Nancy Hünger – »Versuche über die Müdigkeit«

Person

Nancy Hünger

Thema

Von Heimat zu Heimat

Autor

Nancy Hünger

Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Nancy Hün­ger

Ver­su­che über die Müdigkeit

 

Unglück­li­cher Weise können über die Mythen der Iden­ti­tä­ten nur Men­schen nach­den­ken, die auf sie nicht mehr ange­wie­sen sind. Georg Seeßlen

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Die bela­rus­si­sche Dich­te­rin Volha Hapey­eva, die nir­gends und inzwi­schen über­all zuhause ist, zuhause sein muss, diese pla­ne­ta­ri­sche Wohn­ge­stalt fragt sich, was auch wir gefragt wer­den. Spra­che könnte es sein, denkt sie. Das sag­ten bereits viele, das sage auch ich, wenn ich nicht wei­ter weiß, wenn man mich mit dem Begriff ein­kreist und mich nötigt, dann denke ich an die Exilant*innen, denke an ihre melan­cho­li­schen Zeug­nisse, an den Ver­lust ihrer ange­bo­re­nen Spra­che, die plötz­lich zum Sehn­suchts­to­pos wurde, nur wer­den konnte, weil sie absent war, weil wir geneigt sind, jene Dinge zu schät­zen, die sich durch Abwe­sen­heit uns­rem gewohn­ten Zugriff ent­zie­hen. Die Spra­che aber, stellt Volha Hapey­eva fest, ist eine zurich­tende, ist eine gewalt­tä­tige. Es besteht ein sta­tis­ti­scher Zusam­men­hang zwi­schen dem Grad der Aggres­sion in einer bestimm­ten Kul­tur und der Häu­fig­keit von ver­ur­tei­len­den Wor­ten und Aus­drü­cken, die in der Lite­ra­tur und Kunst ver­wen­det wer­den. Die Spra­che also, kann für uns Geburts- und Gewohnheitssprachler*innen nicht sein, was sie für die Exilant*innen bedeu­tete. Sie muss das Gegen­teil sein, muss uns fremd blei­ben, wir müs­sen die Fremde in der Spra­che her­stel­len, sie uns auf Distanz hal­ten, beson­ders, wo es um Rein­heits­ge­bote, um soge­nannte Pflege geht, müs­sen wir sie als fremd spre­chen und ver­ste­hen ler­nen. Die Spra­che ist die Fremde. Die Spra­che ist es nicht. Die Spra­che ist uns unheimlich.

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Indien und Paki­stan – »Line of Con­trol«

Ent­lang der 740 Kilo­me­ter lan­gen Grenze zwi­schen dem indi­schen und paki­sta­ni­schen Teil von Kasch­mir erstreckt sich ein bis zu drei Meter hoher Grenz­zaun – auch »Line of Con­trol« genannt. Die 550 Kilo­me­ter lange Grenz­an­lage besteht aus meter­ho­hen Sta­chel­draht­zäu­nen. Teile ste­hen unter Strom, sind mit Bewe­gungs­sen­so­ren, Wär­me­bild­ka­me­ras und Stol­per­dräh­ten aus­ge­rüs­tet. An eini­gen Stel­len sind Minen ver­gra­ben. Anfang 2014 gaben die indi­schen Grenz­behörden bekannt, dass sie die Anlage wei­ter aus­bauen wol­len. Ein 40 Meter brei­ter und 10 Meter tie­fer Gra­ben soll dazukommen. 

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Was hat­ten wir einst auf der ande­ren Seite, die nun dies­seits liegt, gesucht? Was hät­ten wir, gefragt nach die­sem Begriff, damit anzu­fan­gen gewusst? War es nicht, was wir flie­hen woll­ten, um selbst zu bestim­men, wo wir sess­haft sein, wo wir anlan­den woll­ten? Wuss­ten wir, selbst Schiff­brü­chige unter Schiff­brü­chi­gen, nicht um die Heim­tü­cke des Begriffs? Gab es nicht eine große Not, da plötz­lich fort­be­stehen sollte, was doch gera­de­wegs »hin­weg­ge­fegt« wurde? Litt nicht, was sich plötz­lich Frei­heit nannte, sogleich an einem klein­bür­ger­li­chen, natio­na­lis­ti­schen Revan­chis­mus, der im Aus­spruch Mia san mia sei­nen ulti­ma­ti­ven Aus­druck fand.

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Indien und Ban­gla­desch – »Null-Linie«

Es ist die längste Grenz­be­fes­ti­gung der Welt: Mit 4000 Kilo­me­tern Sta­chel­draht grenzt sich Indien von Ban­gla­desch ab. Die »Null-Linie« ist ein bis zu zwei Meter hoher, mit Stol­per­draht gesi­cher­ter Schutz­wall. Teile des Zauns las­sen sich unter Strom set­zen. Schät­zun­gen zufolge bewa­chen etwa 50.000 Sol­da­ten die Grenzanlage.

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Da gibt es nichts zu ret­ten, was für ein per­fi­der Trick, denke ich, bei­des mit­ein­an­der zu ver­klam­mern, dies und das. Wie per­fide. Als könnte die exis­ten­ti­elle Not der einen, das ras­sis­ti­sche Begehr der ande­ren, wenn schon nicht legi­ti­mie­ren, so zumin­dest ent­kräf­ten. Ein Taschen­spie­ler­trick. Ein­fach nichts zu retten.

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Ange­nehm ist es und beru­hi­gend, wenn Winde über wei­tem Meer das Was­ser auf­wüh­len, vom fes­ten Land aus zuzu­se­hen, wie ein ande­rer dort zu kämp­fen hat. Nicht das Lei­den ande­rer ist Quelle die­sen süßen Gefühls, erfreu­lich viel­mehr ist zu sehen, von wel­chem Unglück du selbst ver­schont bist. Lukrez / Über die Natur der Dinge

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Wer nichts ret­ten muss, der ist geret­tet, der sitzt bereits auf der behag­li­chen Scholle, ist am bes­ten blü­ten­weiß und deutsch, so wie ich, die ich hier gerade auf Deutsch-Bal­ko­nien sitze, wäh­rend die Sonne über dem grü­nen Band unter­geht, auch ein paar Vög­lein sind anwe­send, pit­to­resk geht es hier zu, in die­ser deut­schen Behag­lich­keit, die ich mir artig ange­bo­ren habe, das muss wohl ein Ver­dienst gehei­ßen sein, hier hin­ein­ge­bo­ren, gehört mir ja alles, kann ich den Besitz­stand aus­ru­fen und die Scholle annek­tie­ren, arisch wie ich bin, mit ein bissl pol­ni­scher Her­kunft, nicht der Rede wert, und die­ser dunk­len abge­stan­den Haut, die sich über die Ahnen­schaft legt, auch Stamm­baum genannt, wie Milch­haut, braune Milch­haut. Ich stelle mir eine alte Milchmut­ter vor, jahr­hun­der­talt, in einem dunk­len Kel­ler her­an­ge­züch­tet, die von Genera­tion zu Genera­tion wei­ter­ge­ge­ben, ver­erbt wird, ein zwei­fel­haf­ter Besitz­stand, diese Haut ist mitt­ler­weile so opak, dass sich die Her­kunft kaum noch ermit­teln lässt bzw. sich unter den Schich­ten brau­ner Milch­haut längst abge­löst hat. Wir haben uns abge­löst. Unsere Her­kunft ist gesetzt. Ist Gesetz.

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Den Kin­dern der Nation, die von Geburt an die wei­ter­hin uner­schüt­ter­li­che und alles beherr­schende staats­zen­trierte Per­spek­tive tei­len, erscheint der Staat als eine natür­li­che und nahezu ewige Enti­tät. Migra­tion ist dem­ge­gen­über als ein­zu­däm­mende Abnor­mi­tät, als zu besei­ti­gende Ano­ma­lie anzu­se­hen. Vom äußers­ten Rand aus erin­nert der Migrant den Staat an sein geschicht­li­ches Wer­den und Ver­ge­hen und bringt damit seine mythi­sche Rein­heit in Ver­ruf. Dona­tella Di Cesare / Phi­lo­so­phie der Migration

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Es gibt Begriffe die mich ermü­den, die eine Schwere aus­lö­sen, als würde mein Gehirn, eben noch sicher im Ner­ven­was­ser ruhend, plötz­lich ab- bzw. weg­sa­cken, sol­cher­art ver­sackt, ver­wei­gert es mir sto­isch das Den­ken. So ein Begriff ist das, ein Begriff der alle Reak­tio­nen bereits erah­nen, her­auf­däm­mern lässt, ein lee­rer Begriff ist das, weil kon­junk­tu­rell, grüßt er uns alle Jahre wie­der, wir win­ken, je nach­dem müde oder all zu eif­rig zurück und remi­xen alles noch ein­mal: die Pole­mi­ken, die Hym­nen, die Töne dazwi­schen, das Lied­gut, den Rap, die Chöre, der Geruch, die Liebs­ten, der Muschel­kalk, ach und hach, die Land­schaft, der Karst, jawoll. Kas­kade, um Kas­kade, alles noch ein­mal durch den poe­ti­schen Fleisch­wolf gedreht. Müde. Ich ermüde, ich bin des Begriffs müde. Ich mach die Äugeln zu. Jawoll!

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Nord­ir­land – »Peace Lines«

Durch das nord­iri­sche Bel­fast zieht sich eine bis zu sie­ben Meter hohe Mauer, die aus Zie­gel­stei­nen, Sta­chel­draht­zaun, Beton und auf­ge­setz­ten Git­tern besteht. Die Nord­iren spre­chen von der »Peace Line«. Die Mauer hat Durchgänge für Fuß­gän­ger und Tore für den Ver­kehr, die nachts geschlos­sen wer­den. »Peace Lines« wie diese gibt es viele in Nord­ir­land. Seit 1990 hat sich ihre Zahl von 18 auf heute 48 erhöht, die meis­ten ste­hen in Bel­fast und Lon­don­derry. Die Gesamtlänge aller »Peace Lines” beträgt über 34 Kilometer.

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Amne­sie ist unser kol­lek­ti­ves Schicksal.

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Die dis­kri­mi­nie­rende Geste bean­sprucht den jewei­li­gen Ort in aus­schließ­li­cher Weise für sich. Wer sie aus­führt erhebt sich als ein sou­ve­rä­nes Sub­jekt, das eine ver­meint­li­che Iden­ti­tät sei­ner selbst mit jenem Ort aus­spinnt und damit ver­bun­dene Eigen­tums­rechte ein­for­dert. Als besäße der Andere, der ihm gerade an die­sem Ort immer schon zuvor­ge­kom­men ist, kei­ner­lei Recht, ja als hätte es ihn über­haupt nie gege­ben. Dona­tella Di Cesare / Phi­lo­so­phie der Migration

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Ich habe einen hüb­schen Pass, dun­kel­rot ist er und gül­tig, so über­aus gül­tig, dass er mir die Gren­zen ersetzt, sie viel­mehr unsicht­bar wer­den lässt und ich mich wie eine poten­ti­elle Kos­mo­po­li­tin füh­len darf, die ich de jure bin, nichts muss ich ver­tei­di­gen, nichts muss ich erdul­den, ich kann frei grenz­wan­deln und sagen hier oder hier und auch hier bin ich zuhaus, wie es mir eben gefällt, nach Gusto, so zusa­gen, das ver­birgt mein Doku­ment. Von hier aus gibt es kein Spre­chen, kann es kein Spre­chen in Unschuld geben. Von hier aus gibt es nichts zu sagen, aber zu fra­gen alle­mal, von hier aus haben wir zuzu­hö­ren, haben unsere Mäu­ler zu hal­ten unsere Grif­fel im Zaum, alle samt.

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Seit­dem die Natio­nal­staa­ten den Pla­ne­ten unter sich auf­ge­teilt hat­ten, ent­stand zwi­schen der einen Grenze und der nächs­ten der »Aus­wurf der Mensch­heit«, den man unge­straft mit Füßen tre­ten darf und der unge­ach­tet des­sen nicht aufhört, umher zu wal­len und ste­tig wei­ter anzu­wach­sen. Der Aus­wurf ist das, was von der auf­ge­teil­ten Erde übrig bleibt. Dona­tella Di Cesare / Phi­lo­so­phie der Migration

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Ein Luxus: sich nicht zuge­hö­rig füh­len müs­sen, die Her­kunft ver­nei­nen zu kön­nen. Ich fühlte mich ein­mal zuge­hö­rig, damals, genau die­ses eine mal, als die Kanz­le­rin sagte: »Dann ist das nicht mein Land«, und ich dachte: Jawoll.

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Make Ame­rica great again.

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Wer A schreibt, muss auch Nation schrei­ben. Der Begriff ist nicht ohne Nation, ohne Geburts­un­recht, ohne Fik­tion zu haben. Der Begriff ist eine Natio­na­lis­mus a la mina­tur, ein rechts­kon­ser­va­ti­ver Regio­na­lis­mus, des­sen Kern­be­stand rein gar nichts, denn Folk­lore ist.

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Nichte ein­mal die Spra­che bil­det einen siche­ren Anker der Iden­ti­tät; denn die Spra­che ist immer schon die des Ande­ren, und spre­chen bedeu­tet nichts ande­res, als eine fort­ge­setzte Ent­äu­ße­rung und Ent­frem­dung. Dona­tella Di Cesare / Phi­lo­so­phie der Migration

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Das Her­kunft Zukunft sei, will ich nicht län­ger glau­ben. Ich habe die braune Milchmut­ter aus dem Kel­ler her­auf­stöh­nen hören. Ich schabe die Schich­ten ein­zeln ab, die Mut­ter- und Vater­schicht, ich kratze mich zu den Groß­el­tern hin­durch. Ich kratze mich durch den groß­el­ter­li­chen brau­nen Schorf, die Milch­haut ist opak, ist zäh, ich komme nicht wei­ter, wei­ter weiß nie­mand. Ich höre auf, wo meine Eltern ihren Anfang neh­men herrscht Krieg.

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Süd- und Nord­ko­rea – »Demi­li­ta­ri­sierte Zone«

An der 248 Kilo­me­ter lan­gen Grenze zwi­schen Nord- und Südko­rea verläuft ein hoch­ge­rüs­te­ter Zaun, gesi­chert mit Sta­chel­draht, Wach­tür­men, Schein­wer­fern und mehr als einer Mil­lio­nen Minen. Pan­zer­sperr­an­la­gen, Schüt­zen­grä­ben und Hoch­span­nungs­zäune bil­den zusätz­li­che Bar­rie­ren. Sie gilt als die am stärks­ten befes­tigte und bewachte Grenze der Welt. Zu bei­den Sei­ten der Grenz­an­lage befin­det sich eine jeweils zwei Kilo­me­ter breite »demi­li­ta­ri­sierte Zone«. Das Betre­ten die­ser Zone ist untersagt.

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Es war die­ses Foto, eine Ikone. Es war Alan, drei Jahre alt. Es war das Foto vom 3. Sep­tem­ber 2015. Wir erin­nern uns an das Rot, wir erin­nern uns kol­lek­tiv. War es das Rot, auf das die Kanz­le­rin reagierte, wie auf den Reak­tor­un­fall in Fuku­shima? Sie reagierte auf nie­man­den zuvor. Sie reagierte über­haupt nicht. Erst als die Ikone gebo­ren wurde. Ein Hei­li­gen­bild, das uns durch die schiere Unschuld alle erschüt­tern sollte, kurz­fris­tig zumin­dest. Es war Alan, auf den wir reagier­ten, wir reagier­ten auf nie­man­den zuvor. Seine Geschichte hat das Meer fort­ge­spült, Alan hat das Meer an Land gespült, aus­ge­spien, ver­sto­ßen. Wir dis­ku­tie­ren mitt­ler­weile über Pro und Con­tra der Men­schen­ret­tung auf See, haben Alan bereits ver­ges­sen, ein Junge der die Gren­zen mit sei­nem Leben öff­nete. Wir betrach­ten den Schiff­bruch als Zuschauer*innen und zer­bre­chen uns unsere hüb­schen Köpfe über die Halb­werts­zei­ten lee­rer Begriffe.

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Viel­leicht ist es ein letz­tes Auf­bäu­men, ein Auf­zit­tern, diese elende Begriffs­po­li­tik, ein letz­ter Ab- oder Ern­te­dank: Jahr­hun­derte brau­chen immer rund ein­ein­halb Deka­den, um zu ster­ben. Das 18. Jahr­hun­dert starb 1815 mit dem Wie­ner Kon­gress. Das 19. Jahr­hun­dert starb 1914 mit dem Welt­krieg. Das 20. Jahr­hun­dert war das Jahr­hun­dert des Natio­na­lis­mus und sei­ner bru­tals­ten Kon­se­quen­zen, schließ­lich der Leh­ren dar­aus bis hin zur Trans­for­ma­ti­ons­krise der Natio­nen. Wir schrei­ben das Jahr 2014. Diese Krise ist das Mes­ser im Rücken des 20. Jahr­hun­derts. Wer soll uns jetzt hin­dern, im 21. Jahr­hun­dert anzu­kom­men? Ich, stöhnt es aus dem Kel­ler­loch herauf.

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Wer die regio­nale Idylle durch­wan­dern will, muss auch das Stahl­bad durchwaten.

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Zypern – »Grüne Linie«

Auf Zypern trennt eine über 180 Kilo­me­ter lange Grenz­an­lage die Insel in zwei Hälf­ten. Die soge­nannte »Grüne Linie« besteht aus Mau­er­ab­schnit­ten, Sta­chel­draht­zäu­nen, Trüm­mern und Wach­tür­men. Bewacht wird sie von Tau­sen­den nord- und süd­zy­pri­schen Sol­da­ten. Die Grenze ver­läuft mit­ten durch die gemein­same Haupt­stadt Niko­sia, die seit dem Fall der Ber­li­ner Mauer die letzte geteilte Haupt­stadt der Welt ist. Bis heute wird sie zudem von UN-Trup­pen bewacht.

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Es ist nicht an mir dem Begriff zur Ehren­ret­tung ent­ge­gen zu eilen, ich bin die fal­sche, wir sind die fal­schen, wir sind fehl am Platz, mit unse­ren hüb­schen dun­kel­ro­ten Päs­sen, weil wir rich­tig sind all­über­all. Immer wer­den die fal­schen gefragt, die nicht dar­über urtei­len kön­nen, weil sie längst besit­zen, was der Begriff vor­gibt zu ver­spre­chen. Unheim­lich ist das oder ein Alp­traum oder beides.

 

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Israel und Gaza – »Sperr­an­lage um den Gaza­strei­fen«

Im Süden Isra­els ver­läuft eine 52 Kilo­me­ter lange Sperr­an­lage, die den gesam­ten Gaza­strei­fen bis zur ägyp­ti­schen Grenze umschließt. Sie ist lücken­los und kann nur an weni­gen Kon­troll­punk­ten pas­siert wer­den. Auf paläs­ti­ni­scher Seite befin­det sich eine bis zu 300 Meter breite Sicher­heits­zone, die nicht betre­ten wer­den darf. Trotz Grenz­an­la­gen und Bewa­chung gelingt es den Paläs­ti­nen­sern immer wie­der, Waf­fen und andere Güter durch ein selbst­ge­gra­be­nes Tun­nel­sys­tem in den Gaza­strei­fen zu bringen.

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Nach­dem die soge­nannte Mauer fiel bzw. porös genug wurde, dass auch wir hin­durch­pass­ten, reis­ten wir in den Wes­ten, schon als Kind schien mir an die­ser Reise etwas zwin­gend, wobei ich sicher nicht ver­stand, was es war, aber ich spürte die Auf­re­gung, die Ner­vo­si­tät, das Unent­rinn­bare. Wir reis­ten zur Ver­wandt­schaft, jene Ver­wandt­schaft die uns zu hohen Fei­er­ta­gen mit Pake­ten bedachte und uns mit Schmug­gel­ware ver­sorgte. Hei­ßer Scheiß, der sich unwe­sent­lich spä­ter als Rest­pos­ten, gar Müll, her­aus­stel­len, sollte. Wir fuh­ren in dem blauen Tra­bant mei­nes Groß­va­ters, wir waren zu fünft. Oma, Opa, meine Mut­ter, mein Vater und ich. Wir fuh­ren in das Gelobte Land, das mythen­um­wo­ben war und so fern, dass es sich ebenso gut auf einem ande­ren Kon­ti­nent hätte befin­den kön­nen. Afrika oder BRD, das war mir einer­lei, es machte für mich kei­nen Unter­schied. Wir über­quer­ten die Grenze bei Eisen­ach und ich erin­nere mich an meine Auf­re­gung, an meine Erwar­tungs­hal­tung. Ich war­tete ver­zwei­felt, auf die Unter­schiede, die Land­schaft müsse sich doch hin­ter der Grenze wan­deln. Es durfte nicht wahr sein, dass es drü­ben genauso aus­sah wie nüben. Die erste große Stadt war Bad Hers­feld, eine Ent­täu­schung. Ebenso wie die Ver­wandt­schaft, die uns schnell bedeu­tete, dass wir nur als Paket­emp­fän­ger taug­ten, aber kei­nes­wegs als Gäste. Die meis­ten von den emsi­gen Paketschicker*innen, die so gerne gekom­men wären, wenn sie nur gekonnt hät­ten, habe ich nie wie­der gese­hen. Rück­bli­ckend muss es diese absurde Erfah­rung gewe­sen sein, die­ser abso­lut unspek­ta­ku­läre Grenz­über­tritt, die gleich­för­mige Fort­dauer der Land­schaft, die mich an Gren­zen als Kind ver­zwei­feln ließ. Mit neun Jah­ren war das Prin­zip Grenze für mich passé.

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Marokko und West­sa­hara – »Berm«

Durch die West­sa­hara zieht sich ein über 2700 Kilo­me­ter lan­ger mit Stei­nen befes­tig­ter Sand­wall, der die Region in zwei Hälf­ten teilt. Im Ara­bi­schen wird der Sand­wall »Berm« genannt. Bis zu drei Meter ist er hoch, gesi­chert mit Sta­chel­draht, Grä­ben und Minen. An eini­gen Stel­len besteht er aus einer Stein­mauer. Teil­weise die­nen auch Berge als Hin­der­nis. Über die gesamte Grenze ver­tei­len sich Wach­pos­ten. Ins­ge­samt sind dort mehr als 150.000 marok­ka­ni­sche Sol­da­ten stationiert.

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So schreibt nur eine, die ohne sicht­bare Gren­zen auf­wach­sen konnte, so schreibt eine, die sich frei bewe­gen kann, eine, für die die meis­ten Gren­zen unsicht­bar sind. So schreibt eine, die sich gerne Euro­päe­rin nennt, um dem Teu­to­ni­schen zu flie­hen, dass ihr durch seine grau­same Geschichte (welch Iro­nie!) erst diese Frei­hei­ten ermög­licht. Und doch träume ich noch heute von einer Welt ohne Grenz­zie­hung. Europa wollte ich so ver­ste­hen, als eine Auf­lö­sung der Gren­zen. Unwie­der­bring­lich. Europa, was ist aus die­ser Idee gewor­den: Europa, vergattert.

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Israel und West­jor­dan­land – »Sperr­an­lage um das West­jor­dan­land«

Auf einer Länge von etwa 708 Kilo­me­tern erstreckt sich zwi­schen Israel und das West­jor­dan­land eine wei­tere israe­li­sche Sperr­an­lage. In den dich­ter besie­del­ten Gebie­ten sind unge­fähr 30 Kilo­me­ter durch eine bis zu neun Meter hohe Beton­mauer gesichert.

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Nein, hier ist nichts zu ret­ten, aber andere Begriffe tau­gen sehr wohl: Zuhause, Zuflucht, Gemein­schaft, Gast, Gast­freund­schaft. Das sind die Begriffe, um die wir zukünf­tig Sorge tra­gen, an denen sich unsere Fon­ta­nel­len flei­ßig rei­ben müs­sen. Auch Europa, das post­na­tio­nale Europa Robert Men­as­ses, die­ses Europa, das sich selbst ver­ra­ten hat und doch noch nicht ver­lo­ren ist, nur ver­schol­len auf dem Mittelmeer.

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Wie immer sind die offi­zi­el­len Zah­len eher zu nied­rig ange­setzt: min­des­tens 140 Men­schen wur­den getö­tet, wäh­rend sie auf die andere Seite der Mauer zu gelan­gen such­ten, es gab mehr als 5000 Flucht­ver­su­che, über 75.000 Fest­nah­men. Als Gip­fel des Aus­schlus­ses schien die Ber­li­ner Mauer zu jener Zeit alle Mau­ern der Ver­gan­gen­heit in sich zusam­men­zu­fas­sen. (…) Man kann sagen, dass die Bedeu­tung der Mauer miss­ver­stan­den wurde. Sie mar­kierte kein Ende, son­dern eher einen Anfang oder ein Anzei­chen, das Signal eines Über­gangs: von der Tren­nung zwi­schen Ost und West hin zu der­je­ni­gen von Nord und Süd. Nach dem Fall der Ber­li­ner Mauer begann das neue Jahr­tau­send als ein Zeit­al­ter der Mau­ern. Dona­tella Di Cesare / Phi­lo­so­phie der Migration

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Müss­ten wir ernst machen, müss­ten wir in den Mut­ter­leib zurück krie­chen, in die Ursuppe unse­rer Exis­tenz, müss­ten die aus­ge­sie­del­ten Land­stri­che zurück besie­deln. Wo ist der Ort mei­ner Her­kunft, muss ich nach Schle­sien, wie weit muss ich zurück, muss ich in das Dorf mei­ner Kind­heit, an den offe­nen Herd, die Milch erneut zu ver­schüt­ten, meine Arme ins Feuer zu stre­cken, müsste ich wie­der Kind sein und war ich nicht selbst schon als Kind ver­lo­ren, wie alle Kin­der ver­lo­ren sind. Weil der Ort unse­res Ursprungs immer schon ver­lo­ren war. Ver­lo­ren­heit ist der Ursprung. Nichts als eine Illu­sion. Eine Fik­tion. Denn der Ort ist nicht mehr. War nie gewe­sen. Und auch ich bin nicht mehr, die ich einst war. Ist das so schwer zu verstehen.

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Melilla und Ceuta

Um die bei­den spa­ni­schen Exkla­ven Ceuta und Melilla im Nor­den Marok­kos zie­hen sich jeweils rund zehn Kilo­me­ter lange Grenz­an­la­gen. Ein sechs Meter hoher Zaun umgibt die Küs­ten­städte, der in drei Rei­hen ange­ord­net ist. Teil­weise ist der Zaun mit dem soge­nann­ten Nato-Sta­chel­draht gesi­chert – Draht, der beim Ver­such, ihn zu über­win­den, beson­ders tiefe Wun­den hin­ter­lässt. Bewacht wird die Anlage von der Guar­dia Civil, einer para­mi­li­tä­risch aus­ge­rich­te­ten Poli­zei­ein­heit. Zusätz­lich ist der Zaun mit Infra­rot­ka­me­ras, Bewe­gungs- und Geräusch­mel­dern aus­ge­stat­tet.

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Wir erin­nern uns, wir rufen die Defi­ni­ti­ons­ho­heit an, die ursprüng­li­che, ver­steht sich. Wir sagen bes­ser­wis­se­risch das nicht die, beru­fen uns auf Recht und Gesetz. Doch da liegt bereits das ganze Ver­häng­nis. In die­sem ver­brief­ten Anrecht auf Besitz, gül­tig nur, für uns Kin­der der Natio­nen. Dort beginnt das Unheil, dort hört es nicht auf. Was so unschul­dig daher­kommt, legi­ti­miert sich durch Grund und Boden, durch Geburt und Ver­wur­ze­lung. Ist Abge­sand­ter der Kriege und des Hit­le­ris­mus. Ob das oder die, am Ende bedeu­tet es nur: »Jeder zu sich nach Hause!« Das ist der Urgrund der Tra­gö­die. Folk­lore hin, Gesetz her, spricht die Milchmutter.

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Welt­bür­ger aller Län­der, noch Eine Anstrengung! 
Jaques Der­rida

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Für wen schrei­ben wir hier, schrei­ben wir unser Gewis­sen rein, schrei­ben wir uns auf die rich­tige Seite. Über­zeu­gen wir die Über­zeug­ten oder Echauf­fie­ren wir die Echauf­fier­ten, fragt Robert Men­asse. Ich frage mich, ich frage Euch, ich frage Robert Men­asse. Er schweigt sich müde aus.

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Mexiko und Ver­ei­nigte Staa­ten – »Tor­tilla Wall«

»Tor­tilla Wall« nen­nen man­che Ame­ri­ka­ner abfäl­lig ihren Schutz­wall an der Grenze zu Mexiko. Genau 3141 Kilo­me­ter lang ist die ame­ri­ka­ni­sche Süd­grenze. Über 1126 Kilo­me­ter erstreckt sich die Anlage. Gesi­chert wird sie mit Video- und Infra­rot­ka­me­ras, Nacht­sicht­ge­rä­ten, Bewe­gungs­mel­dern, Flug­droh­nen und Wär­me­sen­so­ren im Boden. Teil­weise ist die Grenz­an­lage mit Sta­chel­draht, Beleuch­tungs­tür­men, meter­ho­hen Metall­wän­den, Stahl­pfos­ten und Fahr­zeug­bar­rie­ren befes­tigt. Von der unge­fähr 21.400 Poli­zis­ten umfas­sen­den United Sta­tes Bor­der Patrol bewa­chen rund 18.500 die Grenze zu Mexiko.

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Kürz­lich ging ein Zit­tern durch Europa, durch die­ses Europa, dass doch Ver­hei­ßung sein, ein nach­na­tio­na­ler Staat sein sollte, der die Gren­zen, unsere Idio­tie des Eigen­tums über­win­den lernt. Ein Labo­ra­to­rium, in dem neu, von Abstam­mung und Geburt los­ge­löste For­men der Bür­ger­schaft erprobt und der toxi­sche Mythos der Nation abge­streift wer­den sollte. Kürz­lich ging ein Zit­tern durch Europa, als sich alle Bin­nen-Gren­zen schlos­sen, auch für uns, als die Schran­ken nie­der­ge­las­sen und die Gat­ter hoch­ge­zo­gen wur­den. Für einen Moment war Europa sicht­bar, Europa wie es wirk­lich ist. Es ist nicht das Europa Robert Men­as­ses, es ist nicht das Europa, das mir träu­men sollte, als ich mit neun begriff, dass Gren­zen grau­same Fik­tio­nen sind, jenes Europa, zudem ich mich zuge­hö­rig füh­len wollte, das mir nur eine Sache der Zeit schien. Jenes, mitt­ler­weile müde Europa, dass die Men­schen­rechte ver­tritt und zugleich in unvor­stell­ba­rem Aus­maß gegen diese Rechte ver­stößt. Jenes Europa, dass nur den Kin­dern der Nation eine Zuflucht ist. Europa, von Zeus ver­ge­wal­tigt, im Mit­tel­meer ver­schol­len, noch immer.

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Es zeigt sich jene natio­na­lis­ti­sche Tie­fe­n­ader, die im abgrün­di­gen Hohl­raum, in den Ein­ge­wei­den Euro­pas nie zu pul­sie­ren auf­ge­hört hat. Dona­tella Di Cesare / Phi­lo­so­phie der Migration

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Wir win­ken vom Fest­land den Nar­ren­schif­fen. Sie ste­chen noch immer in See. Wir schauen zu und zer­bre­chen uns der­weil unsere hüb­schen Köpfe an Begrif­fen, viel lie­ber noch, als an der Wirk­lich­keit, an der alle Begriffe längst zer­bro­chen sind. Das ist ein Schiff­bruch mit Zuschauern.

Quel­len­an­gabe: https://www.faz.net/aktuell/politik/25-jahre-deutsche-einheit/mauern-dieser-welt-13179669.html

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