Erfurt
10 : Erfurt unter Dalberg und der Kreis im Haus Dacheröden (1772–1802)

Ort

Erfurt

Thema

Ortsporträts

Autor

Patrick Siebert

Detlef Ignasiak, Das literarische Thüringen, Bucha 2015 / Thüringer Literaturrat e.V.

Wie wenig fort­schritt­lich die Uni­ver­si­tät zu Beginn sei­ner Statt­hal­ter­schaft war, zeigt der Fall Karl Fried­rich Bahrdt (1741–1792). Als extrems­ter Auf­klä­rer unter den Hoch­schul­leh­rern, hatte er von Beginn an einen Son­der­sta­tus. Seine »Briefe über die sys­te­ma­ti­sche Theo­lo­gie zur Beför­de­rung der Tole­ranz« von 1771 mach­ten ihn voll­ends zum Außen­sei­ter, so dass er die Stadt bereits im glei­chen ver­las­sen musste. Seine Über­set­zung des »Neuen Tes­ta­ments« fin­det bei Les­sing gro­ßen Anklang. Goe­the hin­ge­gen ver­spot­tet Bahrdt wegen sei­nes Ratio­na­lis­mus, sein Faust resü­miert nach einem Gespräch mit sei­nem Famu­lus Wag­ner: »Wie nur dem Kopf nicht alle Hoff­nung schwindet,/der immer­fort an scha­lem Zeuge klebt,/Mit gier’ger Hand nach Schät­zen gräbt,/und froh ist wenn er Regen­wür­mer fin­det.« Ein enger Ver­trau­ter Wie­lands war Fried­rich Jus­tus Rie­del (1742–1785). Er setzte die Beru­fung Wie­lands nach Erfurt durch, wo er sel­ber aktiv Anteil an der Reform der Uni­ver­si­tät nahm. Aller­dings wur­den viele sei­ner Vor­schläge durch die katho­li­sche Geist­lich­keit blo­ckiert. Seine »Theo­rie der schö­nen Künste und Wis­sen­schaf­ten« von 1767 ist ein wich­ti­ger Mark­stein in der Ent­wick­lung der Ästhe­tik. Rie­der ver­tei­digt einen Begriff der Schön­heit, der von der Wahr­neh­mung aus­geht, sich damit von dem abhebt, was Auto­ri­tä­ten als klas­sisch schön defi­nie­ren. Der geis­tige Mit­tel­punkt Erfurts befand sich in die­ser Phase im »Haus Dacheröden«. Karl Fried­rich von Dacheröden (1732–1809), Prä­si­dent der Erfur­ter Aka­de­mie gemein­nüt­zi­ger Wis­sen­schaf­ten, nutzte sein Haus um die Mit­glie­der zu ver­sam­meln. Dacheröden trug als Zen­sor der ein­ge­hen­den his­to­ri­schen und staats­wis­sen­schaft­li­chen Schrif­ten zur Neu-Bele­bung der Aka­de­mie-Zeit­schrift bei. Die enge Anbin­dung des Krei­ses an die Fami­lie sollte sich aus­zah­len. Wil­helm von Hum­boldt (1767–1835) fand beson­de­res Inter­esse an der Toch­ter des Hau­ses. Caro­line von Dacheröden (1766–1829), die er 1788 ken­nen­lernte und 1791 ehe­lichte, gilt als eine der unkon­ven­tio­nells­ten Frau­en­fi­gu­ren ihrer Zeit. Sie nutzte die gebo­te­nen Frei­hei­ten der unge­wöhn­li­chen Ehe mit Hum­boldt um ihrer­seits einen lite­ra­ri­schen Salon in Ber­lin zu betrei­ben. Durch Dank ihrer weit­ver­zweig­ten Kor­re­spon­denz betei­ligte sie sich an den Dis­kur­sen ihrer Zeit und beglei­tete kri­tisch die Arbeit ihres Man­nes. Vor der Hoch­zeit mit Hum­boldt war auch Schil­ler nicht unin­ter­es­siert an Caro­line, doch ihre Mut­ter hatte sie »dem Ein­fluss die­ses zwar char­man­ten, aber doch so unstan­des­ge­mä­ßen, armen Poe­ten« ent­zo­gen. Der von Dal­berg unter­stützte Fried­rich Schil­ler (1759–1805) besuchte Erfurt erst­mals am 2.2.1787, wo er das Ursu­li­nen­klos­ter besuchte. Zusam­men mit sei­ner Ver­lob­ten Char­lotte von Len­ge­feld (1766–1826) ver­brachte Schil­ler vom 18–21.2.1790 »drei ange­nehme Tage«, wo beson­ders Dal­berg »einen inni­gen Anteil an unse­rem Ver­hält­nisse nahm«. Schon am Tag dar­auf wird das Paar in Jena getraut. Seine Auf­nahme in die Erfur­ter Aka­de­mie wäh­rend des Besu­ches zum Jah­res­wech­sel 1790–1791 wurde von einer schwe­ren Erkran­kung Schil­lers über­schat­tet. Sei­nem Freund Dal­berg wid­met er 1802 das Gedicht »Antritt des neuen Jahr­hun­derts«: »Edler Freund! Wo öff­net sich dem Frieden/Wo der Frei­heit sich ein Zufluchtsort?/Das Jahr­hun­dert ist im Sturm geschieden/Und das neu öff­net sich mit Mord.«. Die nicht weni­ger als 53 Besu­che Goe­thes in Erfurt hat­ten meist einen halb­of­fi­zi­el­len Cha­rak­ter. Der Dich­ter beglei­tete sei­nen Dienst­her­ren Karl August (1757–1828) wenn die­ser zu poli­ti­schen Gesprä­chen in Erfurt weilte. Bei sei­ner ers­ten Durch­fahrt 1765 sah er sich noch als »ein­ge­wi­ckel­ter, selt­sa­mer Knabe». Ein Zustand, der sich bis 1768 nicht grund­le­gend geän­dert zu haben scheint, wenn sich der Dich­ter­fürst jetzt als »Kränk­ling und Schiff­brü­chi­ger« bezeich­net. In den Jah­ren 1776–1814 kam er mehr­fach in die »Blu­men­stadt« für deren Umge­bung er im »Divan«-Gedicht »Lieb­li­ches« nur freund­li­che Worte fin­det: »Ja es sind die bun­ten Mohne,/Die um Erfurt sich erstrecken,/Und dem Kriegs­gott zum Hohne,/Felder streif­weis freund­lich decken.« Ein wei­te­res »Divan«-Gedicht greift die Besu­che Goe­thes direkt auf: »Sollt‘ ein­mal durch Erfurt fahren,/Das ich sonst so oft durchschritten,/Und ich schien, nach vie­len Jahren,/Wohlempfangen, wohl­ge­lit­ten.« Über die his­to­risch bedeut­same Begeg­nung Goe­thes mit Napo­leon 1808 wird das fol­gende Kapi­tel näher berich­ten. Ein wesent­li­ches Ele­ment der Zusam­men­tref­fen im Haus Dacheröden war der Hof­meis­ter Rudolph Zacha­rias Becker (1752–1822). Ihm ver­dankt Caro­line von Dacheröden ihre außer­ge­wöhn­li­che Bil­dung. Nach­dem er eine Preis­auf­gabe der Ber­li­ner Aka­de­mie – »Ob es nütz­lich sein könne, das Volk zu täu­schen?« – 1780 gewann wurde Becker in die Erfur­ter Aka­de­mie auf­ge­nom­men. Nach der Zeit als Hof­meis­ter machte er ab 1782 als Her­aus­ge­ber der »Deutsche[n] Zei­tung für die Jugend und ihre Freunde« von sich reden, die 1796 zur »Natio­nal­zei­tung der Deut­schen« erho­ben wird und grün­dete die Becker’sche Buch­hand­lung in Gotha. Sophie Albrecht (1757–1840), in Erfurt als Sophie Bau­mer gebo­ren, konnte nicht nur als Schau­spie­le­rin – sie war die erste »Eboli« in Schil­lers Don Car­los – bril­lie­ren. Auch lite­ra­risch konnte sie ihre Ver­bin­dung zu Schil­ler frucht­bar machen, so erschien eine Reihe ihrer epi­schen und lyri­schen Werke in des­sen »Tha­lia«. Johann Chris­tian Los­sius (1743–1813) kam 1770 als Pro­fes­sor der Phi­lo­so­phie nach Erfurt, wo er die eng­li­schen und fran­zö­si­schen Den­ker wie Hume, Locke oder Mon­tai­gne prä­sen­tierte. Wie Wie­land oder Bahrdt gehörte er zu der Gruppe von Hoch­schul­leh­rern, die ver­such­ten mit zeit­ge­mä­ßen Inhal­ten die katho­li­sche Domi­nanz der Uni­ver­si­tät zu durch­bre­chen und ihr damit ein moder­ne­res Pro­fil zu ermög­li­chen. Vom dem Gedan­ken aus­ge­hend, dass Phi­lo­so­phie nur rele­vant ist, wenn sie die Gegen­wart im Auge behält, weist er auf eine Art der Aus­ein­an­der­set­zung mit der Welt hin, die das kör­per­li­che als Grund­lage der Ver­nunft wahr­nimmt. In sei­ner Schrift »Phy­si­sche Ursa­chen des Wah­ren« von 1775 legt er dar, wie Emp­fin­dung und Gegen­wart von Din­gen zusam­men­hän­gen: »Das Gefühl […] legt uns eine gewisse Nothwen­dig­keit auf, daß wir nicht anders kön­nen, als das für wahr zu hal­ten, was wir emp­fin­den.«. Mit der Abwick­lung der Uni­ver­si­tät und dem Ent­zug der Pen­sion durch Napo­leon, den er den­noch über­schwäng­lich hul­digte, kam Los­sius in eine mise­ra­ble Lage. Er ist »in einem Zustande gestor­ben, den man in den Hüt­ten des ärms­ten Tage­löh­ners nur sel­ten fin­det.«. Kas­par Fried­rich Los­sius (1753–1817) war begeis­ter­ter Zuhö­rer Wie­lands. Bekannt­heit erlangte er mit dem Jugend­buch »Gumal und Lina« von 1798. Der uner­hörte Erfolg sei­nes Wer­kes basiert auf der Ver­knüp­fung eines erzie­he­ri­schen Anlie­gens und einem exo­ti­schen Schau­platz. Dass die Lie­bes­ge­schichte vor­ran­gig einem reli­giö­sen Auf­trag dient, zeigt bereits der Unter­ti­tel: »Eine Geschichte für Kin­der, Zum Unter­richt und Ver­gnü­gen, Beson­ders um ihnen die ers­ten Reli­gi­ons­ber­griffe bei­zu­brin­gen.«. Ein leben­di­ges Bild sei­ner Zeit ver­mit­telt Con­stan­tin Beyer (1761–1829). Neben einer gan­zen Reihe von Tage­bü­chern, ist es vor allem die 1821 auf Druck gelegte »Neue Chro­nik von Erfurt oder Erzäh­lung alles des­sen, was ich vom Jahr 1736 bis zum Jahr 1815 in Erfurt Denk­wür­di­ges ereig­nete«. Außer berich­ten über offi­zi­elle Vor­gänge, die Assem­bleen in Hause Dal­bergs und his­to­ri­scher Fak­ten über­lie­fert er auch pikante Aus­schnitte aus dem All­tag im 18 Jahr­hun­dert. Das Jahr 1741 lei­tet er so mit fol­gen­der Bege­ben­heit ein:

Der Sohn des hie­si­gen sehr geschick­ten Scharf­rich­ters Hirsch­feld, der die Jäge­rei lernte, saß mit einem Kur­main­zi­schen Tam­bour in einem Bier­hause, zur Gabel genannt, am Fall­lo­che. Sie gerie­then wegen eines Mäd­chens mit ein­an­der in Streit, for­der­ten sich auf den nahe­ge­le­ge­nen Seve­ri­hof wo der Tam­bour den Säbel zog. Hirsch­feld aber schoß ihn mit der bei sich haben­den Flinte auf der Stelle tod und machte sich aus dem Staube.

 

 Erfurt:

  1. Erfurt im Mittelalter - Klöster als Zentren des literarischen Lebens
  2. Das Erfurter Mittelalter II
  3. Theater im Mittelalter
  4. Die Anfänge der Erfurter Universität
  5. Erfurt als ein Zentrum des Humanismus (1460-1570)
  6. Der Reformator
  7. Die Stadt bis zum Verlust der Unabhängigkeit (1571-1664)
  8. Unter Mainzer Statthalterschaft bis Dalberg (1665-1772)
  9. Karl Theodor von Dalberg – Der letzte Statthalter
  10. Erfurt unter Dalberg und der Kreis im Haus Dacheröden (1772-1802)
  11. Die Franzosen in der Stadt – Fürstenkongress, Napoleon und Goethe (1806-1814)
  12. Erfurt und die Preußen im 19. Jahrhundert
  13. Erfurt von 1900 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges
  14. Von der Landeshauptstadt zur Bezirksstadt zur Landeshauptstadt – Erfurt bis zur Gegenwart
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