzündung, an Dysenterie, an Typhus. Jeden Tag stürzten sich einige in die geladenen Stacheldrähte, die das Lager einzäunten. Doch viele starben ganz einfach vor Angst. Angst ist der rechte Name für die Verzweiflung.
Das Arbeitskommando war mir erspart geblieben, weil ich nicht sah. Doch für die Untauglichen meiner Sorte hatte man sich ein anderes System ausgedacht: den Invalidenblock. Seit sich die Nazis nicht mehr sicher waren, den Krieg zu gewinnen, nahm ihre Milde offizielle Formen an. Ein Jahr früher würde einen das Handicap, zu körperlicher Arbeit im Dienste des Großdeutschen Reiches untauglich zu sein, innerhalb von drei Tagen zum Tode verurteilt haben,
Der Invalidenblock war eine Baracke wie die anderen. Der einzige Unterschied: Man hatte hier statt 300 Menschen (300 war der Durchschnitt für die anderen Blocks) 1500 zusammengepfercht, und man hatte die Lebensmittelrationen halbiert. Bei den »Invaliden« waren die Einbeinigen und die Einarmigen, die Trepanierten, die Tauben, die Taubstummen, die Blinden, die Krüppel ohne oder mit gelähmten Beinen (ja, auch sie, ich kannte drei solche Leute), die Männer mit Sprachstörungen, die Rückenmarksleidenden, die Epileptiker, die brandig Gewordenen, die von Krätze Befallenen, die Tuberkulösen, die Krebskranken, die Syphilitiker, die alten Männer über sechzig, die Jungen unter sechzehn, die Kleptomanen, die Landstreicher, die Homosexuellen und schließlich die Verrückten. Und sie schienen sich als einzige nicht unglücklich zu fühlen.
Niemand bei den »Invaliden« war heil. Das war die Bedingung, nach der man hierher kam. Deshalb starben hier die Leute auch in einem Tempo, das die Zählung des Blocks unmöglich machte. Erstaunlich war nicht mehr, an einen Toten, sondern an einen Lebendigen zu stoßen. Und die Gefahr ging von den Lebenden aus.
Der Gestank in der Baracke war so stark, dass nur der Geruch des Krematoriums, das Tag und Nacht rauchte, ihn an Tagen, wo der Wind den Rauch herunterdrückte, noch übertäuben konnte. Ich ging nicht mehr, ich kroch umher, bei Tag und bei Nacht. Ich bohrte mir ein Loch in die Masse. Meine Hände wanderten von dem Stumpf eines Gliedes zu einer Leiche, von einer Leiche zu einer Körperwunde. Ich hörte nichts mehr, so laut war das Stöhnen rings umher.
Gegen Ende des Monats wurde es plötzlich zuviel für mich. Ich wurde krank. Schwer krank: eine Rippenfellentzündung, glaube ich. Mehrere Ärzte – Häftlinge wie ich, ja Freunde von mir – sollen mich abgehorcht haben. Sie sollen mich aufgegeben haben. Was hätten sie auch anderes tun können? In Buchenwald gab es keine Medikamente, nicht ein Aspirin. Zu der Rippenfellentzündung soll sehr schnell eine Dysenterie gekommen sein, dann eine doppelseitige Ohrenentzündung, die mich mehr als zwei Wochen lang vollständig taub machte, dann ein Rotlauf, der mein Gesicht in eine aufgequollene weiche Masse verwandelte und sich zu einer beginnenden Sepsis ausweitete. Mehr als fünfzig Kameraden haben mir all das später gesagt. Ich selbst weiß nichts mehr davon. Ich hatte die ersten Tage der Krankheit dazu genutzt, Buchenwald zu verlassen.
Zwei kleine Burschen, die ich sehr gern hatte – ein Franzose mit einem Bein und ein Russe mit einem Arm –, erzählten mir, dass sie mich eines Morgens im April zu zweit auf einer Bahre in den Krankenbau gebracht hätten. Dieser Bau war kein Ort, an dem man die Leute behandelte, sondern ein Ort, an dem man sie einfach hinlegte, bis sie starben oder gesund wurden. Meine beiden Freunde Pavel und Louis begriffen nicht, was geschehen war. Sie meinten immer wieder, ich sei ein »Fall« gewesen. Ein Jahr später noch staunte Louis: »An dem Tag, als man dich weggebracht hat, hattest du 41 Fieber oder mehr. Aber du warst nicht im Delirium. Du hattest einen ruhigen, klaren Kopf und sagtest von Zeit zu Zeit, wir dürften uns keine Sorgen um dich machen.« Ich hätte es Louis und Pavel gerne erklärt. Aber die Sache ließ sich – und lässt sich noch heute – nicht in Worten ausdrücken.
Die Krankheit hatte mich von der Angst befreit. Sie hat mich selbst vor dem Tod gerettet. Ich möchte sagen, ohne sie wäre ich nicht am Leben geblieben. Ich war, kaum dass sie begonnen hatte, in eine andere Welt getreten: o ja, bei Bewusstsein. Ich redete keinen Unsinn. Louis hatte recht. Ich behielt immer meinen ruhigen, klaren Kopf. Ruhiger denn je. Eben das war das Wunder.
Ich erlebte die Phasen der Krankheit mit, erlebte sie klar mit. Ich sah, wie ein Organ meines Körpers nach dem anderen abschaltete oder die Kontrolle verlor: zuerst die Lungen, dann die Gedärme, dann die Ohren, alle Muskeln und schließlich das Herz, das sich nur noch ungenügend zusammenzog und ausdehnte, mich mit einem einzigen gewaltigen Geräusch erfüllte. Was ich hier sah – ich wusste genau, was das war. Mein Körper schickte sich an, diese Welt zu verlassen. Er wollte nicht ohne weiteres hinübergehen. Er wollte überhaupt nicht hinübergehen. Ich spürte das an den Schmerzen, die er mir schuf. Er wand sich nach allen Richtungen, wie es Schlangen tun, die man durchschnitten hat.
Habe ich gesagt, der Tod sei schon bei mir gewesen? Habe ich es gesagt, so war das allerdings ein Irrtum. Krankheit, Schmerz, ja, aber nicht der Tod. Im Gegenteil – das Leben, erstaunlicherweise das Leben, hatte ganz und gar von mir Besitz ergriffen. Ich hatte noch nie so intensiv gelebt.
Das Leben war eine Substanz in mir geworden. Sie drang mit einer Kraft, die tausendmal stärker war als ich, in meinen Käfig ein. sie bestand nicht aus Fleisch und Blut – oh, gewiß nicht –, nicht mal aus Ideen. sie kam wie eine hell schimmernde Welle, wie eine Liebkosung von Licht, auf mich zu. Ich konnte sie jenseits meiner Augen und meiner Stirn, jenseits meines Kopfes wahrnehmen. Sie berührte mich, schlug über mir zusammen; ich ließ mich auf ihr treiben.
Aus der Tiefe meines Erstaunens stammelte ich Namen, oder nein, ich sprach sie sicher nicht aus, sie erklangen von selbst: »Vorsehung, Schutzengel, Jesus Christus, Gott.« Ich versuchte nicht nachzudenken. Für Metaphysik war noch viel Zeit! Ich sog an der Quelle. und dann trank ich, noch und noch! Diesen himmlischen Fluß wollte ich nicht lassen! Ich erkannte ihn übrigens gut wieder. Er war bereits einmal zu mir gekommen, gleich nach meinem Unfall, als ich gemerkt hatte, dass ich blind war. Es war dasselbe, stets dasselbe: das Leben, das mein Leben schützte. Der Herr hatte Mitleid mit dem armen Kerl, den er hier so hilflos liegen sah. Es ist wahr: Ich konnte mir nicht selbst helfen. Niemand kann sich selbst helfen, ich wußte es jetzt. Die SS, all die, die die Macht besaßen, auch nicht. Das ließ mich lächeln.
Aber es gab da etwas, das an mir lag: die Hilfe des Herrn nicht zurückzuweisen. Diesen Hauch, mit dem er mich übergoß. Es war der einzige Kampf, den ich zu führen hatte – ein schwerer und wunderbarer Kampf zugleich. Ich durfte nicht zulassen, dass die Angst meinen Körper überfiel. Denn Angst tötet. Freude aber schenkt Leben.
Ich lebte langsam wieder auf. Und als eines Morgens einer meiner Nachbarn (ich erfuhr später, dass er Atheist war und glaubte, richtig zu handeln) mir ins Ohr brüllte, dass ich keinerlei Aussicht mehr habe, davonzukommen, und es besser sei, mich darauf vorzubereiten, lachte ich ihm als Antwort mitten ins Gesicht. Er verstand dieses Lachen nicht, doch er vergaß es niemals.
Am 8. Mai verließ ich das Revier auf meinen zwei Beinen. Ich war vom Fleisch gefallen, war verstört, aber ich war gesund. Ich war außerdem so glücklich, dass mir Buchenwald ein annehmbarer oder zumindest möglicher Ort schien. Wenn man mir kein Brot zu essen gab, würde ich mich von Hoffnung nähren.
So war es dann auch. Ich lebte noch elf Monate im Lager. Doch von diesen dreihundertdreißig Tagen äußerster Not habe ich heute nicht eine einzige schlechte Erinnerung zurückbehalten. Ich wurde von einer Hand getragen. Ich wurde von einer Schwinge beschützt. Man kann solche lebhaften Empfindungen nicht beim Namen nennen. Ich hatte es kaum nötig, an mich selbst zu denken. eine solche Sorge wäre mir lächerlich erschienen. Ich wusste, es war gefährlich und es war verboten. Ich konnte endlich den anderen helfen. Nicht immer, nicht viel, doch auf meine Weise konnte ich ihnen helfen.
Ich konnte ihnen zu zeigen versuchen, wie man am Leben bleibt. Ich barg in mir eine solche Fülle an Licht und Freude, dass davon auf sie überfloss. Seither stahl man mir weder mehr mein Brot noch meine Suppe, kein einziges Mal mehr. Man weckte mich oft bei Nacht und führte mich – manchmal recht weit – in einen anderen Block, damit ich einen anderen tröste
Fast alle vergaßen, dass ich Student war. Ich wurde »der blinde Franzose«. Für viele war ich sogar »der Mann, der nicht gestorben war«. Hunderte von Menschen wollten unbedingt mit mir sprechen. Sie sprachen mit mir französisch, russisch, deutsch, polnisch. Ich tat mein Bestes, um sie alle zu verstehen. So habe ich gelebt, so habe ich überlebt. Mehr vermag ich nicht zu sagen.
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