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Jens-Fietje Dwars
Die Exkursion entstand im Rahmen eines Projekts der Literarischen Gesellschaft Thüringen e.V.
Von der Kirche gehen wir einen steilen Hang empor zum Waldrand, dort hat der Tautenburger Heimatverein eine »Nietzschebank« errichtet. Nietzsche selbst hat hier wohl kaum gesessen. Wozu auch? Er hätte die Aussicht nicht genießen können, denn er war extrem kurzsichtig und litt deshalb an Kopfschmerzen, die sich regelmäßig zur Migräne verstärkten.
Mit Lou ging er vielmehr in entlegene Waldregionen, auch um sie ungestört in seine tiefsten Zweifel einweihen zu können. An Paul Rée schrieb sie, es sei sonderbar, dass er jetzt täglich bis zu zehn Stunden mit ihr sprechen könne, ohne von Schmerz unterbrochen zu werden. Sie würden dabei an Abgründe geraten und wenn jemand sie belauschen würde, müsse er denken, »zwei Teufel unterhielten sich«.
Nietzsche teilt der Studentin mit, was seine »Fröhliche Wissenschaft« verkündet: dass Gott tot ist und wir seine Mörder sind. Durch die Aufklärung erklärt der Mensch die Welt aus sich selbst heraus – »Gott« wird überflüssig, die Annahme, er habe den Menschen und die Erde ins Zentrum der Welt gestellt gar als Unwahrheit erkannt. Damit aber »rollt der Mensch ins x«, wird zum bedeutungslosen Staubkorn in einem gleichgültigen Universum. Auch die Sozialordnung wird hinfällig: es gibt kein gottgewolltes Oben und Unten mehr. Sinnlosigkeit, Nihilismus ist das Produkt eines 2000jährigen Glaubens, einer Erziehung zur Wahrheit, die sich jede Lüge verbietet, also am Ende auch die Lüge »Gott«.
Das Tier handelt in den Grenzen seiner Instinkte, aber der Mensch hat sich über die Natur erhoben, er kennt keine Instinkte mehr, d.h. auch keinen Halt mehr in sich selbst. Er ist das haltlose, das maßlose, das nicht feststellbare Tier, das alle Grenzen überwindet – im Guten wie im Bösen. Der Mensch selbst ist ein Abgrund, ein zu allem fähiges Wesen. Und deshalb »etwas, das überwunden werden will« – durch den »Übermenschen«.
Über all dies werden sie gesprochen haben, auch über Nietzsches »tiefsten Gedanken«, der ihn seit Sils Maria umtreibt: den der ewigen Wiederkehr des Immergleichen. Während es »menschlich allzumenschlich« sei, dass der Mensch sich ständig eine Änderung der Welt und seiner selbst erwünscht und erhofft, dass er dafür zu einem »Gott« betet, fordert Nietzsche zu einem Gedankenexperiment auf. Wenn die Zeit unendlich und die Kombinationsmöglichkeiten der Materie endlich sind, dann muss sich irgendwann die genau gleiche Situation wiederholen und das bis in alle Ewigkeit. Für den Menschen, der sich den Fortschritt, die Veränderung zum Guten erhofft, ein unerträglicher Gedanke. Und für Nietzsche eben deshalb der Prüfstein, ob jemand zum »Übermenschen« taugt: Ob er jasagen kann zu eben dieser ewigen Wiederkehr.
Das ist Nietzsches Fassung des kategorischen Imperativs: Handle so, dass du es ertragen kannst, so und nicht anders zu handeln, bis in alle Ewigkeit. Denn Freiheit ist nicht, zu tun, was immer man will, sondern zu wollen, was immer man tut. Und so schreibt er Lou, sie möge sich zuletzt noch von ihrer Emanzipation emanzipieren. Denn man ist nicht frei von etwas, nicht in der Ablehnung und Opposition gegen andere, sondern wahrhaft frei nur für etwas: als Schöpfer und Befreier einer unverkennbar eigenen, durch sich selbst begründeten Lebensart.
Abb.: Ansichtskarte, um 1900.
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