Gerhard Tänzer – »Ach, Kyffhäuser«

Personen

Kristan von Luppin

Friedrich Rückert

Gerhard Tänzer

Orte

Nordhausen

Kelbra

Steinthaleben

Thema

Dichters Wort an Dichters Ort

Autor

Gerhard Tänzer

Thüringer Literaturrat e.V.

Vom Küchen­fens­ter der win­zi­gen Man­sarde am obe­ren Nord­häu­ser Stadt­rand, in der wir nach der Zer­stö­rung der Stadt im April 1945 Obdach gefun­den hat­ten, konn­ten wir, mein Bru­der, meine Mut­ter und ich, den Höhen­zug des Kyff­häu­ser sehen und bei kla­rer Sicht auch die Sil­hou­ette des Kyff­häu­ser­turms und die Rothen­burg rot in der Sonne. Meine Mut­ter erzählte uns, in einer Höhle des Ber­ges hause der Kai­ser Bar­ba­rossa, weil sein Reich unter­ge­gan­gen sei vor vie­len Jah­ren. Dass das deut­sche Reich unter­ge­gan­gen war, wuss­ten auch mein klei­ner Bru­der und ich, wir brauch­ten nur ein paar Schritte wei­ter­zu­ge­hen bis zu den Trüm­mern. Groß­mutter, die nach den Bom­ben­an­grif­fen in dem Dorf Herin­gen bei einem Bau­ern unter­ge­kom­men war, konnte uns zu dem Kai­ser Bar­ba­rossa sogar ein Gedicht vor­tra­gen. In dem saß der Kai­ser in einer Höhle auf einem Elfen­bein­stuhl, und sein Bart war durch den mar­mor­nen Tisch gewach­sen. Der Kai­ser schlafe und träume vor sich hin, aber ab und an schi­cke er einen Kna­ben hin­aus, der solle ihm sagen, ob die Raben noch um den Berg flö­gen. Und wenn sie das täten, müsse er wie­derum hun­dert Jahre schla­fen, und mit ihm des Rei­ches Herrlichkeit.

Die Raben in Fried­rich Rück­erts Gedicht aus dem Jahr 1817 erklärte Leh­re­rin Wer­ner ein paar Jahre spä­ter ihren Schü­lern als die deut­schen Fürs­ten, die nach dem Nie­der­gang des deut­schen Rei­ches des­sen Län­de­reien an sich geris­sen hät­ten und sich unab­läs­sig um sie strit­ten. An einem Früh­som­mer­tag setzte sie sich mit uns in den Bum­mel­zug, und von der Sta­tion Berga mar­schier­ten wir auf der Land­straße nach Kel­bra. Dort schlu­gen wir den Feld­weg zum Kyff­häu­ser­ge­birge ein, hoch vor uns auf einer Berg­kuppe die Rothen­burg. Am Weg­rand lagen grau­röt­li­che, leicht glit­zernde Baum­stämme, die waren ver­stei­nert. Vor Jahr­mil­lio­nen habe hier ein Wüs­ten­klima geherrscht, erklärte die Leh­re­rin. Und Perl­mutt fan­den wir auch, hier war auch ein­mal ein Meer gewe­sen. Der Pfad steil berg­auf führte uns hin­ein in die Ruine der Burg. Ein Turm aus neue­rer Zeit, ein dicker Berg­fried, ein schma­les spitz­bo­gi­ges Ein­tritts­tor, die schö­nen Wände des Palas. Der Sand­stein so rot, wie ich ihn vom Küchen­fens­ter unse­rer Man­sarde gese­hen hatte. Wir blick­ten zu der Hei­mat­stadt in der Ferne. In der Tiefe brei­te­ten sich die noch grü­nen Korn­fel­der des Hel­me­tals aus, und Fräu­lein Wer­ner erzählte, der Graf von Rothen­burg habe, in der Zeit der Kreuz­züge, gesagt: »Ich lasse jedem das Gelobte Land und lobe mir dafür meine Gol­dene Aue.«

Am Kyff­häu­ser­denk­mal saß der Kai­ser Fried­rich Bar­ba­rossa in einem Gewölbe auf einer Bank, ein gewal­ti­ger alter Mann mit lang­sträh­ni­gem Bart bis zu den Knien und einer Krone auf dem Haupt. Mit der Rech­ten umfasste er ein Schwert, er hatte Krieg geführt gegen die unge­hor­sa­men ober­ita­lie­ni­schen Städte und gegen den unge­hor­sa­men Hein­rich den Löwen, der hin­wie­derum die Königs­sied­lung Nord­hau­sen in Schutt und Asche gelegt hatte. Über dem Gewölbe erhob sich der Turm, und an dem saß, auf einem Sockel, Kai­ser Wil­helm I. hoch zu Ross, mit Backen­bart und mit einem Sol­da­ten­helm auf dem Haupt. Des­sen Kanz­ler hatte das zer­fal­lene deut­sche Reich wie­der­errich­tet im Jahr 1871 nach einem Krieg gegen Frank­reich. Fräu­lein Wer­ner ließ es damit bewen­den. Wir war­fen Stein­chen in den Burg­brun­nen und zähl­ten die Sekun­den, bis wir den Auf­schlag hör­ten, setz­ten uns auf die Denk­mal­s­treppe und hol­ten unsere Früh­stücks­brote her­vor, und in der Gast­stätte gab es Spru­del­was­ser zu kau­fen. Dann erklom­men wir die über zwei­hun­dert Stu­fen des Turms. Die Gol­dene Aue lag unter uns in der Sonne, gegen­über die dunk­len Wäl­der der Harz­berge. Über uns am Him­mel erglänz­ten immer wie­der von neuem silb­rige Flug­zeuge. Die flo­gen nach West­ber­lin, dem hatte die rus­si­sche Besat­zungs­macht im Streit mit den west­li­chen Besat­zungs­mäch­ten die Zufahrts­wege ver­sperrt. Dar­über ver­lor Fräu­lein Wer­ner kein Wort. Auf dem Rück­weg zur Bahn­sta­tion fie­len wir am Fuße des Ber­ges in eine Kir­schen­plan­tage ein. Da mochte die sonst so strenge Leh­re­rin nicht schel­ten noch drohen.

Mein Lebens­weg führte mich dann, da die Uni­ver­si­tät Jena kei­nen Stu­di­en­platz für mich zu haben meinte, an die Uni­ver­si­tät Göt­tin­gen, ohne­hin die mei­ner Hei­mat­stadt nächst­ge­le­gene Hoch­schule, wären nor­male Zei­ten gewe­sen. Und von dort, an der Hand einer Frau aus Frank­reich, in einen loth­rin­gi­schen Grenz­ort und an ein Gym­na­sium im Saar­land. Schul­tag für Schul­tag über­querte ich die Grenze, die deut­schen wie die fran­zö­si­schen Zoll­be­am­ten wink­ten mich als­bald nur noch durch. Und ich sah, wie sich diese Grenze all­mäh­lich in Luft auf­löste und jene, hin­ter der Thü­rin­gen lag, immer undurch­dring­li­cher wurde. In einem Lyrik­band des Klett Ver­lags für die Ober­stufe begeg­nete mir Gün­ter Kun­erts »Neuere Bal­lade infolge älte­rer Sage«, im Jahr 1967 in einer Antho­lo­gie des Frank­fur­ter Fischer Ver­lags erschie­nen. In dem Gedicht nimmt sich Gün­ter Kun­ert der Bar­ba­rossa-Sage an, teils mit gereim­ten vier­zei­li­gen Stro­phen im Stil Fried­rich Rück­erts, teils mit dazwi­schen gestell­ten kom­men­tie­ren­den Ver­sen im freien Rhyth­mus. Kun­ert fügt den in Klein­asien ertrun­ke­nen Kai­ser in eine Reihe unse­li­ger Suche nach deut­scher Größe im Aus­land, mit dem Ergeb­nis ange­ta­nen und erfah­re­nen Leids und, nach den Schlach­ten von Sta­lin­grad, Nar­vik und El Ala­mein, eines geschrumpf­ten Fle­ckens Schorf am Glo­bus, ja, mit Blick auf die dem Kyff­häu­ser nahe Grenze, »als wär Deutsch­land nie gewe­sen«. Dem Traum­bild vom unter­ir­di­schen Erret­ter stellt Kun­ert die beid­seits mit Rake­ten bestück­ten Flug­zeuge am Him­mel ent­ge­gen, vor allem aber sein eige­nes Wunsch­bild, näm­lich Deut­sche, nicht eherne Gefolgs­leute, son­dern » die ihr Geschick betrei­ben um kei­nes Kai­sers Bart, in kei­nes Namen als ihrem eige­nen«. Das Gedicht endet jedoch im älte­ren Stro­phen­stil: »Tief in Höh­len des Kyff­häu­ser lebt nur noch als Schim­mel­pilz eine alte deut­sche Sage: die betro­gne Hoff­nung wills.« Ein Satz zum Grü­beln. Ein Jahr­zehnt spä­ter ver­lor Gün­ter Kun­ert die Hoff­nung auf den »real­so­zia­lis­ti­schen« Staat und sie­delte von Ber­lin-Ost über nach Schleswig-Holstein.

Im Jahr 1989 fiel die Ber­li­ner Mauer, im Jahr 1990 machte ich mich mit mei­nem Sohn, so alt wie ich damals im Jahr 1949, auf den Weg zum Kyff­häu­ser. Wir näch­tig­ten im Kel­braer Gast­haus »Sach­sen­hof«, von den Kell­ne­rin­nen freund­lich bedient und ver­wun­dert betrach­tet, als ich mir Malz­kaf­fee bestellte. Es war ein fri­scher son­ni­ger Mor­gen, als wir den Feld­weg zur Rothen­burg ein­schlu­gen. An sei­nem Rand lagen nicht mehr die ver­stei­ner­ten Stämme, lebende Bäume fass­ten ihn zu einer klei­nen Allee. Wir erstie­gen auf dem Berg­pfad die Rothen­burg. Der Sand­stein leuch­tete warm in der Sonne, und ich gewahrte die schö­nen vier­tei­li­gen Klee­blatt­fens­ter in der Mauer des Palas, mit dem blauen Him­mel als Hin­ter­grund. Ich erzählte mei­nem Kind den Aus­spruch des Gra­fen von Rothen­burg, und wir blick­ten in die Gol­dene Aue. Ein Falke schwebte über der Burg, und mir fiel der Min­ne­sän­ger ein, der hier als Burg­mann gedient hatte.

Die Hotel­an­lage neben der Burg fan­den wir mit einer Schranke ver­sperrt, und ein Wacht­pos­ten in der Uni­form der Natio­na­len Volks­ar­mee bedeu­tete uns wei­ter­zu­ge­hen. Nahe der Gast­stätte am Kyff­häu­ser­denk­mal rief ein über die Straße gespann­tes Spruch­band: »Thü­rin­gen!«. Der Land­kreis Artern hatte zum Bezirk Halle gehört, und es war nicht sicher gewe­sen, dass er dem wie­der­erstan­de­nen Land Thü­rin­gen zuge­schla­gen würde. Am Denk­mal erklärte ich mei­nem Kind den aus Sand­stein gehaue­nen lang­bär­ti­gen Bar­ba­rossa und den mit Grün­span über­zo­ge­nen Kai­ser Wil­helm I. auf sei­nem Pferd. Die küm­mer­li­chen Reste der Reichs­burg. Im Jahr 1190 war Bar­ba­rossa von sei­nem Weg ins Gelobte Land nicht wie­der­ge­kehrt, vor genau acht­hun­dert Jah­ren. Wir erklet­ter­ten die Aus­sichts­platt­form unter der stei­ner­nen Krone. Die Harz­berge lagen vor uns, am Hori­zont schim­merte meine Hei­mat­stadt, und in der Aue arbei­te­ten, klein, doch erkenn­bar, Bau­ern mit ihrem Gefährt auf den Äckern und Wiesen.

Wenn ich in den fol­gen­den Jah­ren das thü­rin­gi­sche Land bereiste, nahm ich fast immer den Weg über die Rothen­burg. Nach der Natio­na­len Volks­ar­mee war die Bun­des­wehr in die Hotel­an­lage ein­ge­zo­gen, und dann geriet mir in einer Zei­tung eine große Anzeige vor Augen, in der stellte der Frei­staat Thü­rin­gen den Hotel­kom­plex ein­schließ­lich der Rothen­burg zum Ver­kauf. Die Rothen­burg! Im dar­auf­fol­gen­den Jahr sah ich die Fens­ter der Hotel­an­lage zer­schla­gen, und in der Gast­stätte des Kyff­häu­ser­denk­mals erzählte mir die Kell­ne­rin, ein thü­rin­gi­scher Auto­händ­ler habe das Hotel für die Tou­ris­ten auf­be­rei­ten wol­len, und über Nacht hät­ten Unbe­kannte ihm die ganze Innen­ein­rich­tung zer­trüm­mert. Bei mei­nem nächs­ten Besuch fehl­ten die Hin­weis­schil­der an der Land­straße, und den Zugang zur Rothen­burg ver­sperrte eine Bret­ter­wand. Daran änderte sich auch unter den nach­fol­gen­den Eigen­tü­mern nichts. Die Rothen­burg und der Wan­der­weg zur Gol­de­nen Aue waren verloren.

Mir blieb der Min­ne­sän­ger, Kris­tan von Lup­pin. Die Lup­pi­ner, Hof­be­sit­zer in der Aue bei Kel­bra, gehör­ten zu den »mili­tes et servi« der Rothen­burg, ihr Min­ne­sän­ger Kris­tan ist Ende des 13. und Anfang des 14. Jahr­hun­derts bezeugt. In der Man­essi­schen Hand­schrift hat ihm der Schrei­ber das Adels­prä­di­kat »Herr« vor sei­nem Namen ver­sagt, aber dafür nennt er ihn einen »Düring«. Ich nahm Frid­rich Pfaffs getreuen Text­ab­druck zur Hand und begann, die sie­ben über­lie­fer­ten Min­ne­lie­der Kris­tans ins Neu­hoch­deut­sche zu über­tra­gen. Und ich stellte mir vor, wie er seine Lie­der im Palas der Rothen­burg vor­ge­tra­gen hatte, bevor er in andere Dienste ging.

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