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Sebastian Graf
Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.
Wiedergelesen von Sebastian Graf
Bloß nicht verstummen
Jorge Semprún legte mit »Die große Reise« im Jahre 1963 einen bemerkenswerten Debütroman vor, welcher wider den berühmten Gedanken Theodor W. Adornos ein Schreiben nach den Vernichtungslagern erprobte. Denn Semprún, der spanische Intellektuelle, der die meisten seiner Bücher in französischer Sprache verfasste, ist selbst Überlebender des nationalsozialistischen Terrors. Erst 16 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald – aus einer notwendigen historischen Distanz heraus – beginnt der Dichter seine Arbeit am Manuskript. Seine autobiografische Geschichte erzählt von der Deportation in eben jenes Lager auf dem Ettersberg nahe der Kulturstadt Weimar, einem Ort, der wie kein anderer Zeugenschaft über die unermesslichen Gegensätze der deutschen Historie ablegt. Semprún, dessen Vita entscheidend von den politischen Umbrüchen innerhalb Europas beeinflusst ist, wählt zur Bewältigung seines Stoffes niemals das dröhnende Pathos, welches sich aus dem Kontext seiner Zeit heraus der Demagogie verdächtig machen musste. An die Stelle der ausschmückenden, schwärmerischen Rede tritt ein auf das wesentliche reduziertes Sprechen, das oftmals nur ein Flüstern, ein Erproben des Noch-sprechen-Könnens ist. Bloß nicht verstummen im Angesicht der zahllosen Gräuel, ein moralischer Infinitiv, der stets im Subtext des Romans wirksam bleibt.
Den Rahmen der Geschichte bildet eine fünftägige Eisenbahnfahrt mit zunächst ungewissem Ausgang. Semprúns Ich-Erzähler findet sich zu Beginn des Buches, eingesperrt in einen Zugwaggon, inmitten einer zusammengepferchten Menschenmasse wieder. Da aufgrund des Verharrens im fahrenden Waggon über die Dauer der Erzählung keine Bewegung nach außen möglich ist, entwickelt sich die im Titel prominent angekündigte »große Reise« vorrangig zu einer Reise ins Innere und zu einer Expedition in die Tiefen der Erinnerung. Handlungen im klassischen Sinne finden nicht statt. Die Selbstbestimmung über das eigene Sein ist den Deportierten entzogen. Ihr Leben verwandelt sich in einen ungewissen Transitraum. Sämtliche Bezüge beginnen sich allmählich aufzulösen, zwischen Heimat und Fremde erstreckt sich ein als unabschließbar empfundener Leidensweg. Selbst das vom Protagonisten als Sehnsuchtsort beschworene nächtliche Moseltal löst sich sehenden Auges von der kargen Wirklichkeit des Waggoninnenraums ab. Die vorbeirauschende Landschaft dient nur noch als schmerzlicher Spiegel der eigenen Gefangenschaft und potenziert den enormen Abstand, der zwischen drinnen und draußen herrscht. Was bleibt, sind die bruchstückhaften Gespräche der Insassen untereinander, der »Junge aus Semur«, den Semprún als eine Figur einführt, an welcher sich die Erinnerungen entzünden. Ein fiktives Element der Erzählung, das nachdrücklich auf die Gemachtheit der Geschichte hinweist, wenngleich diese autobiografisch fundiert ist. In diesem Sinne sollte auch davon abgesehen werden, Semprún mit dem Ich-Erzähler zu identifizieren. Es wäre gleichermaßen unangebracht, den Roman des spanischen Schriftstellers schlichtweg als eine Anklage gegen die Schrecken der NS-Zeit zu betrachten. Vielmehr bildet die Literatur einen umfassenden Erlebnishorizont ab, sie lädt dazu ein, eine fremde Perspektive für die Dauer des Lesens zur eigenen Perspektive zu machen. Sie eröffnet damit einen Zugang zu den komplexen Zusammenhängen der Wahrnehmung und Empfindung, aber ermöglicht zugleich eine distanzierte Beurteilung. So nimmt es nicht wunder, dass auch dieses besondere Buch über die Internierung eines Exil-Spaniers in das Konzentrationslager Buchenwald auf eingängige künstlerische Stilmittel zurückgreift, um einen authentischen Erfahrungshorizont abzubilden.
Semprúns Beschreibungen schwanken häufig zwischen Zynismus und Ironie. Diese Stilmittel erlauben es, das Erlebte in Ansätzen handhabbar zu machen, es zu ordnen und aussprechbar zu machen. Sie entreißen die Geschehnisse einer fremden Deutungshoheit, suchen eine Wirklichkeit jenseits eindimensionaler Festlegungen. Semprúns unkonventionelle Erzählperspektive bewegt sich außerhalb einer unmittelbaren persönlichen Befangenheit. Erzählt wird aus einer historischen und menschlichen Distanz heraus, die wohl überhaupt erst als Ermöglichungsgrund dieser komplexen Aufarbeitung gelten darf. Es handelt sich um eine Aufarbeitung, die niemals moralisierend ausfällt, sondern den Fokus auf die präzise Darstellung der Erfahrungsstoffe legt. Erzählt wird ausschließlich »im Namen der Dinge, die geschehen sind«, im Namen der Verstorbenen, im Namen jener, die dem Vergessen anheimzufallen drohen.
Semprúns Roman scheint sich, wohl auch aufgrund seiner Thematik, gänzlich außerhalb der genormten Zeit zu bewegen. Er bemüht keinen stringenten Handlungsverlauf, sondern verschichtet immer wieder fragmentarische Einschübe und Assoziationen zu einem umfangreichen Gedankengewebe. Die Gegenwart steht mit der Vergangenheit als auch mit der Zukunft in ständiger Korrespondenz. Aus zahlreichen Gesprächen in der beklemmenden Raumnot des Waggons fallen plötzlich Schlaglichter auf den französischen Widerstandskampf, der für die Figuren des Romans mit der Inhaftierung sowie dem Verlust unzähliger Kameraden endet. Mit Beginn der Deportation, der »großen Reise«, verliert die Gegenwart dann endgültig ihre Wirklichkeit. Die Zeit selbst wird zusehends fremd, denn sie lässt sich aus der Warte der Gefangenen nicht kontrollieren, entzieht sich jedwedem Zugriff. Die Zeit ist vielmehr etwas, das ihnen zustößt. Sie drängt unentwegt auf das Ende zu, angeleitet von der erbarmungslosen Gründlichkeit gesichtsloser SS-Männer.
Worin aber liegt die Aktualität des Romans und weshalb sollte man ihn heutzutage (wieder) lesen?
Vermutlich leitet sich die Antwort auf diese Frage aus den Zerwürfnissen ab, die sich seit Jahren in der deutschen wie in der europäischen Gesellschaft abzeichnen. Semprún verweigert dort eine eindimensionale Antwort, wo Demagogen und Populisten mit vermeintlichen Patentlösungen auf Menschenfang gehen. Er stiftet dort Verbindungen, wo andere Grenzen markieren, Zäune und Mauern hochziehen. Jorge Semprún, der nach seiner Zeit im Konzentrationslager Buchenwald auch am Kampf gegen das Franco-Regime teilnimmt, erweist sich durch sein couragiertes Handeln wie auch durch sein literarisches Werk als ein bedeutender Europäer. Ein Europäer, der die Zerbrechlichkeit dieses grenzüberschreitenden Bündnisses am eigenen Leibe erfuhr, der seinen Status als Bürger verlor, sich als Staatenloser mit einer zweifachen Fremdheit konfrontiert sah. Durch den Ausbruch des spanischen Bürgerkrieges im Jahre 1936 ins Exil getrieben, fand sich Semprún in Frankreich eine neue Wahlheimat. Die schnelle Assimilierung konnte jedoch nie über die Tatsache hinwegtäuschen, dass ein Gefühl der innerlichen Fremde zurückblieb. So thematisiert der Roman gleichermaßen die Schwierigkeiten der Wiedereingliederung eines Mannes, der aus sämtlichen Ordnungen herausgefallen ist und vom Raster der Bürokratie nicht erfasst wird. Unter diesen Umständen zeigt sich, dass auch die ersehnte Heimkehr in einer zwiespältigen Perspektive gefangen ist. Was bleibt, ist das Sich-Einrichten in der Sprache, einer Sprache, die nicht die eigene ist, aber zweifelsohne zum Grundstein der gemeinsamen europäischen Kulturgeschichte gehört. Trotz seiner späteren »Heimkehr« in ein politisch wie gesellschaftlich grundlegend verändertes Spanien verfasst Semprún die meisten seiner Bücher auf Französisch. Es ist die Sprache des Widerstands, der unverkennbare Dialekt einer »großen Reise«, die für den Europäer Semprún das Leben bedeutet. Leben, um gegen das Vergessen anzuschreiben.
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