Personen
Ort
Thema
Dietmar Ebert
Alle Rechte beim Autor. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Nietzsche in der DDR?
Von Dietmar Ebert
Matthias Steinbach erzählt in seinem Buch kenntnisreich und unterhaltsam, wie in der DDR Nietzsches kritischer Geist zum Verstummen gebracht werden sollte.
Matthias Steinbach, seit 2007 Professor für Geschichte und Geschichtsdidaktik an der Technischen Universität Braunschweig, wurde 1966 in Jena geboren. Hier sind seine Wurzeln, hier hat er studiert, wurde mit seiner quellengesättigten Studie Des Königs Biograph. Alexander Cartellieri (1867–1955). Historiker zwischen Frankreich und Deutschland an der Friedrich-Schiller-Universität Jena promoviert und habilitierte sich dort mit seiner Arbeit Ökonomisten, Philanthropen, Humanitäre. Professorensozialismus in der akademischen Provinz. Gemeinsam mit Uwe Dathe hat er die Tagebücher Alexander Cartellieris 2014 im Münchner Oldenbourg Verlag herausgegeben.
Seine Forschungsthemen sind breit gefächert. Kenntnisreich und unterhaltsam spricht und schreibt er über Persönlichkeiten, die im 19. und 20. Jahrhundert gelebt und gewirkt haben. Die Doppelstadt Jena-Weimar und darüber hinaus der gesamte mitteldeutsche Raum haben immer im Fokus seines Forschungsinteresses gestanden. Für einen Historiker seiner Generation, der erlebt hatte, wie Nietzsche zu Beginn seines Studiums noch immer verfemt war und sich wenige Jahre später durch seine Werke ungeheure geistige Welten erschlossen, war es nur eine Frage der Zeit, um zu erkunden, warum Nietzsches Werke in der DDR bis zum Ende nicht erschienen sind. Mehrere Jahre hat der Historiker vor allem im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, im Goethe-Schiller-Archiv Weimar, in der Bundesbehörde zur Aufarbeitung der Unterlagen des MfS und anderen Archiven recherchiert, hat Zeitzeugen befragt und ist mit seinem Kollegen Michael Ploenus und seinen Studenten nach Röcken, Naumburg, Tautenburg, Schulpforta, Weimar und Jena gefahren. Sein Buch lebt von dieser Methodenkombination, und er scheut sich nicht, eigene Erinnerungen und Erfahrungen einfließen zu lassen. Leicht wäre es gewesen, die Einseitigkeiten marxistischer Philosophen wie Georg Lukács, die Engstirnigkeit und Hilflosigkeit von Kulturpolitikern wie Alexander Abusch und Kurt Hager zu beschreiben und zu verurteilen, ganz zu schweigen von den orthographischen Fehlern informeller und hauptamtlicher Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, die eben keine „Eckermanns“ waren, so dass aus dem Namen des iranischen Priesters und Philosophen Zarathustra, der Nietzsche zu seinem dichterisch-philosophischen Werk Also sprach Zarathustra inspirierte, schon einmal eine Frau namens Sarah Tustra wurde, die wohl auch einmal „Also“ gesagt hat. Matthias Steinbach geht es nicht um Verurteilungen ideologischer Plattitüden, sondern darum, selbst zu verstehen und seinen Lesern verständlich zu machen, welche Interessengruppierungen bestanden, wer welche Vorstöße unterstützte oder durchkreuzte und wie letztlich daraus kultur- und verlagspolitische Strategien oder Nicht-Strategien erwuchsen. Nur wenn wir verstehen, wie kulturhistorische Prozesse verliefen, können wir sie wirklich begreifen und vielleicht auch werten. Dieses Credo durchzieht Matthias Steinbachs Buch »Also sprach Sarah Tustra.« Nietzsches sozialistische Irrfahrten, das im September 2020 im Mitteldeutschen Verlag Halle erschienen ist.
Es ist eine Freude zu lesen, wie differenziert der Autor die Nietzsche-Rezeption im Osten Deutschlands nachgezeichnet hat. Nach 1945 galt Nietzsche ähnlich wie Richard Wagner als Wegbereiter des Nationalsozialismus. Dazu hatte Elisabeth Förster-Nietzsche beigetragen, als sie Benito Mussolini und später Adolf Hitler im Nietzsche-Archiv empfing und kurz vor ihrem Tode Hitler den Spazierstock ihres Bruders schenkte. Die Nazis nutzten Teile von Nietzsches Philosophie, um den „Übermenschen“ in ihre Ideologie zu integrieren.
Hatte es in der marxistisch intendierten Philosophie, Literatur und Kunst bis 1933 eine differenzierte Wertung von Nietzsches Philosophie, besonders bei Walter Benjamin und Ernst Bloch gegeben, so setzte sich nach 1945 Georg Lukács‘ Verdikt vom Wegbereiter des Faschismus, Irrationalisten und Zerstörer der Vernunft durch, das offiziell von Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl, Johannes R. Becher und Alexander Abusch übernommen wurde. Zumindest Becher, der in seiner Jugend stark von Nietzsche geprägt war und dessen expressionistische Gedichte vieles der Sprachgewalt Nietzsches zu verdanken hatten, mag einst über ein vorurteilsloses Nietzsche-Bild verfügt haben, ehe er sich im Moskauer Exil der Übermacht von Georg Lukács‘ Philosophie und Ästhetik beugte.
In den 1950er Jahren war es vor allem Ernst Bloch, der als Ordinarius an der Karl-Marx-Universität Leipzig seinen Studenten ein differenzierteres Bild des Philosophen Friedrich Nietzsche zu vermitteln suchte. Wolfgang Harich war bis zu seiner Verhaftung im November 1956 gemeinsam mit Ernst Bloch Herausgeber der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, war von Blochs brillanter Rhetorik fasziniert und vertrat ähnliche philosophische Positionen wie der Leipziger Ordinarius. Während seiner Haft distanzierte er sich – vermutlich erzwungenermaßen – von ihm. In den 1970er und 1980er Jahren wird er zum selbst ernannten Streiter gegen jede Veröffentlichung von Schriften und Gedichten Friedrich Nietzsches werden.
Steinbach arbeitet sehr genau heraus, dass obwohl Nietzsche in der kulturpolitischen Öffentlichkeit eine Persona non grata war, sich der Nachlass Friedrich Nietzsches spätestens seit 1950 in einem gut geordneten Zustand befand. Er war hoch über der Ilm im Weimarer Goethe-Schiller-Archiv für Besucher aus der BRD, der Schweiz, kurz für Nutzer aus dem westlichen Ausland einsehbar. Wenn man so will, gab es in Sachen Nietzsche-Nachlass eine Art „auswärtiger Kulturpolitik“, die sich von der ideologisch geprägten „Innenpolitik“ unterschied. Doch auch Ordinarien der DDR-Universitäten wurde die Nutzung von Teilen des Nietzsche-Nachlasses gestattet. Matthias Steinbach hat einen Brief des Jenaer Philosophie-Professors Georg Mende vom 19. März 1963 entdeckt, in dem er Archivdirektor Wolfgang Hahn darum bittet, sich 14 Tage in Weimar einquartieren zu dürfen, um in den „bisher sekretierten Beständen“ Studien zu treiben und der Wirkungsgeschichte von Nietzsches Philosophie nachzuspüren. Er bittet um einen separierten Arbeitsraum, weil er nicht arbeiten könne ohne zu rauchen. Das wurde ihm großzügig gewährt. Georg Mende hatte schon 1962 Erich F. Podachs Nietzsches Werke des Zusammenbruchs in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie rezensiert und 1965 im 8. Band des Uranania-Universums ein fiktives Gespräch zwischen Nietzsche und dem Arbeiterphilosophen Joseph Dietzgen veröffentlicht. Auch wenn Dietzgen als Vertreter der „historischen Wahrheit“ figuriert und Nietzsche als sich irrender Philosoph dargestellt wird, Georg Mende hat sich die Quellen angeschaut und nahm Nietzsche ernst.
Zu Beginn der 1960er Jahre begann mit Mazzino Montinari und Giorgio Colli eine Arbeit im Weimarer Nietzsche-Archiv, die sich über Jahre erstreckte. Beide waren Marxisten und bis zu einem gewissen Grade Sympathisanten der DDR. Colli und Montinari glaubten – so Steinbach- an Nietzsche als „einen Antifaschisten und Revolutionär, dessen ganzes Leben und Denken erst von seiner Schwester mit verheerenden Folgen verzeichnet und fehlgeleitet worden war.“ Durch Zerlegung des Willens zur Macht in dessen Einzelteile sollte Nietzsches Denken gleichsam „desinfiziert“ werden. Zunächst planten beide „nur“ eine italienische Nietzsche-Ausgabe. Je länger allerdings Montinari Friedrich Nietzsches Nachlass durchforstete, desto stärker wurde die Erkenntnis, dass es einer Kritischen Studienausgabe und letztlich einer Kritischen Gesamtausgabe der Werke Friedrich Nietzsches bedurfte, die vor allem in deutscher Sprache erscheinen musste. Montinari gelang es schließlich in Absprache mit Colli, den Westberliner Verlag de Gruyter und später die Europäische Verlagsanstalt für dieses ambitionierte Unternehmen zu gewinnen.
Mazzino Montinari hat mit seiner Quellenforschung und seinen Transkriptionsarbeiten eine wahre Herkulesarbeit geleistet. Er wurde sowohl vom Leiter der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten, Helmut Holtzhauer, als auch vom Archivdirektor Wolfgang Hahn in seiner Arbeit sehr unterstützt. Freilich fand sie hinter verschlossenen Türen statt. Öffentliche Vorträge waren selbst für Mitarbeiter der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten nicht vorgesehen. In Dossiers eines informellen Mitarbeiters wird Montinari als genauer, bescheidener Forscher beschrieben, der ständig die „Unita“ und das „Neue Deutschland“ liest und 1965 eine Fotolaborantin aus Weimar geheiratet hat.
Friedrich Nietzsche, 1869. Foto: Atelier Gebrüder Siebe, Leipzig.
Mit ihrer Kritischen Nietzsche-Ausgabe hatten Giorgio Colli und Mazzino Montinari erreicht, dass sie ab Mitte der 1970er Jahre zur Standard-Ausgabe in Westeuropa wurde und damit die internationale Nietzsche-Forschung vor neuen Herausforderungen stand. Das erhöhte auch das Renommee des Goethe-Schiller-Archivs, das den beiden Forschern, vor allem Montinari, sehr gute Arbeitsbedingungen gewährt hatte. Zugleich konnten die klügsten Köpfe unter den Philosophen der DRR erkennen, dass nun endlich auch für sie die Zeit gekommen war, um in eine internationale Debatte über Nietzsches Werke einzugreifen.
Zu ihnen gehörte neben Renate Reschke der Philosoph Friedrich Tomberg. Er war einer der Philosophen, der von der Studentenbewegung akzeptiert wurde, hatte sich mit Wolfgang Fritz Haug im Umkreis der Zeitschrift Das Argument für einen kritischen Marxismus eingesetzt und eine Professur an der Pädagogischen Hochschule in Berlin (West) inne.
Mitarbeiter der von Markus Wolf geleiteten Hauptabteilung Aufklärung hatten Kontakte zu dem kritischen Marxisten aufgenommen. Steinbach schreibt: „Substantielle Arbeit für die Behörde leistete Tomberg nie. Nur schien der eloquente Linkssympathisant Wolfs Männern für einen kulturpolitischen Neuanfang nach erhoffter Besetzung Westberlins interessant, etwa als ein vom Osten dirigierter Präsident der Freien Universität. Als der Doppelagent Werner Stiller Anfang 1979 in die Bundesrepublik floh und auspackte, stand Tomberg plötzlich auf einer Liste tatsächlicher wie mutmaßlicher Agenten und war nolens volens gefährdet. Die Bedrohung war durchaus real, und so landete er schließlich aus Angst und Hoffnung in der DDR.“ Mitten in der akademischen Provinz, denn er übernahm an der Friedrich-Schiller-Universität Jena einen Lehrstuhl für bürgerliche Philosophie. Das war für seine Kollegen, Assistenten und Studenten ein Glück. Mit uns Assistent*innen der Sektion Literatur- und Kunstwissenschaft übte er die Lektüre von Marxens Kapital ein und lehrte uns die Substanz bürgerlicher Kulturphilosophie zu erschließen, ohne gleich die ideologische Keule zu schwingen. Mit Friedrich Tomberg begann philosophisches Denken zum Vergnügen zu werden. Matthias Steinbach gelingt mit dem Kapitel über Friedrich Tombergs Wirken in Jena und seinen Einsatz für Friedrich Nietzsche ein besonders lebendiger Text, denn er hat den heute 88jährigen Philosophen interviewt. Tomberg kann sich noch sehr genau erinnern und zieht eigene, bislang unveröffentlichte Texte für seine Erinnerungen heran. Er erinnert sich, dass sein Lehrgebiet die gesamte spätbürgerliche Philosophie war, er aber in der Lehre besonders die Philosophie seit Schopenhauer bis zur aktuellen westlichen Philosophie vertreten habe. Dazu gehörte natürlich auch die Philosophie Friedrich Nietzsches. Zu Beginn der 1980er Jahre rief ihn die Cheflektorin des Leipziger Reclam-Verlags an und fragte ihn, ob er nicht ein Bändchen mit Nietzsche-Texten herausgeben wolle. Der Verlagschef, Hans Marquardt, hatte damals „grünes Licht“ gegeben. Ebenfalls im Reclam-Verlag sollte Renate Reschke, die sich an der Humboldt-Universität über Nietzsche habilitiert hatte, dessen Fröhliche Wissenschaft herausgeben. Tomberg entschied sich gegen eine „bunte Mischung“ und für die Unzeitgemäßen Betrachtungen. „Ich dachte“, so Friedrich Tomberg, „es sei am ehesten für die DDR tragbar, wenn der anfängliche Nietzsche vorgestellt würde – mit einer in sich zusammenhängenden Textsammlung, der seine ursprünglichen und zumindest untergründig fortlaufenden Intentionen klar entnommen werden konnten.“
Zunächst war das Projekt auf gutem Wege, allerdings gab es Probleme mit Tombergs Vorwort, die er durch eine Kompromiss-Formulierung aus der Welt schaffen wollte. Letztlich erschienen die Unzeitgemäßen Betrachtungen nicht. Ob Wolfgang Harich interveniert hatte oder ob das negative Verlagsgutachten des „Chef-Philosophen“ Manfred Buhr den Ausschlag gab, lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren. Friedrich Tombergs Verlagsprojekt bei Reclam scheiterte, sein Vorwort blieb ebenso in der Schublade wie ein Text über Nietzsches Geschichtsdenken, den er für das Jenaer Klassik-Seminar verfasst hatte.
Überschaut man die Literaturentwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts, so wird deutlich, dass Friedrich Nietzsches Sprachgewalt, seine Aphorismen und seine Lyrik die Literatur und Musik des 20. Jahrhunderts stark geprägt haben. Georg Trakl, Gottfried Benn, Johannes R. Becher, kurz der ganze Expressionismus, sind ohne die Sprengkraft von Nietzsches Sprache nicht zu denken. Die literarische, vielstimmige und aphoristische Art seines Denkens provozierte glühende Verehrung und radikale Ablehnung. Georg Lukacs‘ unterschied mit seinem Plädoyer für eine systematische Philosophie und einen Totalitätsbegriff in der Ästhetik zwei Richtungen in der Philosophie und Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts , die vernunftgeleitete und die zur Zerstörung der Vernunft führende, deren exemplarischer Vertreter für Lukács Nietzsche war. Walter Benjamins Aufnahme des Briefes von Franz Overbeck an Friedrich Nietzsche, geschrieben am Ostersonntag 1883, in seine Brief-Anthologie Deutsche Menschen (1936) wirkt wie eine indirekte Kritik an den Postulaten des ungarischen Philosophen. Auch Thomas Mann, den das Nicht-Eindeutige, das Schillernde und Aphoristische in Nietzsches dichterischer Philosophie faszinierte, hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass er Georg Lukács‘ Sicht auf Nietzsche für einseitig hielt. Das wusste natürlich ein so kluger Literaturwissenschaftler wie Eike Middel in Leipzig, der in Thomas Manns Nietzsche-Rezeption eine Möglichkeit sah, Nietzsches Werke für einen literaturwissenschaftlich-philosophischen Diskurs zu erschließen.
Im Bereich der Künste, speziell in der Literatur und im Film, hatte 1971 eine leichte „Tauwetterperiode“ eingesetzt, und Stephan Hermlin hatte bereits 1972 bei Honecker einen Vorstoß gewagt, um den Literaten Nietzsche vor dem Philosophen Nietzsche zu „retten“. Das scheiterte allerdings am Veto von Peter Hacks. 1976 nahm Hermlin Nietzsches Gedicht An den Mistral. Ein Tanzlied in sein Deutsches Lesebuch auf und platzierte es zwischen Briefe Fontanes und Gedichte aus Rainer Maria Rilkes Stundenbuch. Wenig später erschien im Hanser-Verlag eine Lizenz-Ausgabe, die von Chefkritiker Marcel Reich-Ranicki und dem Historiker Golo Mann ausgesprochen positiv aufgenommen wurde. In der DDR war es Wolfgang Harich, der sich gegen Hermlins Aufnahme des Nietzsche-Gedichts An den Mistral wandte. Ihm war vermutlich klar: Wenn sich einer der angesehensten Dichter der DDR, der zudem als Freund Erich Honeckers galt, für Nietzsches Dichtung einsetzte, dann hätte das zu einem Dammbruch führen können und weitere Werke von oder über Friedrich Nietzsche hätten in der DDR erscheinen können.
Matthias Steinbach stellt klar und präzise die Frage, warum in den 1980er Jahren, als sich die DDR für das Erbe Luthers, Friedrich II. und Otto von Bismarcks öffnete, kein Platz für Friedrich Nietzsches Werke in der Erbepolitik der SED war. Außer einer Faksimile-Ausgabe von Ecce homo, die Wolfgang Harich im Schaufenster der Brecht-Buchhandlung in der Chausseestraße entdeckte, einen Tobsuchtsanfall bekam und einen Volkspolizisten aufforderte, das Buch aus dem Schaufenster zu entfernen, ist kein weiteres Werk von ihm in der DDR erschienen. Steinbach weist anhand einer Vielzahl von Quellen nach, dass die Spur des Verhinderns immer wieder zu Wolfgang Harich führt. Ob es die geplanten Nietzsche-Ausgaben von Renate Reschke und Friedrich Tomberg, ob es die Briefe Wolfgang Harichs an Stephan Hermlin, ob es die gesamte Debatte in Sinn und Form in den Jahren 1986 bis 1988 oder die Behinderung von Heinz Malornys Buch Zur Philosophie Friedrich Nietzsches waren, das erst im Herbst 1989 völlig unbeachtet in die Buchhandlungen kam, immer war es Wolfgang Harich, der als selbst ernannter Zensor und kulturpolitischer Berater Nietzsches Schriften mit immer absurder werdenden Mitteln bekämpfte und letztlich ins Nichts verdammte, so wie es Brecht einst mit dem römischen Feldherrn Lukullus getan hatte. Woher kamen dieser Furor, diese radikale Ablehnung und diese Maßlosigkeit seiner Ausfälle gegen jedes Nietzsche-Zitat? Matthias Steinbach bringt eine Fülle von Beispielen, mit welchem Aufwand und taktischem Geschick Harich alle verunsichert hat, die sich für Nietzsches Schriften einsetzen wollten. Zumeist brachte er Kurt Hager, Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann und „Bücherminister“ Klaus Höpcke mit seinen Briefen in ausweglose „Zwickmühlen“. Die Folge waren fast immer rigidere kulturpolitische Sanktionen und ein Auf-Eis-Legen aller Projekte, die ein differenzierteres Nietzsche-Bild zum Ziel hatten. Anders verhielten sich die Schriftsteller. Stephan Hermlin nutzte das Forum des Schriftstellerkongresses 1987, um sich gegen Wolfgang Harichs Vorwürfe zur Wehr zu setzen, und selbst Verbandspräsident Hermann Kant warf Harich „Polpoterie“ vor. Also gerade zu der Zeit, zu der eine vorsichtige Öffnung in Sachen Nietzsche möglich gewesen wäre und Jürgen Teller im Kulturministerium für eine kleine museale Nietzsche-Gedenkstätte in Weimar warb, versuchte Harich alles in seinen Kräften Stehende, um das zu verhindern. Er spielte die „Angelegenheit Nietzsche“ nach und nach zum „Prüfstein“ aller Vernunft und jeglichen guten Willens hoch und machte letztlich „Nietzsches Denken über den Faschismus- und Imperialismusbezug hinaus zum neuralgischen Punkt für die Überlebensfrage der Menschheit im Atomzeitalter überhaupt.“ Friedrich Dieckmann hat Harichs Denken in einem Aufsatz in Sinn und Form 2/2020 Kairos-Verkennung attestiert. In der Tat scheint Harich die Zeichen der Zeit in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre nicht erkennen zu können. Friedrich Dieckmann, der schreibt, Harich als klugen Kopf geschätzt, aber nie mit ihm über Nietzsche gesprochen zu haben, erklärt sich dessen Haltung zu Nietzsche so, dass Harich während der Haftzeit zusammengebrochen sei und sich in einer Art vorauseilender Reue die Ansichten der ihn verhörenden Offiziere zu eigen gemacht und lebenslang vertreten habe. Zudem habe er in Nietzsches Denken das bekämpft, was ihn als jungen Mann fasziniert habe, ja, sein später Kampf gegen Nietzsche wirke wie der gegen sein jugendliches Alter Ego. Das heißt, liest man im Lichte Arthur Koestlers und Manes Sperbers Harichs wütende, absurde Angriffe auf Nietzsches Philosophie und Literatur, so wird Wolfgang Harich zum Zensor seines eigenen Denkens.
Doch jede Leserin und jeder Leser mag sich ein eigenes Bild formen und aus der Materialfülle schöpfen, die Matthias Steinbach in seinem Buch ausgebreitet hat. Dazu gehört, dass er nicht nur akademische, kultur- und verlagspolitische Debatten nachzeichnet, sondern auch durch Interviews und Gespräche auf Exkursionen recherchiert, wie Reiner Bohley sich am Katechetischen Oberseminar in Naumburg um Nietzsche bemühte, wie der Bibliotheksleiter in Schulpforta vorsichtig an den einstigen Schüler erinnerte und wie der Tautenburger Tischler Hahnemann 1978 von der Dornburger Bürgermeisterin und dem Vorsitzenden der Nationalen Front ein Schreiben bekam, in dem er aufgefordert wurde, die Tafel, die am Haus seines Großvaters an den berühmten Gast erinnerte, abzuschrauben. Er tat es, hob die Tafel gut auf und schraubte sie 1988 wieder an. Kairos-Erkennung hätte das Friedrich Dieckmann wohl genannt. Gerhard Schaumann, emeritierter Slawistik-Professor der Jenaer Universität und Nietzsche-Kenner hat Steinbachs Studenten viel über den Sommer 1882 erzählt, den Nietzsche mit Lou Salome in Tautenburg verbracht hat.
In einem besonderen Kapitel Nietzsche unter Röcken erzählt der Autor von den Besuchern an Nietzsches Grab in dessen Heimatort Röcken. Vieles konnten ihm die Pfarrer berichten, manches fand sich in den Akten. In den 1970er und 1980er Jahren trafen sich Nietzsche-Verehrer an Nietzsches Todestag, dem 25. August, der zugleich Erich Honeckers Geburtstag war, am Grab des Philosophen. Meist sprach Rolf Schilling, „vormals Dozent für Marxismus-Leninismus, dann Abweichler, Dissident, Parteifeind, literarischer Aussteiger [und] heute freier Schriftsteller“, der den real existierenden Sozialismus ebenso ablehnte wie die westliche bürgerliche Gesellschaft. IM Asker, ein Kinderbuchautor, berichtete ausführlich und nicht ohne Sympathie für Schilling von diesen Reden und Treffen, und Hauptmann Stürmer hatte seine liebe Not mit der Verschriftlichung der Tonbandprotokolle.
Die Pfarrer und die Kirchgemeinde in Röcken bemühten sich, den Verfall der Röckener Kirche aufzuhalten. Das Röckener Pfarrhaus als Geburtshaus Friedrich Nietzsches und die Grabstätte der Familie Nietzsche bekamen per Urkunde durch einen Beschluss des Rates des Kreises Weißenfels 1982 den Denkmalstatus zuerkannt. Vermutlich ein Beschluss im Windschatten der Berliner Kulturpolitik. Geld war damit nicht verbunden. Aber es war ein Lichtblick für den damaligen Röckener Pfarrer Kurt Stauss und für Rainer Bohley, der 1982 mit der Magdeburger Gemeinde eine streng überwachte Konferenz unter dem Titel Der missbrauchte Philosoph – Wiederentdeckung von Friedrich Nietzsche organisierte.
Es ist die Fülle des Materials, die Matthias Steinbachs Buch so anregend wirken lässt, es ist die Vielfalt der Methoden, die er kombiniert hat, und es ist vor allem die Spannung, die er erzeugt und der unterhaltsame, niemals belehrende Gestus seines Erzählens, die die Lektüre seines Buches zum Erlebnis werden lassen. Er lässt einen Teil der DDR-Kulturgeschichte als Feld sich überschneidender, teils durchkreuzender Interessen erstehen. Als Leser fühlt man sich in die Recherchen einbezogen und sagt sich am Ende: Was für ein absurder Aufwand, um einen vitalen Geist öffentlich zum Verstummen zu bringen, einen Geist, der doch immer lebendig bleiben wird!
›Literaturland Thüringen‹ ist eine gemeinsame Initiative von
Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen · Thüringer Literaturrat e. V. · MDR-Figaro · MDR Thüringen – Das Radio
Gestaltung und Umsetzung XPDT : Marken & Kommunikation © 2011-2025 [XPDT.DE]
© Thüringer Literaturrat e.V. [http://www.thueringer-literaturrat.de]
URL dieser Seite: [https://www.literaturland-thueringen.de/artikel/matthias-steinbach-also-sprach-sarah-tustra-nietzsches-sozialistische-irrfahrten/]