Personen
Ort
Thema
Roland Bärwinkel
Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.
Wiedergelesen von Roland Bärwinkel
Karl Linzen (1874–1939) gehört in eine Reihe jener Schriftsteller, die sich in ihren biographischen Essays von den Schreckensmomenten epochaler Umbrüche faszinieren ließen und zugleich ganz den Blick auf ihre Zeit und ihre Umgebung hielten, um Geschehnisse von welthaltiger Bedeutung wie in diesem Fall die Französische Revolution oder das Silberne Zeitalter Weimars einzufangen mit intensiven Farben, der hohen Kunst der Impression, der gewählten Mischung aus Fakt und Fiktion. Er wird dabei tief aus den Quellen geschöpft haben, die er auch in den Archiven und der heutigen Herzogin Ana Amalia Bibliothek vorfinden konnte. Begonnen hatte der in Weimar geborene, früh kunstbegeisterte Mann nach seiner Promotion als Rechtsanwalt. Neigung und Begabung gelten der Malerei, der Geschichte und der Welt der Literatur, der Existenz als Schriftsteller. So entstehen Novellen und Romane. Schließlich gibt er seine Tätigkeit als Anwalt auf und wird Berufsschriftsteller. Linzen ist ein Zeitzeuge gewaltiger Umwälzungen in Europa als auch in Weimar.
In dem Band Zug der Gestalten begegnen uns Paris und Weimar als zwei Zentren politischer Bestrebungen, als zwei bedeutende Städte der Malerei, der Literatur und der Musik. Widersprüchliche Gestalten sind die Handlungsträger, die die Bühnen der Geschichte betreten und dort ihre Blutspuren hinterlassen, deren Herkunft und Ideale psychologisch bis in die Verästelungen beschrieben werden. Das Individuum, das zum Subjekt der Geschichte wird. Linzens literarisch gestalteten Essays zu den Akteuren des Umsturzes in Frankreich und seiner Nachbeben, geben kraftvolle und lebendige Bilder und Eindrücke.
Goethe und seiner Familie gilt ein großes Interesse des Autors. Jene erschütternden wie faszinierenden Unwägbarkeiten des Lebens inspirieren diesen Schriftsteller. Da ist Goethes Schwiegertochter Ottilie von Goethe mit ihren beiden Söhnen. Sie hat noch enge Verbindungen zum Hof, zum Adel, auch zu Franz Grillparzer. Ihre zarten Versuche, Identitäten auszubilden. So stellt es uns Linzen in seiner Interpretation vor. Ihre Fluchtbewegungen, ihre Unrast, die Etappen durch Europa. Ruhelos bleiben, nicht sesshaft werden können. Ihre Armut, ihre Versuche, den Schein zu wahren, diese verlässliche Falle. Wie diese Angehörigen Goethes zu Lebzeiten Teil dieses künftig geöffneten Pantheons, Museums und Archivs am Frauenplan werden. Man kann den Niedergang dieser Familie, die unter der glänzenden Last des großen Namens dahinwelkte, studieren wie ein Trauerspiel, das müde abläuft, ohne große Geste.
Linzen findet eine geeignete Sprache für seine Texte, er kennt bis in die historischen Benennungen von Kleidungsstücken die Gegebenheiten, über die er schreibt. Die mit einem verbrieften Eigenleben in Szene gesetzten historischen Persönlichkeiten sind bis ins feinste ausdifferenziert und gestaltet, ihren Charakteren weist Linzen eine Mimik und Gestik, eine Gedankenwelt zu, die fasziniert und erschüttert. Wie er sie im inneren Monolog als auch im Sprechen und Schweigen agieren lässt, verdient Anerkennung, verdient Leser. Bis auf eine tragische Gestalt in Weimar zeigt er das Wirken von Personen, die ihrer Zeit während ihres Daseins ihren Stempel aufzudrücken vermochten, von Danton bis Liszt, den der Autor bewundert. Den Einfluss von Frauen in dieser von Männern dominierten Welt nimmt der Autor ausgesprochen ernst, in diesen Momenten gibt er ihnen etwas zurück, von dem die Nachwelt gerne schwieg.
Geschickt wählt Linzen Einstiege ins Geschehen, die aus dem persönlichen Erleben schöpfen. Etwa wie er als Weimarer Primaner seine erste Begegnung mit einer Person der Stadt oder etwa dem heutigen Neuen Museum hatte. Es sind Erinnerungen an die eigene Jugend. Ein Sittenbild des Alltags in wenigen Zeilen zu geben, kuriose Gestalten, Eigenbrödler, Charaktere dieser Stadt einzubinden, auch das kennzeichnet seine Texte. Kämpfe um Anerkennung, Einfluss, Auffassungen, auch in den Kulturinstituten der Stadt, in den Kreisen, in denen Entscheidungen reifen, die sehr stark von Gefühlen geleitet zu sein scheinen. Verpasste Gelegenheiten, ein Zögern, ein vorschnelles Handeln. Sie sind eingeschrieben, geschickt verwoben mit der Welt, in der sie agieren. Ein auch in dieser Hinsicht modernes Buch. Linzen stehen musische Begabungen deutlich näher als Spezialisten anderer Disziplinen. Liszt nennt er im Titel bereits Zauberer. Der Autor führt uns die gelegentlich wie Magie anmutende Fähigkeit Liszts als Komponist, Musiker und Lehrer vor Augen. Seine Ausstrahlung gebietet nach der Interpretation Linzens in Weimar bisweilen über Frauenreiche, er dominiert die Geschicke der Tonkunst wie die Potenzen der Hofkapelle. Liszt steht bei Linzen unangefochten als Nachfolger Goethes, was den Einfluss eines einzelnen Menschen auf das gesellschaftliche und künstlerische Leben in Weimar anbelangt. Einer denkwürdigen Epoche des 19. Jahrhunderts, sagt Linzen, der sich hier als Ilm-Chronist bezeichnet. Aber für den Autor steckt in den Großauftritten dieses Zauberers, sich selbst blendend vom Rausch der Macht, der Unterhaltung, des Zuspruchs, auch eine Gefahr. In all den Beifallsstürmen […] litt des Meisters zarte Gesundheit, verkümmerte sein innerstes Bestes: seine schöpferische Kraft. Linzen betrachtet den außerordentlichen Werdegang dieses frommen Mannes, das Schicksal einer großen Liebe zwischen einer Adligen und ihm. Man kennt diese Geschichte und kennt sie so doch nicht. Linzens Art des Schreibens, sagen wir sogar, ein Teil seiner Technik, besteht darin, ein Augenblicksbild einzufangen, den Schleier zu lüften von historisch aufgeladenen Tagen, von den Gefühls- und Denkwirrsalen seiner Figuren und ihrer Umstände. Diese nachvollziehbar zu machen im Spannungsfeld aus Historie und Historisierung als Leser, ist ihm ein Anliegen. Was eingestreut wird an Plätzen, Wegführungen und Verkehrsmitteln des 19. Jahrhunderts, was er sinnlich aufleuchten lässt aus Parkanlagen im Wechsel der Jahreszeiten, lohnt sich, zu lesen, denn dieser Autor ist auch ein Weggefährte, ein Stadtführer.
In der Geschichte von Karl Buchholz (1849–1889), dem Landschaftsmaler, schafft Linzen ein lebendiges Gemälde eines in und an Weimar scheiternden Künstlers, dem er als erstes in einem eindrucksvollen Bild während eines Besuches der ausgestellten Bilder Weimarer Maler im Neuen Museum begegnete. Der Beitrag führt uns vor Augen, mit welcher Fähigkeit zum Mitgefühl wie zur frühen Anerkennung dieser neuartigen und modernen Malerei ein Interesse gezeigt wird, das sich nicht abmindert. Buchholz entdeckte als Meisterschüler an der Weimarer Kunstschule für sich die Freilichtmalerei, die Landschaft um Weimar im Konkreten, in der Wirkung ihrer nicht durch ein Atelier abgetrennten mannigfaltigen Existenz. Dieser Maler bezahlte seine Materialienhändler, seinen Schuster und seinen Schneider auch mit Bildern. Karl Buchholz gehört zu jenen hochtalentierten Außenseitern, die, salopp gesprochen, keinen Fuß in die Tür kriegen. Weder bei den tonangebenden Kollegen der Zunft, abgesehen von Lovis Corinth, noch beim Publikum. Kein Einzelfall in Weimar. Ein anderer Blick auf die Welt im Kleinen und Großen, auf das Unantastbar scheinende, kann zuverlässig die alten und neuen Vorurteile und Tabus entfesseln. Die auch im Alltäglichen eher naturverbundene Art des Malers schaffte ihm gleichwohl eine gewisse Aufmerksamkeit in Damenkreisen. Die Fallhöhe, das Eigensinnige lösten einen Reiz aus. Letztendlich führten Nichtbeachtung und Zweifel am eigenen Können zu einer derartigen existentiellen Krise, dass er sich aus einem Fenster seines Hauses in Oberweimar zu Tode stürzte.
Im den Band beschließenden Text folgt der Leser der Kutschfahrt Goethes vom gescheiterten Feldzug zurück nach Weimar. In Augenblicken, mehrfachen Rückblicken und Vorausblicken zeigt sich ein wechselhaftes Bestreben Goethes nach Werten, Lebensmöglichkeiten, eine Art der kritischen Betrachtung, der Infragestellung seines Denkens und Handelns. Dies ist zeitraffend und zeitdehnend mit großer Anschaulichkeit in die zeitlichen und räumlichen Kontexte gesetzt.
Ein Reisebild von Dänemark, das über das geschichts- und geschichtenträchtige Augenmerk des Autors hinausführt, macht uns mit einer Leidenschaft des Autors bekannt. Finanziell abgesichert unternimmt er Auslands- und Studienreisen, die ihm neue Erkenntnisse, Eindrücke und Anregungen ermöglichen. In einer Art literarischer Reportage lässt er uns an seinen Eindrücken teilhaben, vermittelt er uns literarisch ambitioniert Informationen aus der Geschichte und der Sagenwelt, von Land und Leuten. Dabei zeigt er eine ausgeprägte Kenntnis der Kultur und der Volkskunde, des politischen Systems. Dies ist eine Reise in das weltliche wie geistige Dänemark, vertreten wird die literarische Welt durch Andersen, der sich in Weimar aufhielt und durch Klopstock, den der dänische König finanziell abzusichern half. Das Tivoli Kopenhagens, die Volksvergnügen, der elektrisch glitzernde Rummelplatz, Autofahrt und Eisenbahnzug, mit dem es durch den Zauber der Landschaften über Schweden zurück nach Hause geht. Das 20. Jahrhundert. Nordische Land- und Meerschaft, wählte der Autor als Titel. Ein Wortschöpfer ist er also auch gewesen. Aber auch ein heute vergessener Schriftsteller. Karl Linzen lesend entdecken? Aber ja!
›Literaturland Thüringen‹ ist eine gemeinsame Initiative von
Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen · Thüringer Literaturrat e. V. · MDR-Figaro · MDR Thüringen – Das Radio
Gestaltung und Umsetzung XPDT : Marken & Kommunikation © 2011-2025 [XPDT.DE]
© Thüringer Literaturrat e.V. [http://www.thueringer-literaturrat.de]
URL dieser Seite: [https://www.literaturland-thueringen.de/artikel/karl-linzen-zug-der-gestalten/]