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Annerose Kirchner
Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.
Wiedergelesen von Annerose Kirchner
1937 beteiligt sich ein unbekannter Autor mit einem noch unveröffentlichten Roman-Manuskript am literarischen Preisausschreiben des »Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller im Exil«. Unter 80 eingesandten Texten wählt die Jury in Paris, der auch Anna Seghers angehört, dieses Manuskript zur Auszeichnung mit dem Heinrich-Heine-Preis aus. Der Roman heißt »Die Fischmanns« – die Geschichte einer ostjüdischen Familie aus Strody in Galizien und gleichzeitig eine eindrückliche Erinnerung an die versunkene Welt des Schtetls, die schon im 19. Jahrhundert durch Armut, Hoffnungslosigkeit, Pogrome und antisemitische Bürokratie bedroht war. Geschrieben hat ihn H. W. Katz (1906–1992), ein jüdischer Autor und Journalist (Redaktionsmitglied der liberalen Wochenzeitung »Welt am Montag«), der nach der Bücherverbrennung durch die Nazis 1933 nach Frankreich ins Exil flieht.
In Lyon untergetaucht, beginnt er 1934 mit dem Schreiben unter schwierigsten Bedingungen in einer windigen Dachkammer. »Ich verbrauchte jeden Franc, den ich besaß – und ich besaß wenige – für Kerzen, Schreibhefte und Bleistifte«, erinnert sich H. W. Katz, der eigentlich Herz Wolff heißt, Jahrzehnte später. Lion Feuchtwanger ermuntert den Debütanten zum Weiterschreiben und so entsteht im Exil 1933 bis 1937 die Fortsetzung der »Fischmanns« unter dem Titel »Schloßgasse 21. In einer kleinen deutschen Stadt«.
Der Heinrich-Heine-Preis hat maßgeblichen Anteil daran, dass »Die Fischmanns« 1938 erstmals in deutscher Sprache bei Allert de Lange veröffentlicht werden. Damit gehört H. W. Katz in die Runde bedeutender Autoren wie Bertolt Brecht, Ödön von Horvath, Alfred Polgar, Joseph Roth, B. Traven und Stefan Zweig dieses wichtigen Amsterdamer Exilverlages, der bis zur Auflösung durch die Nazis im Jahre 1940 besteht. Zeitgleich erscheinen »Die Fischmanns« auf Englisch bei Constable in London, Viking Press in New York und auf Polnisch bei Fruchtman in Warschau.
Die Reaktionen der Kritiker und Kollegen auf dieses Buch sind überwältigend. Der Schriftsteller Bruno Frank lobt »Die Fischmanns« als »ein aufregendes und unvergessliches Dokument. Jede kleine Einzelheit hat den Wert eines ewigen Symbols, jede der handelnden Figuren ist einzigartig und unverwechselbar«. Deshalb stellen andere Stimmen die Intensität der Schilderungen von Katz noch über die von Joseph Roth.
Der Roman beginnt in Strody am Flusse Stryj. »Alles in diesem Städtchen war gelblich und fleckig: der Tag, die Häuserwände, die Menschen«, erinnert sich der Ich-Erzähler Jakob Fischmann, der eindeutige Parallelen zu H. W. Katz aufweist und zu dessen Geburtsort Rudky südwestlich von Lemberg, heute Lviv/Ukraine. Dort ist die Erde besonders lehmhaltig. Auch der Fluss Stryj ist keine Erfindung Er entspringt in den ukrainischen Waldkarpaten, weitab von Rutky, und fließt vereint mit dem Dnister ins Schwarze Meer.
Mit dem Ich-Erzähler, der als Siebenjähriger Strody verlassen muss und fast alle Geschichten seinen Großeltern und Eltern ablauscht, taucht der Autor in einen jüdischen Mikrokosmos. Dieser ist vom bäuerlichen Leben mit den wöchentlichen Markttagen geprägt. Den Fischmanns geht es hier gut, sie sind nicht arm, der Großvater betreibt einen kleinen Gasthof und die Familie genießt ein hohes Ansehen. Hier wird mit genauem Blick das Leben von Sitten und Bräuchen bestimmt, die auf traditioneller jüdischer Religion beruhen, mitten im faszinierenden Völkergemisch der Ruthenen, Polen, Ukrainer, Deutschen, Ungarn und anderer kleinerer Ethnien. Hier wird keine Idylle beschrieben, zu stark sind die sozialen Gegensätze lange vor der Weltwirtschaftskrise, zu hart vor allem die stetige Verschlechterung der ökonomischen Situation für die jüdische Bevölkerung, zu unheilvoll der Antisemitismus unter den Nationalitäten und zu gefährlich Autoritäten wie der örtliche Gendarm.
H. W. Katz schildert eindrucksvoll die Menschen in ihrem einfachen Leben. Die Älteren wie Großmutter Malke, Großvater Leib und Jakobs Vater Jossel träumen davon, dass es ihren Kindern einmal besser gehen soll. Sie spüren »die Luft, draußen weht«, die sie in Welt zieht, nach Amerika, nach Deutschland. »Deutschland ist ein gebildetes Land!«, verteidigt Malke ihren Traum von Freiheit. »Da gibt es einen Herren von Lessing, der hat ein großes jüdisches Drama geschrieben!« Vater Jossel folgt dem Ruf in die Ferne, als Zwischendeckspassagier kommt er nach New York und will die Familie nachholen. Auch dieser Plan bleibt ein Traum, denn als 1914 der Erste Weltkrieg beginnt, kehrt Jossel zu seiner Familie nach Galizien zurück und wird Soldat. In dieser Zeit flieht Jakobs Mutter Lea mit den Kindern aus Angst vor den heranrückenden russischen Truppen gen Westen, bis nach Deutschland, in eine kleine Stadt in Sachsen. Dort wird sich die Familie wiederfinden.
Das ist dann die andere Geschichte, die in »Schlossgasse 21« weiter erzählt wird. Und die kleine Stadt in Sachsen könnte durchaus Gera in Thüringen sein. Denn dort erhält die Familie von H. W. Katz, 1914 aus dem galizischen Rudky in der Westukraine geflohen, ein neues Zuhause. Für H. W. Katz wird Gera zur Heimat mit prägenden Jahre, mit Schule und Bildung, beeinflusst durch sozialdemokratische Persönlichkeiten der örtlichen Heimvolkshochschule. Diese Jahre zeichnen den Weg vor, der H. W. Katz nach Berlin führt, wo er als Journalist und Reporter wirkt, bis die Nazis an die Macht kommen.
H. W. Katz überlagert in »Die Fischmanns« autobiographische Erlebnisse mit der Fiktion, lässt den Leser authentisch teilhaben am schicksalhaften Leben der Juden dreier Generationen in der Habsburgermonarchie vor und nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges.
Das exemplarische Leben des Autors ist wie das seiner Figuren geprägt von der Flucht, vom Exil. 1941 gelingt ihm mit Frau und Kind die Emigration in die USA. Der Großteil seiner Familie in Deutschland wird von den Nazis ermordet. Inmitten von Widrigkeiten, Umbrüchen und schweren Schicksalsschlägen sah sich H. W. Katz als »glücklicher Mensch. Die Welt der ›Fischmanns‹ war meine Schöpfung. Allem zum Trotz.«
Erst 1985 erschienen »Die Fischmanns« in der deutschen Fassung im Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main, Reihe »Verboten und verbrannt/Exil«. Ein Jahr später kam »Schloßgasse 21« in der gleichen Reihe heraus. Bis heute gibt es mehrere Ausgaben dieser Romane in verschiedenen Verlagen. Ein Zeichen dafür, dass diese einzigartigen literarischen Zeugnisse über Flucht und Vertreibung nicht vergessen sind.
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