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Ulrich Kaufmann
Die Exkursion entstand im Rahmen eines Projekts der Literarischen Gesellschaft Thüringen e.V.
Die Textbasis für das Thema »Gerlach in Rudolstadt« scheint auf den ersten Blick schmal zu sein. Nimmt man indessen neben der erwähnten Lyrik den von Jens Henkels besorgten Kunstband »Einschlüsse. Aufbrüche« hinzu, sieht die Lage anders aus. Das Gerlach-Buch mit dem Untertitel »Blätter zu sechs Monaten deutscher Geschichte« erschien 1991 in der Rudolstädter burgart-presse und enthält für das Thema gewichtige Gedichte und Tagebucheintragungen. Auch die fiktionale Prosa (und hier vor allem der Roman »Windstimmen« von 1997 ermöglicht vielfältige Entdeckungen. Hinzu gesellt sich Gerlachs Hörspiel »Markttag«, das in dem Band »Fortgesetzte Landnahme« zu finden ist, mit dem Wulf Kirsten 1996 die »Edition Muschelkalk« eröffnete. Das Hörspiel kann als dramatische Vorstudie zu dem Roman »Windstimmen« gelesen werden. Auch in Interviews sowie in seiner Essayistik kam Gerlach mehrfach auf die Rudolstädter Jahre zu sprechen.
Der Roman »Windstimmen« ist zu großen Teilen in Rudolstadt angesiedelt. Der Protagonist Benjamin erlebt das Wendejahr 1989 in Leipzig und Rudolstadt-Volkstedt. Im 5. Kapitel des 4. Buches schildert Gerlach, wie sein alter ego Benjamin »vor der Brunnenschale auf dem Markt dieser ostthüringischen Kleinstadt, unter der viel zu großen Schlossanlage« zu den versammelten Rudolstädtern spricht. »Liebe Mitmenschen, hat Benjamin gerufen. Ich möchte euch sagen, daß eure Einsamkeit um so größer wird, je kleiner ihr euch machen laßt ! Seine Stimme ist vor Erregung heiser, trägt nur wenige Schritte weit. Aber ein Punkmädchen, das, an die eiserne Brunnenfassung gelehnt, im Mittag döst, schaut auf und trinkt ihm zu aus einer Cola-Büchse.
Prost! Sagt das Mädchen. Und möchte vielleicht etwas hinzufügen. Aber dafür fehlen ihm die Worte.«
Der Dichter Harald Gerlach gehörte in den Tagen nach dem Mauerfall zu den Rednern, die auf öffentlichen Plätzen über Chancen und Gefahren nach dem gesellschaftlichen Umbruch nachdachten. Sein Schriftstellerkollege Matthias Biskupek hat ihn dabei genau beobachtet. »Harald Gerlach sprach mitten im November der Hoffnungen und Künstler-Reden auf dem Marktplatz einer thüringischen Provinzstadt. Er redete genau, emphatisch, sehr aufgeregt und optimistisch – so unsere Erinnerung.« Biskupek zitiert anschließend, wie Gerlach in seinem Tagebuch selbst die Marktplatzreden reflektierte. »Sonntagvormittag… zwei Dutzend Redner sagen einhellig: so nicht mehr, nicht mit uns! Das ist die unaufgeregte Revolution der Provinz. (…) Nach zwei Stunden verläuft sich die Versammlung. Zeit für Thüringer Klöße. So unangestrengt stellt sich Freiheit ein, wenn die Furcht überwunden wurde.«
Biskupek schließt seinen Essay »Als die Künstler zu Volksrednern wurden« (2004) mit einem Gerlach-Zitat vom letzten Tag des Jahres 1989: »Dennoch gibt es Momente einer Biographie, wo wir spüren, dass der Flügel der Geschichte uns streift. In solchen Augenblicken will unser Leben wesentlich erscheinen.«
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