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Thema
Nancy Hünger
Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Nancy Hünger
Versuche über die Müdigkeit
Unglücklicher Weise können über die Mythen der Identitäten nur Menschen nachdenken, die auf sie nicht mehr angewiesen sind. Georg Seeßlen
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Die belarussische Dichterin Volha Hapeyeva, die nirgends und inzwischen überall zuhause ist, zuhause sein muss, diese planetarische Wohngestalt fragt sich, was auch wir gefragt werden. Sprache könnte es sein, denkt sie. Das sagten bereits viele, das sage auch ich, wenn ich nicht weiter weiß, wenn man mich mit dem Begriff einkreist und mich nötigt, dann denke ich an die Exilant*innen, denke an ihre melancholischen Zeugnisse, an den Verlust ihrer angeborenen Sprache, die plötzlich zum Sehnsuchtstopos wurde, nur werden konnte, weil sie absent war, weil wir geneigt sind, jene Dinge zu schätzen, die sich durch Abwesenheit unsrem gewohnten Zugriff entziehen. Die Sprache aber, stellt Volha Hapeyeva fest, ist eine zurichtende, ist eine gewalttätige. Es besteht ein statistischer Zusammenhang zwischen dem Grad der Aggression in einer bestimmten Kultur und der Häufigkeit von verurteilenden Worten und Ausdrücken, die in der Literatur und Kunst verwendet werden. Die Sprache also, kann für uns Geburts- und Gewohnheitssprachler*innen nicht sein, was sie für die Exilant*innen bedeutete. Sie muss das Gegenteil sein, muss uns fremd bleiben, wir müssen die Fremde in der Sprache herstellen, sie uns auf Distanz halten, besonders, wo es um Reinheitsgebote, um sogenannte Pflege geht, müssen wir sie als fremd sprechen und verstehen lernen. Die Sprache ist die Fremde. Die Sprache ist es nicht. Die Sprache ist uns unheimlich.
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Indien und Pakistan – »Line of Control«
Entlang der 740 Kilometer langen Grenze zwischen dem indischen und pakistanischen Teil von Kaschmir erstreckt sich ein bis zu drei Meter hoher Grenzzaun – auch »Line of Control« genannt. Die 550 Kilometer lange Grenzanlage besteht aus meterhohen Stacheldrahtzäunen. Teile stehen unter Strom, sind mit Bewegungssensoren, Wärmebildkameras und Stolperdrähten ausgerüstet. An einigen Stellen sind Minen vergraben. Anfang 2014 gaben die indischen Grenzbehörden bekannt, dass sie die Anlage weiter ausbauen wollen. Ein 40 Meter breiter und 10 Meter tiefer Graben soll dazukommen.
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Was hatten wir einst auf der anderen Seite, die nun diesseits liegt, gesucht? Was hätten wir, gefragt nach diesem Begriff, damit anzufangen gewusst? War es nicht, was wir fliehen wollten, um selbst zu bestimmen, wo wir sesshaft sein, wo wir anlanden wollten? Wussten wir, selbst Schiffbrüchige unter Schiffbrüchigen, nicht um die Heimtücke des Begriffs? Gab es nicht eine große Not, da plötzlich fortbestehen sollte, was doch geradewegs »hinweggefegt« wurde? Litt nicht, was sich plötzlich Freiheit nannte, sogleich an einem kleinbürgerlichen, nationalistischen Revanchismus, der im Ausspruch Mia san mia seinen ultimativen Ausdruck fand.
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Indien und Bangladesch – »Null-Linie«
Es ist die längste Grenzbefestigung der Welt: Mit 4000 Kilometern Stacheldraht grenzt sich Indien von Bangladesch ab. Die »Null-Linie« ist ein bis zu zwei Meter hoher, mit Stolperdraht gesicherter Schutzwall. Teile des Zauns lassen sich unter Strom setzen. Schätzungen zufolge bewachen etwa 50.000 Soldaten die Grenzanlage.
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Da gibt es nichts zu retten, was für ein perfider Trick, denke ich, beides miteinander zu verklammern, dies und das. Wie perfide. Als könnte die existentielle Not der einen, das rassistische Begehr der anderen, wenn schon nicht legitimieren, so zumindest entkräften. Ein Taschenspielertrick. Einfach nichts zu retten.
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Angenehm ist es und beruhigend, wenn Winde über weitem Meer das Wasser aufwühlen, vom festen Land aus zuzusehen, wie ein anderer dort zu kämpfen hat. Nicht das Leiden anderer ist Quelle diesen süßen Gefühls, erfreulich vielmehr ist zu sehen, von welchem Unglück du selbst verschont bist. Lukrez / Über die Natur der Dinge
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Wer nichts retten muss, der ist gerettet, der sitzt bereits auf der behaglichen Scholle, ist am besten blütenweiß und deutsch, so wie ich, die ich hier gerade auf Deutsch-Balkonien sitze, während die Sonne über dem grünen Band untergeht, auch ein paar Vöglein sind anwesend, pittoresk geht es hier zu, in dieser deutschen Behaglichkeit, die ich mir artig angeboren habe, das muss wohl ein Verdienst geheißen sein, hier hineingeboren, gehört mir ja alles, kann ich den Besitzstand ausrufen und die Scholle annektieren, arisch wie ich bin, mit ein bissl polnischer Herkunft, nicht der Rede wert, und dieser dunklen abgestanden Haut, die sich über die Ahnenschaft legt, auch Stammbaum genannt, wie Milchhaut, braune Milchhaut. Ich stelle mir eine alte Milchmutter vor, jahrhundertalt, in einem dunklen Keller herangezüchtet, die von Generation zu Generation weitergegeben, vererbt wird, ein zweifelhafter Besitzstand, diese Haut ist mittlerweile so opak, dass sich die Herkunft kaum noch ermitteln lässt bzw. sich unter den Schichten brauner Milchhaut längst abgelöst hat. Wir haben uns abgelöst. Unsere Herkunft ist gesetzt. Ist Gesetz.
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Den Kindern der Nation, die von Geburt an die weiterhin unerschütterliche und alles beherrschende staatszentrierte Perspektive teilen, erscheint der Staat als eine natürliche und nahezu ewige Entität. Migration ist demgegenüber als einzudämmende Abnormität, als zu beseitigende Anomalie anzusehen. Vom äußersten Rand aus erinnert der Migrant den Staat an sein geschichtliches Werden und Vergehen und bringt damit seine mythische Reinheit in Verruf. Donatella Di Cesare / Philosophie der Migration
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Es gibt Begriffe die mich ermüden, die eine Schwere auslösen, als würde mein Gehirn, eben noch sicher im Nervenwasser ruhend, plötzlich ab- bzw. wegsacken, solcherart versackt, verweigert es mir stoisch das Denken. So ein Begriff ist das, ein Begriff der alle Reaktionen bereits erahnen, heraufdämmern lässt, ein leerer Begriff ist das, weil konjunkturell, grüßt er uns alle Jahre wieder, wir winken, je nachdem müde oder all zu eifrig zurück und remixen alles noch einmal: die Polemiken, die Hymnen, die Töne dazwischen, das Liedgut, den Rap, die Chöre, der Geruch, die Liebsten, der Muschelkalk, ach und hach, die Landschaft, der Karst, jawoll. Kaskade, um Kaskade, alles noch einmal durch den poetischen Fleischwolf gedreht. Müde. Ich ermüde, ich bin des Begriffs müde. Ich mach die Äugeln zu. Jawoll!
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Nordirland – »Peace Lines«
Durch das nordirische Belfast zieht sich eine bis zu sieben Meter hohe Mauer, die aus Ziegelsteinen, Stacheldrahtzaun, Beton und aufgesetzten Gittern besteht. Die Nordiren sprechen von der »Peace Line«. Die Mauer hat Durchgänge für Fußgänger und Tore für den Verkehr, die nachts geschlossen werden. »Peace Lines« wie diese gibt es viele in Nordirland. Seit 1990 hat sich ihre Zahl von 18 auf heute 48 erhöht, die meisten stehen in Belfast und Londonderry. Die Gesamtlänge aller »Peace Lines” beträgt über 34 Kilometer.
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Amnesie ist unser kollektives Schicksal.
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Die diskriminierende Geste beansprucht den jeweiligen Ort in ausschließlicher Weise für sich. Wer sie ausführt erhebt sich als ein souveränes Subjekt, das eine vermeintliche Identität seiner selbst mit jenem Ort ausspinnt und damit verbundene Eigentumsrechte einfordert. Als besäße der Andere, der ihm gerade an diesem Ort immer schon zuvorgekommen ist, keinerlei Recht, ja als hätte es ihn überhaupt nie gegeben. Donatella Di Cesare / Philosophie der Migration
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Ich habe einen hübschen Pass, dunkelrot ist er und gültig, so überaus gültig, dass er mir die Grenzen ersetzt, sie vielmehr unsichtbar werden lässt und ich mich wie eine potentielle Kosmopolitin fühlen darf, die ich de jure bin, nichts muss ich verteidigen, nichts muss ich erdulden, ich kann frei grenzwandeln und sagen hier oder hier und auch hier bin ich zuhaus, wie es mir eben gefällt, nach Gusto, so zusagen, das verbirgt mein Dokument. Von hier aus gibt es kein Sprechen, kann es kein Sprechen in Unschuld geben. Von hier aus gibt es nichts zu sagen, aber zu fragen allemal, von hier aus haben wir zuzuhören, haben unsere Mäuler zu halten unsere Griffel im Zaum, alle samt.
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Seitdem die Nationalstaaten den Planeten unter sich aufgeteilt hatten, entstand zwischen der einen Grenze und der nächsten der »Auswurf der Menschheit«, den man ungestraft mit Füßen treten darf und der ungeachtet dessen nicht aufhört, umher zu wallen und stetig weiter anzuwachsen. Der Auswurf ist das, was von der aufgeteilten Erde übrig bleibt. Donatella Di Cesare / Philosophie der Migration
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Ein Luxus: sich nicht zugehörig fühlen müssen, die Herkunft verneinen zu können. Ich fühlte mich einmal zugehörig, damals, genau dieses eine mal, als die Kanzlerin sagte: »Dann ist das nicht mein Land«, und ich dachte: Jawoll.
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Make America great again.
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Wer A schreibt, muss auch Nation schreiben. Der Begriff ist nicht ohne Nation, ohne Geburtsunrecht, ohne Fiktion zu haben. Der Begriff ist eine Nationalismus a la minatur, ein rechtskonservativer Regionalismus, dessen Kernbestand rein gar nichts, denn Folklore ist.
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Nichte einmal die Sprache bildet einen sicheren Anker der Identität; denn die Sprache ist immer schon die des Anderen, und sprechen bedeutet nichts anderes, als eine fortgesetzte Entäußerung und Entfremdung. Donatella Di Cesare / Philosophie der Migration
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Das Herkunft Zukunft sei, will ich nicht länger glauben. Ich habe die braune Milchmutter aus dem Keller heraufstöhnen hören. Ich schabe die Schichten einzeln ab, die Mutter- und Vaterschicht, ich kratze mich zu den Großeltern hindurch. Ich kratze mich durch den großelterlichen braunen Schorf, die Milchhaut ist opak, ist zäh, ich komme nicht weiter, weiter weiß niemand. Ich höre auf, wo meine Eltern ihren Anfang nehmen herrscht Krieg.
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Süd- und Nordkorea – »Demilitarisierte Zone«
An der 248 Kilometer langen Grenze zwischen Nord- und Südkorea verläuft ein hochgerüsteter Zaun, gesichert mit Stacheldraht, Wachtürmen, Scheinwerfern und mehr als einer Millionen Minen. Panzersperranlagen, Schützengräben und Hochspannungszäune bilden zusätzliche Barrieren. Sie gilt als die am stärksten befestigte und bewachte Grenze der Welt. Zu beiden Seiten der Grenzanlage befindet sich eine jeweils zwei Kilometer breite »demilitarisierte Zone«. Das Betreten dieser Zone ist untersagt.
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Es war dieses Foto, eine Ikone. Es war Alan, drei Jahre alt. Es war das Foto vom 3. September 2015. Wir erinnern uns an das Rot, wir erinnern uns kollektiv. War es das Rot, auf das die Kanzlerin reagierte, wie auf den Reaktorunfall in Fukushima? Sie reagierte auf niemanden zuvor. Sie reagierte überhaupt nicht. Erst als die Ikone geboren wurde. Ein Heiligenbild, das uns durch die schiere Unschuld alle erschüttern sollte, kurzfristig zumindest. Es war Alan, auf den wir reagierten, wir reagierten auf niemanden zuvor. Seine Geschichte hat das Meer fortgespült, Alan hat das Meer an Land gespült, ausgespien, verstoßen. Wir diskutieren mittlerweile über Pro und Contra der Menschenrettung auf See, haben Alan bereits vergessen, ein Junge der die Grenzen mit seinem Leben öffnete. Wir betrachten den Schiffbruch als Zuschauer*innen und zerbrechen uns unsere hübschen Köpfe über die Halbwertszeiten leerer Begriffe.
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Vielleicht ist es ein letztes Aufbäumen, ein Aufzittern, diese elende Begriffspolitik, ein letzter Ab- oder Erntedank: Jahrhunderte brauchen immer rund eineinhalb Dekaden, um zu sterben. Das 18. Jahrhundert starb 1815 mit dem Wiener Kongress. Das 19. Jahrhundert starb 1914 mit dem Weltkrieg. Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert des Nationalismus und seiner brutalsten Konsequenzen, schließlich der Lehren daraus bis hin zur Transformationskrise der Nationen. Wir schreiben das Jahr 2014. Diese Krise ist das Messer im Rücken des 20. Jahrhunderts. Wer soll uns jetzt hindern, im 21. Jahrhundert anzukommen? Ich, stöhnt es aus dem Kellerloch herauf.
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Wer die regionale Idylle durchwandern will, muss auch das Stahlbad durchwaten.
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Zypern – »Grüne Linie«
Auf Zypern trennt eine über 180 Kilometer lange Grenzanlage die Insel in zwei Hälften. Die sogenannte »Grüne Linie« besteht aus Mauerabschnitten, Stacheldrahtzäunen, Trümmern und Wachtürmen. Bewacht wird sie von Tausenden nord- und südzyprischen Soldaten. Die Grenze verläuft mitten durch die gemeinsame Hauptstadt Nikosia, die seit dem Fall der Berliner Mauer die letzte geteilte Hauptstadt der Welt ist. Bis heute wird sie zudem von UN-Truppen bewacht.
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Es ist nicht an mir dem Begriff zur Ehrenrettung entgegen zu eilen, ich bin die falsche, wir sind die falschen, wir sind fehl am Platz, mit unseren hübschen dunkelroten Pässen, weil wir richtig sind allüberall. Immer werden die falschen gefragt, die nicht darüber urteilen können, weil sie längst besitzen, was der Begriff vorgibt zu versprechen. Unheimlich ist das oder ein Alptraum oder beides.
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Israel und Gaza – »Sperranlage um den Gazastreifen«
Im Süden Israels verläuft eine 52 Kilometer lange Sperranlage, die den gesamten Gazastreifen bis zur ägyptischen Grenze umschließt. Sie ist lückenlos und kann nur an wenigen Kontrollpunkten passiert werden. Auf palästinischer Seite befindet sich eine bis zu 300 Meter breite Sicherheitszone, die nicht betreten werden darf. Trotz Grenzanlagen und Bewachung gelingt es den Palästinensern immer wieder, Waffen und andere Güter durch ein selbstgegrabenes Tunnelsystem in den Gazastreifen zu bringen.
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Nachdem die sogenannte Mauer fiel bzw. porös genug wurde, dass auch wir hindurchpassten, reisten wir in den Westen, schon als Kind schien mir an dieser Reise etwas zwingend, wobei ich sicher nicht verstand, was es war, aber ich spürte die Aufregung, die Nervosität, das Unentrinnbare. Wir reisten zur Verwandtschaft, jene Verwandtschaft die uns zu hohen Feiertagen mit Paketen bedachte und uns mit Schmuggelware versorgte. Heißer Scheiß, der sich unwesentlich später als Restposten, gar Müll, herausstellen, sollte. Wir fuhren in dem blauen Trabant meines Großvaters, wir waren zu fünft. Oma, Opa, meine Mutter, mein Vater und ich. Wir fuhren in das Gelobte Land, das mythenumwoben war und so fern, dass es sich ebenso gut auf einem anderen Kontinent hätte befinden können. Afrika oder BRD, das war mir einerlei, es machte für mich keinen Unterschied. Wir überquerten die Grenze bei Eisenach und ich erinnere mich an meine Aufregung, an meine Erwartungshaltung. Ich wartete verzweifelt, auf die Unterschiede, die Landschaft müsse sich doch hinter der Grenze wandeln. Es durfte nicht wahr sein, dass es drüben genauso aussah wie nüben. Die erste große Stadt war Bad Hersfeld, eine Enttäuschung. Ebenso wie die Verwandtschaft, die uns schnell bedeutete, dass wir nur als Paketempfänger taugten, aber keineswegs als Gäste. Die meisten von den emsigen Paketschicker*innen, die so gerne gekommen wären, wenn sie nur gekonnt hätten, habe ich nie wieder gesehen. Rückblickend muss es diese absurde Erfahrung gewesen sein, dieser absolut unspektakuläre Grenzübertritt, die gleichförmige Fortdauer der Landschaft, die mich an Grenzen als Kind verzweifeln ließ. Mit neun Jahren war das Prinzip Grenze für mich passé.
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Marokko und Westsahara – »Berm«
Durch die Westsahara zieht sich ein über 2700 Kilometer langer mit Steinen befestigter Sandwall, der die Region in zwei Hälften teilt. Im Arabischen wird der Sandwall »Berm« genannt. Bis zu drei Meter ist er hoch, gesichert mit Stacheldraht, Gräben und Minen. An einigen Stellen besteht er aus einer Steinmauer. Teilweise dienen auch Berge als Hindernis. Über die gesamte Grenze verteilen sich Wachposten. Insgesamt sind dort mehr als 150.000 marokkanische Soldaten stationiert.
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So schreibt nur eine, die ohne sichtbare Grenzen aufwachsen konnte, so schreibt eine, die sich frei bewegen kann, eine, für die die meisten Grenzen unsichtbar sind. So schreibt eine, die sich gerne Europäerin nennt, um dem Teutonischen zu fliehen, dass ihr durch seine grausame Geschichte (welch Ironie!) erst diese Freiheiten ermöglicht. Und doch träume ich noch heute von einer Welt ohne Grenzziehung. Europa wollte ich so verstehen, als eine Auflösung der Grenzen. Unwiederbringlich. Europa, was ist aus dieser Idee geworden: Europa, vergattert.
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Israel und Westjordanland – »Sperranlage um das Westjordanland«
Auf einer Länge von etwa 708 Kilometern erstreckt sich zwischen Israel und das Westjordanland eine weitere israelische Sperranlage. In den dichter besiedelten Gebieten sind ungefähr 30 Kilometer durch eine bis zu neun Meter hohe Betonmauer gesichert.
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Nein, hier ist nichts zu retten, aber andere Begriffe taugen sehr wohl: Zuhause, Zuflucht, Gemeinschaft, Gast, Gastfreundschaft. Das sind die Begriffe, um die wir zukünftig Sorge tragen, an denen sich unsere Fontanellen fleißig reiben müssen. Auch Europa, das postnationale Europa Robert Menasses, dieses Europa, das sich selbst verraten hat und doch noch nicht verloren ist, nur verschollen auf dem Mittelmeer.
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Wie immer sind die offiziellen Zahlen eher zu niedrig angesetzt: mindestens 140 Menschen wurden getötet, während sie auf die andere Seite der Mauer zu gelangen suchten, es gab mehr als 5000 Fluchtversuche, über 75.000 Festnahmen. Als Gipfel des Ausschlusses schien die Berliner Mauer zu jener Zeit alle Mauern der Vergangenheit in sich zusammenzufassen. (…) Man kann sagen, dass die Bedeutung der Mauer missverstanden wurde. Sie markierte kein Ende, sondern eher einen Anfang oder ein Anzeichen, das Signal eines Übergangs: von der Trennung zwischen Ost und West hin zu derjenigen von Nord und Süd. Nach dem Fall der Berliner Mauer begann das neue Jahrtausend als ein Zeitalter der Mauern. Donatella Di Cesare / Philosophie der Migration
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Müssten wir ernst machen, müssten wir in den Mutterleib zurück kriechen, in die Ursuppe unserer Existenz, müssten die ausgesiedelten Landstriche zurück besiedeln. Wo ist der Ort meiner Herkunft, muss ich nach Schlesien, wie weit muss ich zurück, muss ich in das Dorf meiner Kindheit, an den offenen Herd, die Milch erneut zu verschütten, meine Arme ins Feuer zu strecken, müsste ich wieder Kind sein und war ich nicht selbst schon als Kind verloren, wie alle Kinder verloren sind. Weil der Ort unseres Ursprungs immer schon verloren war. Verlorenheit ist der Ursprung. Nichts als eine Illusion. Eine Fiktion. Denn der Ort ist nicht mehr. War nie gewesen. Und auch ich bin nicht mehr, die ich einst war. Ist das so schwer zu verstehen.
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Melilla und Ceuta
Um die beiden spanischen Exklaven Ceuta und Melilla im Norden Marokkos ziehen sich jeweils rund zehn Kilometer lange Grenzanlagen. Ein sechs Meter hoher Zaun umgibt die Küstenstädte, der in drei Reihen angeordnet ist. Teilweise ist der Zaun mit dem sogenannten Nato-Stacheldraht gesichert – Draht, der beim Versuch, ihn zu überwinden, besonders tiefe Wunden hinterlässt. Bewacht wird die Anlage von der Guardia Civil, einer paramilitärisch ausgerichteten Polizeieinheit. Zusätzlich ist der Zaun mit Infrarotkameras, Bewegungs- und Geräuschmeldern ausgestattet.
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Wir erinnern uns, wir rufen die Definitionshoheit an, die ursprüngliche, versteht sich. Wir sagen besserwisserisch das nicht die, berufen uns auf Recht und Gesetz. Doch da liegt bereits das ganze Verhängnis. In diesem verbrieften Anrecht auf Besitz, gültig nur, für uns Kinder der Nationen. Dort beginnt das Unheil, dort hört es nicht auf. Was so unschuldig daherkommt, legitimiert sich durch Grund und Boden, durch Geburt und Verwurzelung. Ist Abgesandter der Kriege und des Hitlerismus. Ob das oder die, am Ende bedeutet es nur: »Jeder zu sich nach Hause!« Das ist der Urgrund der Tragödie. Folklore hin, Gesetz her, spricht die Milchmutter.
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Weltbürger aller Länder, noch Eine Anstrengung!
Jaques Derrida
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Für wen schreiben wir hier, schreiben wir unser Gewissen rein, schreiben wir uns auf die richtige Seite. Überzeugen wir die Überzeugten oder Echauffieren wir die Echauffierten, fragt Robert Menasse. Ich frage mich, ich frage Euch, ich frage Robert Menasse. Er schweigt sich müde aus.
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Mexiko und Vereinigte Staaten – »Tortilla Wall«
»Tortilla Wall« nennen manche Amerikaner abfällig ihren Schutzwall an der Grenze zu Mexiko. Genau 3141 Kilometer lang ist die amerikanische Südgrenze. Über 1126 Kilometer erstreckt sich die Anlage. Gesichert wird sie mit Video- und Infrarotkameras, Nachtsichtgeräten, Bewegungsmeldern, Flugdrohnen und Wärmesensoren im Boden. Teilweise ist die Grenzanlage mit Stacheldraht, Beleuchtungstürmen, meterhohen Metallwänden, Stahlpfosten und Fahrzeugbarrieren befestigt. Von der ungefähr 21.400 Polizisten umfassenden United States Border Patrol bewachen rund 18.500 die Grenze zu Mexiko.
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Kürzlich ging ein Zittern durch Europa, durch dieses Europa, dass doch Verheißung sein, ein nachnationaler Staat sein sollte, der die Grenzen, unsere Idiotie des Eigentums überwinden lernt. Ein Laboratorium, in dem neu, von Abstammung und Geburt losgelöste Formen der Bürgerschaft erprobt und der toxische Mythos der Nation abgestreift werden sollte. Kürzlich ging ein Zittern durch Europa, als sich alle Binnen-Grenzen schlossen, auch für uns, als die Schranken niedergelassen und die Gatter hochgezogen wurden. Für einen Moment war Europa sichtbar, Europa wie es wirklich ist. Es ist nicht das Europa Robert Menasses, es ist nicht das Europa, das mir träumen sollte, als ich mit neun begriff, dass Grenzen grausame Fiktionen sind, jenes Europa, zudem ich mich zugehörig fühlen wollte, das mir nur eine Sache der Zeit schien. Jenes, mittlerweile müde Europa, dass die Menschenrechte vertritt und zugleich in unvorstellbarem Ausmaß gegen diese Rechte verstößt. Jenes Europa, dass nur den Kindern der Nation eine Zuflucht ist. Europa, von Zeus vergewaltigt, im Mittelmeer verschollen, noch immer.
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Es zeigt sich jene nationalistische Tiefenader, die im abgründigen Hohlraum, in den Eingeweiden Europas nie zu pulsieren aufgehört hat. Donatella Di Cesare / Philosophie der Migration
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Wir winken vom Festland den Narrenschiffen. Sie stechen noch immer in See. Wir schauen zu und zerbrechen uns derweil unsere hübschen Köpfe an Begriffen, viel lieber noch, als an der Wirklichkeit, an der alle Begriffe längst zerbrochen sind. Das ist ein Schiffbruch mit Zuschauern.
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