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Jens-Fietje Dwars
Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.
Vergiss die Peitsche
Jens-Fietje Dwars
Im Mai 1883 erschien ein Buch, das zu den merkwürdigsten der Geschichte zählt. »Ein Buch für Alle und Keinen« war sein Untertitel. Und tatsächlich kennen es heute alle, liest es – fast – keiner. »Also sprach Zarathustra« schrieb Nietzsche auf die erste Zeile, als sei es ein Märchen, eine Sage aus uralten Zeiten. Das »tiefste Buch« habe er damit der Menschheit geschenkt, eines, das die Geschichte spalten werde, wie die Botschaft Christi am Beginn einer neuen Zeitrechnung. Eine zweite Bibel sollte es sein, im Tonfall der ersten abrechnend mit dem Testament der Barmherzigkeit, ein Evangelium für einen Glauben jenseits von Gut und Böse, jenseits einer fragwürdigen Moral, der Nietzsche vorwarf, seit 2000 Jahren die Menschheit in Vorurteilen be- und gefangen zu halten: »Hüte dich vor den Guten und Gerechten, sie kreuzigen gern.«
Fragt man im Alltag nach »Zarathustra«, bekommt man ein Zitat zur Antwort: »Vergiss die Peitsche nicht, wenn Du zum Weibe gehst!« Und nicht einmal das ist korrekt: »Du gehst zu Frauen?« Fragt im Buch ein altes Weiblein unseren Helden, und rät ihm, die Peitsche nicht zu vergessen. Wobei die Alte offen lässt, ob der Mann die Frau malträtieren oder sich selbst »in die Zucht nehmen« soll, wie man zu Nietzsches Zeiten zu sagen pflegte.
Wie auch immer: Es bleibt ein peinliches Zitat, und dass es noch heute das Bild des Philosophen zum Stammtischclown verzerrt, ist beschämend für jeden, der ahnt, um wie viele Schätze sich eine Zeit betrügt, die ein solches Werk nicht mehr anders wahrzunehmen vermag.
Also Leser: Vergiss die Peitsche! Lass Dich verführen, einmal hinter die Oberfläche dieses viel gerühmten, aber kaum erkannten Buches zu schauen. Lies es mit den Augen seiner Wirkungsgeschichte. Das freilich macht das Buch nicht einfacher, führt zu Fragen, die auf andere Art brenzlig sind. Wenn man an das Foto denkt, das so bekannt ist, wie das Peitschen-Zitat. Da sitzt die 21jährige Lou von Salomé auf einem Leiterwägelchen, hat Nietzsche und dessen Freund Paul Rée vor ihren Karren gespannt und schwingt eine kleine Peitsche dazu. Weil die Angebetete mit der Peitsche den Verliebten abwies, – übrigens im Thüringischen Tautenburg bei Jena, wo sie einen Sommer miteinander verbrachten – gehören deshalb alle Frauen für ihn ausgepeitscht?
Das wäre zu billig, auch wenn viele Kränkungen in diesem Buch mitschwingen. Tatsächlich hat Nietzsche im Sommer 1882 Lou seinen tiefsten Gedanken mitgeteilt: den der ewigen Wiederkehr des Immergleichen. Das Gedankenexperiment, anzunehmen, dass sich all unser Tun und Lassen im Kreislauf des Leben immer aufs Gleiche wiederholen werde, war für ihn der äußerste Gegensatz zum christlichen Glauben, der sich im Jenseits Erlösung von den irdisch ertragenen Qualen erhofft oder gar im Diesseits eine wundersame Rettung mit Gottes Hilfe. Gegen diese »Verachtung des Lebens«, diese Vertröstung auf ein Irgendwann, wenn man dem Hirten brav in der Herde folgt, dagegen setze Nietzsche sein großes Jasagen: Amor fati – liebe dein Schicksal! Menschlich allzumenschlich sei es, sich selbst, die eigenen Fehler zu verdammen und sich denen anzuschließen, die uns den vermeintlich rechten Weg weisen. So glaubt man sich zu befreien, indem man neuen Fahnen folgt, und bleibt doch ein Gefangener der eigenen Gefolgschaft. Wer dagegen sein Schicksal bejaht, wer in seinen Fehlern eine Logik erkennt, der kann sein Gewordensein als ein Gesetz annehmen und fortan sich selbst bestimmen, seinen eigenen Weg gehen, mit unverkennbar eigener Stimme und Haltung zu den Dingen.
Diesen Typus des radikalen Individualisten, der keinen Moden folgt und sich dem Zeitgeist widersetzt, nannte Nietzsche den »Übermenschen«, den sein Zarathustra besang. Ein Mensch, der erkennt, dass seine Existenz wie eine Marionette an vielen Fäden hängt – am Elternhaus, der Schule, dem Staat, Parteien und Kirchen –, der diese Fäden selbst durchtrennt und dennoch nicht in sich zusammenbricht, dennoch aufrecht seinen Weg geht.
Ein schönes Bild. Doch darin besteht die Schwierigkeit des »Zarathustra«, dass er eine Dichtung aus lauter Bildern ist, die Nietzsche mit ebenso viel Pathos wie Ironie inszeniert, so dass der ungeübte Leser auf immer mehr Rätsel stößt und am Ende aufgibt. Denn leider ist das Buch auch als Dichtung verunglückt: ein Feuerwerk am hellichten Tage, bombastisch, schrill und zugleich mit wundervoll zarten Zwischentönen. Kurz: »Rhetorik, erregter Wortwitz, gequälte Stimme und zweifelhafte Prophetie«, wie Thomas Mann 1947 mit Schmerzen über das grandios misslungene Meisterwerk des Dichtphilosophen schrieb.
Abb. 1: Foto, 1869 / Abb. 2: Titelblatt »Also sprach Zarathustra«.
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