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Ursula Schütt
Reihe »Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.
Das Haus meiner Kindheit wird nur durch die B 89 vom Flusslauf der Werra getrennt. Meine Großeltern waren Ziegenbauern, Ziegen, Hühner, Gänse und Kaninchen gehörten zu meinen Spielkameraden. Belrieth, ein über 1200 Jahre altes Kuhbauernnest, ist heute ein sauberes kleines Dorf mit gepflegten Häusern, zum Teil mit wieder freigelegtem Henneberger Fachwerk. Es liegt rechts und links der Werra, verbunden seit 1528 durch eine steinerne fünfbogige Brücke.
»Dass mich das Wasser noch immer spiegelt, kann ich begründen…« schrieb ich 2009 in einem Gedicht.
Ich weiß nicht, was meine Phantasie am meisten geprägt hat. Waren es das dörfliche Leben, der Wald, der Fluss mit dem Wehr an der Mühle, die Kirchenburg mit ihrer Wehrmauer und dem Friedhof dahinter oder doch die wenigen Bücher, die sich im Haus fanden? Grimms Märchen mit farbigen Illustrationen von Schwindt (was ich damals nicht wusste) auf eingeklebten Zigarettenbildern und ein Balladenbuch mit Holzschnitt-Illustrationen, die mich ganz gefangen nahmen, von denen ich aber nicht sagen kann, wer sie angefertigt hat. Die alte gotische Schrift, in der die Bücher gedruckt waren, konnte ich eher lesen als die Schulschrift. Die Balladen liebte ich sehr, nicht nur den Inhalt, sondern auch den Rhythmus. Ich las sie laut: »Und hurre hurre hopp hopp hopp gings fort in sausendem Galopp, dass Ross und Reiter schnoben und Stein und Funken stoben…« Oder: »Hinterm Berg, hinterm Berg brennt es in der Mühle…«
Eine Freundin wohnte im alten Schulhaus neben der Wehrkirche und dem Friedhof. Ihre Mutter, die für die Sauberkeit der Kirche sorgte, bewahrte den Schlüssel für den Kirchturm an einem Haken in der Küche. Diesen Schlüssel stiebitzten wir einmal und stiegen auf den Turm, aus dessen Schalllöchern wir bis Einhausen und zum Hexenberg im Westen, zur Bahnlinie und fast bis zum Hofteich im Süden, zur Bettelmannseiche, dem Krayenfelsen und Vachdorf im Osten schauen konnten, im Norden begrenzte der Kohlberg die Sicht. Und überall Felder, Wiesen und Wald. Wir sprachen kaum und ich empfand etwas, das ich damals nicht in Worte fassen konnte: Zur Poesie gehört Stille, das Lauschen auf den eigenen Atem, das Staunen.
Diese Stille hat sich Belrieth bewahrt. Es gibt keine großen Industrieanlagen und Viehställe, nur eine kleine Käserei. Mich befällt ein eigenartiges Gefühl, wenn ich durch das Tor mit dem gemauerten Tonnengewölbe in der äußeren Wehrmauer zur Kirche gehe in der inneren Umwehrung, die jetzt Friedhofsmauer ist, zu den wieder hergestellten und genutzten Kellergaden, zum Friedhof, der diesen Namen verdient wie kaum ein anderer, den ich besucht habe. Ich kann dieses Gefühl auch heute nicht benennen, es schmerzt wie Heimweh und tut gleichzeitig gut wie mildes Streicheln.
Belrieth und die das Dorf umgebende Landschaft sind mein erster poetischer Ort, je älter ich werde, um so deutlicher empfinde ich seinen Zauber. Ich wohne nicht mehr dort, es hat mich ein Stück weggetrieben. Nach Dietzhausen, einem Dorf in der Nähe von Suhl, in das ich mit meiner Mutter zog. Hier gab es eine Schulbibliothek. Ich habe in jeder freien Minute gelesen, »Die Spatzenelf« von Bruckner, »Galja, die Tänzerin« von Sizowa, alles, was mir in die Hände kam. Mich faszinierte, wie jemand mit Worten Menschen erschuf, die ich vor mir sah, Landschaften, die ich nie gesehen hatte und in denen ich mich trotzdem heimisch und zugehörig fühlte. Ich wollte das auch können, wollte Schriftstellerin werden, aber das behielt ich für mich. Ich ahnte, dass meine Eltern und meine Schulkameraden mich auslachen würden. Deshalb versteckte ich Geschichten, die ich schrieb und warf sie später weg. Ich hatte sie gefunden: die Poesie der Worte.
Im Sommer zum Beerensammeln ging ich meistens allein. Ich mochte den Lärm der anderen Kinder im Wald nicht, ich mochte seine Stille, die dennoch voller Geräusche war, das Rufen der Vögel, das Knacken von Holz, das Rascheln der Zweige, wenn der Wind sie bewegte, ich freute mich über Eichhörnchen, bestaunte ein Spinnennetz, das satte Rot der Himbeeren, die vielen verschiedenen Grüntöne von Büschen, Bäumen, Gras, die erdige Farbe der Pilze, die runden weichen Moospolster. Es roch gut im Wald nach Harz und warmem Holz und Erde. Auf den Lichtungen summten Bienen und Hummeln, Ameisen bauten riesige Nester. Ich war nie einsam. Meine Phantasie erweckte Sagengestalten zum Leben, verband sie mit Bücherhelden und dem mich umgebenden Wald. Wenn ich abends nach Hause kam mit einem Eimer voller Beeren, Pilze im Rucksack, einem Strauß aus Gräsern und Fingerhut, war auch das Poesie: die Freude meiner Mutter über die Beeren, das Gefühl, eine Aufgabe gut bewältigt zu haben, die Müdigkeit in den Gliedern und die Erinnerung an den duftenden Wald. Und abends im Bett ersann ich Geschichten, die ich niemandem erzählte.
Den Wald vermisste ich während der Studienzeit in Erfurt am meisten. Doch es gab anderes, das mich in Anspruch nahm. In den Literaturvorlesungen und ‑seminaren öffnete sich mir eine überbordende Welt aus Sprache. Mir wurde bewusst, was ich bisher nur geahnt hatte – wie vielfältig und wie schön Sprache ist, dass sie klingen kann wie Donner oder auch wie Musik. Ich empfand die Schönheit von Lyrik, die anders als meine geliebten Balladen ohne Dramatik auskam. Mich störte die Hast, in der wir alles lernen mussten. Lehrer wurden gebraucht, denn alle Kinder sollten jetzt mindestens 10 Jahre zur Schule gehen. Wir »Arbeiterstudenten« hatten dem Staat angeblich eine Schuld zurückzuzahlen – also verkürzte Studienzeit und 3 Jahre Fernstudium! Und gleichzeitig Unterricht in der Rhön, dann im Kreis Bad Langensalza und später auch wieder in Suhl und Dietzhausen. Da blieb kein Raum für Poesie. Drei Kinder, Arbeit als Lehrerin, Haushalt, ein Mann, der sich selbst durch Fernstudium und Schichtdienst knüppelte. Erst als die Kinder groß waren, fand ich hin und wieder Zeit, Gedichte und Geschichten zu schreiben – für die Schule, manchmal für mich, immer aber für den Papierkorb.
Nach der Wende hielt ich Gedichte von Rainer Kunze in den Händen. Ich entdeckte, dass Sprache durchsichtig machen kann. – Noch eine Schicht und noch eine Schicht … Als ich Rente, also Zeit, bekam, wieder den eigenen Atem spüren konnte, fand ich zurück an meinen Ort der Poesie – den Wald, Belrieth, fand zurück zur Stille, zum Staunen. Wenn ich heute eigene Texte vorlese, bin ich dankbar, dass es dem Sprecherzieher während des Studiums nicht gelungen ist, mir mein fränkisches Idiom auszutreiben, ich spreche Thüringer nach wie vor mit vier r und Wald (so behauptet jedenfalls mein Niederlausitzer Mann) mit zweien. Ja, auch diese »rollende« Sprache, das Fränkische, (Südthüringen gehörte bis zur Teilung Deutschlands zu Franken) ist mein Ort der Poesie, ich bin in ihr daheim, in ihr klingt, was mich zum Staunen und zum Schreiben bringt, die Thüringer Wälder, die Rhön, die Werra, Belrieth.
…
Ich will hausen
in meinen Worten immer
und immer die Namen sagen
von den Dingen
mit und ohne Gesicht
dass sie klingen
im Schweigen.
(2008 in einem Gedicht)
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