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Frank Willmann
Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Halbanarchistisches Verreisen gegen das Nato-Wettrüsten und den abfuckenden DDR-Sozialismus standen im Sommer 1983 ganz oben auf meiner Agenda.
Einmal von Weimar bis nach Nessebar trampen! Kerouacs »Unterwegs«, »Fassbinders Katzelmacher« und Friedrich Nietzsches »Zarathustra« hatten mein Hirn zu Brei gefeudelt. Ich musste dringend das Schwarze Meer riechen, in Budapest brillieren und in die Donau spucken.
Verdammt, die Welt war ein Desaster und das Ende nah. Keine zwanzig und schon tanzte ich auf dem Gipfel der Verzweiflung mit mir selbst im Rhythmus der besten Musik: »…Türk-Kültür hinter Stacheldraht/Neu-Izmir ist in der DDR/Atatürk, der neue Herr…«
Im Dezember sollten die ersten neuen Pershings in Westdeutschland aufgestellt werden und dann drohte mein Einzug zur NVA im sogenannten Orwell-Jahr. Deshalb hieß die Sommerdevise 1983: Leben!
Trampen war damals kein Problem. Mensch traf beim Trampen immer wieder sehr interessante Leute, zumal die handelsüblichen Bauerntrampel und Zonenspießer ohnehin nicht anhielten.
Bis Ungarn schätze ich drei Tage, bis zum Schwarzen Meer eine Woche. Für die Rückfahrt besaß ich ein Bahnticket ab Sofia. Meine geplante Reisebegleiterin verliebte sich zwei Tage vor Abmarsch in den späteren Stasispitzel der übersichtlichen Alternativszene in Weimar. So hob ich allein den Tramperdaumen am Ortsausgangsschild Weimar.
Schnell war ich in Dresden, wo mich ein Ungar in seinem schicken roten Lada in Richtung Prag mitnahm. Die Sommersonne schmorrte mich sanft, wir unterhielten uns in den Sprachen der Welt, nur Russisch mochte mein ungarischer Fahrer nicht, weil beim Ungarnaufstand 1956 sein Onkel den Heldentod gestorben war. Er wollte mich bis kurz vor Budapest mitnehmen, Übernachtung irgendwo im Zelt in der ČSSR. Ein Traum! Dachte ich in meiner naiven Ahnungslosigkeit. In der Nacht wurde es brenzlig, einmal »nein« zu sagen, reichte nicht: Wutanfall. Ich spürte den Eishauch dessen, was Baudelaire die »Flügel des Wahnsinns« nannte und sprang aus dem Zelt und brüllte Zeter und Mordio. Zum Glück wurde unser wilder Zeltplatz auch von anderen Menschen frequentiert, die bestürzt aus ihren Zelten schauten. Ich räumte meinen Kram aus dem Zelt und legte mich ein paar Meter weiter zur Ruhe nieder. Mein Fastvergewaltiger war bereits verschwunden, als ich mich am nächsten Morgen aus dem Schlafsack schälte. Gut so, ich lief zurück zur Straße, ein LKW hielt und nahm mich mit nach Budapest.
Budapest war ein Sehnsuchtsziel aller Zonen-Tramper. Die Ungarn galten als tolerant und für die Freuden des Westens empfänglich. In den Läden bekam man westliche Waren zu kaufen und in den Freilichtkinos liefen amerikanische Filme. Also rein ins Vergnügen, auch wenn es nicht ganz billig war. Halb Sachsen schien nach Budapest getrampt zu sein, an den wichtigsten Sehenswürdigkeiten stapelten sich die glücklichen Zonis, ich mittendrin. Wir tauschten Reiserfahrungen aus, mir wurde wärmstens das bulgarische Rila-Gebirge als das wahre Outlaw-Paradies ans Herz gelegt. Bären, Mönche und Rotwein satt!
Wer nie eine Nacht im Schlafsack auf der Budapester Margareteninsel verbrachte, hat nicht gelebt. Hunderte DDR-Hippies wurden am Morgen von unromantischen Polizisten wachgeknüppelt, ich lag etwas abseits und schaffte den Absprung. Zwei Tage Budapest vergingen wie im Flug, doch ich wollte ans Meer. Ich kannte nur die trübe Ostsee und versprach mir vom Schwarzen Meer Wunder! Delfine, Schildkröten und märchenhafte Palmen sollte es dort geben. Zumindest behauptete das meine Tante bei unseren jährlichen Familientreffen und brachte den Rest der Sippe fast dazu, vor Neid zu platzen.
Am Budapester Stadtrand hielt ich kurz den Daumen in den Wind, als auch schon ein VW-Bus mit Heidelberger Kennzeichen anhielt. Drinnen eine alternativ angehauchte Familie, wir kamen gleich ins Gespräch. Sie hatten kalte Coca-Cola an Bord, ich bestaunte ihren eingebauten Kühlschrank und schluckte die braune Zuckersuppe mit Genuss. Ich erzählte von meiner öden Kleinstadt und der Verzweiflung, in der Diktatur der SED ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Sie berichteten von der Schönheit Italiens, einem Konzert der Kölner Band BAP und von den Grünen, die seit März im Bundestag waren und den bundesdeutschen Altnazis das Fürchten lehrten. Wow, so eine Partei bräuchte es in der DDR, links, weltoffen, friedens- und umweltbewegt. Wir hielten am Straßenrand und genossen frische Pfirsiche. Die Welt zeigte sich von ihrer schönsten Seite. Die Wessis schenkten mir einen Baum-ab-nein-Danke Aufkleber, den ich sorgfältig in den Tiefen meines Rucksacks versenkte. Kurz vor der Grenze stieg ich aus und tuckerte in einem runtergerödelten PKW undefinierbarer Herkunft Richtung Rumänien.
Danach: stundenlanges dösen im PKW an der rumänischen Grenze.
Grenzübergänge im Osten waren fiesbrüderliche Spießrutenläufe. Keiner mochte den Nachbarn und musste es jedem zeigen. Ich sagte meinem Fahrer adieu und stieg aus.
Also zu Fuß rüber nach Rumänien. Nie traf ich herzlichere Menschen in schlimmerer Not, in den Kaufhallen gab es nur Zwiebeln, Brot und Wasser. Abends lud mich eine Familie zu sich nach Hause ein. Der Strom war abgeschaltet, wir saßen in der Küche und erzählten uns im schlechten Englisch, warum es uns in unseren heimatlichen Diktaturen dreckig ging. Heimat war, wo es dir schlecht ging. Ich teilte mit meinen Gastgebern eine Packung »Nimm zwei« und sie erklärten mir, warum Ceaușescu ein mieser Schweinehund sei. Mitternacht saß ich allein vorm Fernseher der Familie. Plötzlich gab es wieder Strom. Der Fernseher erwachte zu Leben. Auf der Mattscheibe erschien ein Einhorn. Es sagte: »Guten Tag, ich bin Erich Honecker. Die Wirklichkeit existiert nur in ihrem Gehirn. Wenn sie das verstehen würden, ginge es ihnen viel besser. Sie existiert objektiv betrachtet gar nicht.«
Zum Frühstück tranken wir Rotwein verdünnt mit Wasser. Der Strom war wieder abgestellt und Erich Honecker hielt die Klappe.
Raus in den Sommertag und weiter! Vor den rumänischen Tankstellen gab es elend lange Schlangen zu besichtigen, die inoffizielle Währung waren Zigaretten der Marke Kent. Am Stadtrand Menschentrauben. Ein ganzes Volk trampte zwangsweise. Ich las beim Warten auf die nächste Mitfahrgelegenheit Dostojewskis »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus«, alles passte prächtig zusammen.
In den Karpaten ließ mich ein schweigsamer Bauer in seiner Scheune übernachten. Er sah mich frierend am Straßenrand stehen, packte mich in seinen Wagen, zeigte auf meine kurzen Shorts und lachte. Wir unterhielten uns mit Händen und Füßen. Nachts heulten mich die Wölfe in den Schlaf, am Morgen standen frische Ziegenmilch und Weißbrot vor meinem Lager. Ich lief ein Stück in den Wald. Ganz weit am Horizont konnte ich Dinge sehen, die ich nicht verstand. Der Nebel hob sich langsam, die Stille erfüllte mich wie ein Gedicht von Allen Ginsberg:
»Ich sah die besten Köpfe meiner Generation vom Wahn zerstört,
hungernd hysterisch nackt/die sich im Morgengrauen durch die Negerstrassen schleppten auf der Suche nach einem wütenden Schuß/engelköpfige Hipster, dem alten himmlischen Kontakt zur Sternenlichtmaschine im Getriebe der Nacht entgegenfiebernd …«
Wo lag das Schwarze Meer? Irgendwo hinter der Nebelwand. Ich flog wie die »Schwalbe« über den Eriesee Richtung Bulgarien.
Wieder hatte ich Glück, weil mich der Leiter des größten bulgarischen Pionierferienlagers am Schwarzen Meer einsammelte. Er hatte in der DDR studiert. Als ich ihm sagte ich wäre ein Weimarer Junge, klatschte er vor Freunde in die Hände: Goethe, Nietzsche, Buchenwald. Er traf den Nagel auf den Kopf, diese drei Punkte beschrieben Weimar bedrückend gut. Im Kassettenrecorder des Autos lief Edith Piaf. Sie hatte wenig zu bereuen (Non, je ne regrette rien) und lebte mit rosaroter Brille (La vie en rose).
Der Pionierferienlagerchef fraß einen Narren an mir, brachte mich in einer schicken Platte in seinem Monsterferienlager am Schwarzen Meer unter, versorgte mich mit Essensmarken und zeigte mir seine Schildkrötenpanzersammlung. Er mochte Deutsche, weil sie seiner Ansicht nach so schön ordentlich waren: »Schau dir Bulgarien an, ein Haufen Dreck! Aber wir verstehen zu feiern!«
Endlich am Schwarzen Meer! Es machte seinem Namen alle Ehre und erinnerte mich stark an die Ostsee. Delfine sah ich nur ausgestopft, tatsächlich begegnete mir bei einer Wanderung eine lebende Landschildkröte. Ich pries dieses Wunder der Natur.
Beim Sonnenbaden am nächsten Tag vergaß ich Mutters Ratschläge. Drei Tage Schüttelfrost, vom Körper lösten sich ganze Hautfelder. Erst im Dunklen schlurfte ich durch das Monsterpionierlager. Die Jugend des Warschauer Paktes schien sich versammelt zu haben. Lagerfeuer erhellten die Plätze zwischen den Zelten, sehr junge Pioniere sangen in fremden Zungen. Ich war fast zwanzig und fühlte mich alt und einsam. Zur Kompensation las ich am Tag ohne Unterlass in den »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus«.
Am vierten Tag hatte ich von Meer, Sonnenstich und Dostojewski genug.
Ich verschenkte meine Essensmarken, salbte mir die Gelenke und schrieb dem Chef des Monsterpionierferienlagers einen Dankesbrief. Ich schwor ewige Freundschaft und versprach, an Goethes und Nietzsches Grab in seinem Namen zu salutieren.
In Sofia trieb mich die unerträgliche Hitze in eine bulgarisch orthodoxe Kirche. Als ich eintrat, nahm mir der Weihrauchduft den Atem. Ein kleines Kind, an dem der Ritus der Taufe vollzogen wurde, tobte und schrie mörderisch.
Der Priester: Widersagst du dem Satan und allen seinen Werken und all seinem Dienste und all seinem Gepränge?
Der Täufling oder der Taufpate (an Stelle des Kindes): Ich widersage.
What a crazy Shit! Ich schlüpfte aus der Kirche, kaufte mir ein Softeis und kämpfte wenig später mit Teufel wässrigem Durchfall. Andere Länder, andere Campylobacter.
Zurück nach Ungarn über Sofia, Bukarest und Budapest. Im Zug traf ich eine charmante Hockeyspielerin aus Leipzig. Wir waren uns auf Anhieb sympathisch und schon bald stülpten sich unsere Lippen übereinander.
Ich trug ihr meine Lieblingsgedichte von Baudelaire vor, während sie mich mit ihren muskulösen Oberschenkeln aus Spaß zu erwürgen versuchte.
Wieder auf der Margareteninsel angelangt, wurde ich dank einer luftigen Verliebtheit leichtsinnig. »Knüppel, Knüppel, bumm-bumm« hieß das nicht so lustige Lied am nächsten Morgen.
***
»Von Heimat zu Heimat – eine literarische Spurensuche« ist eine Reihe des Thüringer Literaturrates e.V. mit freundlicher Unterstützung der Kulturstiftung des Freistaats Thüringen.
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