»O Welt,die ich suche, fühlst du nicht« – Emmy Hennings – Muse, Varieté- und Straßenkünstlerin – Eine Würdigung der Dichterin der Avantgarde
Rezitation: Christine Stauch
Musik: Udo Hemmann
Die Kulturmanagerin Christine Stauch stellt an diesem Nachmittag die Dichterin Emmy Hennings (1885–1948) vor. Obwohl sie mit ihren Gedichten, Romanen und Prosa Anfang des 20. Jahrhunderts große Aufmerksamkeit erreichte, schien Jahrzehnte später – bis in die Gegenwart – ihr Wirken als Dichterin vergessen. Mit vielen bekannten Dichtern der Avantgarde eng verbunden, wie mit Johannes R. Becher, Erich Mühsam, und Hugo Ball, ihrem späteren Ehemann, blieb sie in der Literaturgeschichte eher als deren Randfigur verortet.
Mit Gesang und Improvisation wird der Musiker Udo Hemmann „das Vielfache“ der Dichterin akustisch in Szene setzen.
Dem Namen des Salon „Musenbundt“ verbunden, werden auch an diesem Nachmittag in der Dichterstätte die Künste: Literatur, Musik und Bildende Kunst – im Bund zu erleben sein. Die derzeitige Ausstellung der HausART, mit dem Titel: „Beim Malen bin ich weggetreten“ präsentiert bunte, im Sinne künstlerisch vielseitige, Arbeiten, gestaltet von Schülerinnen und Schülern der Staatlichen Regelschule »Hainleite« Wolkramshausen und des Herdergymnasiums Nordhausen. Die Bilder entstanden in der Auseinandersetzung mit Gedichten der Lyrikerin Sarah Kirsch. Eines davon trägt den Titel: „In den Wellen“. Allein die ersten zwei Zeilen dieses Gedichts: „Das Meer so/Grün und so offen“ lassen einen weiten Raum in der Ausstellung ahnen, offen dafür, die Dichtung Emmy Hennings in Resonanz zu bringen.
Zum literarischen Programm
Jahrzehnte war die Künstlerin Emmy Hennings (1885–1948) auf ihr Wirken als Muse, als Cabaret‑, Varieté- und Straßenkünstlerin festgeschrieben, galt sie als Randfigur der künstlerischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Ihr künstlerischer Einfluß und ihr dichterisches Werk schien vergessen – es wurde verschwiegen.
In den Jahren 2015 und 2017 haben die Literaturwissenschafterinnen, Nicola Behrmann, in Zusammenarbeit mit Simone Sumpf und Christa Baumberger eine Gesamtausgabe ihrer Romane und Prosa in zwei Bänden veröffentlicht. In diesem Zusammenhang erschien im Jahr 2020 zudem eine umfängliche Ausgabe ihrer Gedichte.
Mit dieser umfassenden Werkausgabe ist es den Wissenschaftlerinnen gelungen Emmy Hennings als eine Dichterin der Avantgarde zu rehabilitieren, ihr nach so vielen Jahren des Vergessens als Dichterin der Moderne einen „angemessenen“ Platz in der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts einzuräumen. / “Geburt der Avantgarde – Emmy Hennings“
Diese Ausgaben und weitere Veröffentlichungen zu ihrem gesamten künstlerischen Wirken bilden die Grundlage des literarischen Programms.
An diesem Nachmittag werden neben einer Auswahl ihrer Gedichte, Auszüge aus ihren Romanen „Das Brandmal“ und das „Das ewige Lied“ vorgestellt, die wesentlich autobiografisch geprägt sind. Inhalte aus von ihr verfassten Briefen ergänzen das literarische Programm, mit dem Versuch das „Vielfache“ der Emmy Hennings als
Künstlerin auf die Bühne zu bringen, denn „Kunst und Leben, Erzählstimme und die Autorin selbst sind ununterscheidbar geworden“, so die Literaturwissenschaftlerin Nicola Behrmann./ “Emmy Hennings-Ball – ich bin so vielfach“
Der Titel des Veranstaltungsprogramms: „O Welt, die ich suche, fühlst du nicht“ entstammt dem Gedicht von Emmy Henning „Heimatloses Gesicht“, das voraussichtlich 1917 entstand und 1922 im Gedichtband „Helle Nacht“ veröffentlicht wurde.
Zur Autorin Emmy Hennings
Emmy Hennings, 1885 in Flensburg geboren, der Vater Werftarbeiter, die Mutter Schneiderin, wird später in ihren Erinnerungen aus der Kindheit über sich sagen: “Ich habe das große Glück gehabt, das Kind reicher Eltern zu sein, denn sie waren anspruchslos. … ein Erbgut, das ich vorzüglich habe brauchen können, … das die schönsten Zinsen trägt, nämlich Zufriedenheit, das Glück selbst.“ Und sie erwähnt darin weiter, dass sie sich als Kind in der Schule sträubte, gegen ein zu viel von Lernen müssen, weil es nach ihrem Gefühl „zu große Anforderungen an ihre Phantasie stellte“, begeisterte es sie doch vielmehr die Welt mit allen Sinnen zu entdecken. / „Blume und Flamme“
Ihre Hinwendung zum katholischen Glauben bringt sie mit Erlebnissen aus ihrer Kindheit in Verbindung, wie ihre Faszination für das Theater. Daß sie Schauspielerin werden wollte, wundert bei dieser Entwicklung kaum, scheiterte anfangs aber am Einspruch der Eltern.
Im Alter von 20 Jahren, im Jahr 1905, nutzt sie die Gelegenheit, sich einer Wandertheatergruppe anzuschließen. Dieser Schritt bot ihr nicht nur die Möglichkeit, endlich auf einer Bühne zu stehen, sondern auch ihrem inneren Anspruch nachzugeben, die festgefügte Ordnung dieses kleinbürgerlichen Lebens, mit den an sie gestellten Verpflichtungen, zu entfliehen, Nicht unbedeutend dürfte hierbei auch ihre gewachsene Reiselust gespielt haben.
Um sicher auch näher am Puls der Zeit zu sein, ihrer Lebenslust und ihrem allumfassenden Wunsch nach Hingabe Raum gebend, tingelt sie anschließend, ab 1907/08, als Diseuse, als Sängerin und Tänzerin durch Cafés und Bars, durch Cabarets und Varietés, die sich als moderne Vergnügungsorte um die Jahrhundertwende in den Großstädten etablieren.
In ganz Deutschland ist sie unterwegs, steht in Paris und Budapest auf Bühnen. Trotzdem besaß sie oft kaum Geld, waren Tage, da es ganz ausbleibt. Sie erfährt Zeiten, in denen sie sich als Hausiererin, als Animierkellnerin, als Prostituierte am Leben hält. Drogensucht und verschiedene andere Krankheiten belasten außerdem ihren unsteten Lebenswandel, bleiben existenzielle Grenzerfahrungen nicht aus, unwillig und zunehmend unfähig, sich einer Ordnung zu fügen.
1909 findet sie Zugang zur Berliner Literatenszene, wird vom Leben der Boheme ergriffen, entstehen Freundschaften zu Dichtern wie zu Erich Mühsam und zu Johannes R. Becher, die sich für sie häufig mit erotischen Beziehungen verbinden. Von der Dichterin Else Lasker Schüler wird sie anfangs heftig angefeindet, erweist sie sich in späterer Zeit als eine Freundin.
Zu einem heute eher unbekannten Dichter und Journalisten Ferdinand Hardekopf (1876–1954) entwickelt sich eine tiefere Bindung. In dieser Zeit – 1911 – wird ihr erstes Gedicht „Äther“ veröffentlicht. Noch im selben Jahr wechselt sie nach München, wird im Cabaret „Simplicissimus“ auf der Bühne stehen.
In München wird sie auch zum Katholizismus übertreten, lässt sie sich im Sommer 1911 in der Ludwigskirche taufen
Obwohl sie in den Kreisen der Boheme akzeptiert wird, erlebt sie sich auch in München als Außenseiterin, ist ihr Leben von existenzieller Not gezeichnet. Neben den Angeboten als Malermodell antwortet sie darauf wiederholt mit Prostitution und Drogenkonsum. Sie wird zwei Mal inhaftiert werden.
1914 lernt sie im Cabaret „Simplicissimus“ den Schriftsteller und Journalisten Hugo Ball kennen. Diese Begegnung (ihre Heirat im Jahr 1920) erlebt sie, nach Jahren sehnsuchtsvollen Suchens, als „Angenommene“ ihrer selbst.
1915 flüchten beide in die Schweiz – der zunehmenden Militarisierung in Deutschland zu entkommen, insbesondere die Einberufung Balls zu verhindern.1916 gründen Hennings und Ball in Zürich das Cabaret „Voltaire“. Die Aufführungen erregen mit ungewöhnlichen Ausdrucks- und Darbietungsformen Aufsehen. Später wird man diesen Ort zur Keimzelle der Dada-Bewegung erklären.
Noch im selben Jahr stirbt ihre Mutter in Flensburg, bei der ihre Tochter Annemarie heranwächst (*1906). Von nun an wird sie selbst für sie sorgen.
Anfang der 1920er Jahre erscheint ihr erster Roman „Das Gefängnis“, 1922 ihr zweiter Gedichtband „Helle Nacht“.
Nach dem Tod von Hugo Ball im Jahr 1927 bleibt sie in der Schweiz, wird mit Unterbrechungen zurückgezogen in einem Tessiner Dörfchen, Agnuzzo, wohnen und weiter schreiben, vor allem bemüht, das Gesamtwerk Ihres Mannes zu veröffentlichen. Sie unternimmt von dort aus mehrere Reisen nach Italien, unterhält enge freundschaftliche Beziehungen zum Dichter Hermann Hesse und seiner Frau Ninon.
Da das Geld aus Schreiben und Zimmervermietung nicht ausreichen, wird sie noch mehrmals umziehen müssen, sich in ihren letzten Lebensjahren den notwendigen Lebensunterhalt als Arbeiterin in einer Tabakfabrik, in einem Elastiquewerk und in einer Besenbinderei verdienen.
Verarmt und sehr geschwächt stirbt sie 1948 im Alter von 63 Jahren in Lugano. An der Seite ihres Mannes Hugo Ball wird sie auf dem Friedhof von Sant Abbondio beigesetzt.