Durch den Thüringer Wald …
4 : Heinrich Seidel – »Thüringische Kartoffelklöße«

Person

Heinrich Seidel

Ort

Ilmenau

Thema

Thüringen im literarischen Spiegel

Autor

Heinrich Seidel

Sonderbare Geschichten, Leipzig 1894.

 

Die Audio­fas­sung liest Chris­toph Schmitz-Scholemann.

 

Das Leben jedes ech­ten Thü­rin­gers ist gleich­sam mit einer Per­len­schnur von Kar­tof­fel­klö­ßen durch­floch­ten, und seine Augen leuch­ten, wenn er nur den Namen die­ses für ihn so köst­li­chen Gerich­tes aus­spre­chen hört.

Ganz beson­ders in der Fremde nimmt der Kar­tof­fel­kloß für ihn einen gera­dezu sym­bo­li­schen Cha­rak­ter an, er bedeu­tet ihm die Hei­mat mit all dem Lieb­li­chen, Hol­den und Trau­ten, das für den trotz­dem so wan­der­lus­ti­gen Deut­schen mit die­sem Worte ver­knüpft ist, und haben sich irgendwo in der wei­ten Welt Thü­rin­ger um dies köst­li­che Gericht zusam­mengefunden, so ver­zeh­ren sie es mit lyri­schen Empfindun­gen, und den wei­che­ren unter ihnen wer­den die Augen feucht. Ange­hö­rige des kräf­ti­gen und aus­dau­ern­den Volks­stammes der Thü­rin­ger sind über die ganze Welt ver­brei­tet, und über­all, wohin sie gelan­gen, ver­mö­gen sie zu gedei­hen, sofern das Land Kar­tof­feln her­vor­bringt. Denn die grü­nen Berge, die rau­schen­den Wäl­der, die lieb­li­chen Täler, die rie­selnden Bäche sei­nes Hei­mat­lan­des ver­mag der Thü­rin­ger zu ent­beh­ren, nicht aber das köst­li­che Gericht, an dem die hol­desten Erin­ne­run­gen sei­ner Jugend haf­ten. Davon hat mein Freund, der Afri­ka­rei­sende Dok­tor Elgers­burg, selbst ein gebo­re­ner Thü­rin­ger, ein höchst son­der­ba­res Bei­spiel berich­tet. Als die­ser vor eini­gen Jah­ren den Kongo hin­auf­fuhr, gelangte er an eine Sta­tion, wo man ihn mit Freu­den begrüßte, als man hörte, daß er ein Arzt sei, denn einer der dort ange­stell­ten Euro­päer, der, wie sich bald zeigte, eben­falls von Geburt ein Thü­rin­ger war, lag schwer krank dar­nie­der, und kei­nes der in der Sta­ti­ons-Apo­theke vor­han­de­nen Mit­tel wollte ihm hel­fen. Man führte den Dok­tor Elgers­burg zu dem Kran­ken, und die­ser erfah­rene Arzt wußte auf den ers­ten Blick, was sei­nem Lands­mann fehle. Als die wohl­be­kann­ten Laute des hei­mi­schen Dia­lek­tes an das Ohr des Pati­en­ten schlu­gen, ging ein schwa­ches Lächeln über seine schlaf­fen Züge, und in sei­nen Augen leuch­tete etwas wie Hoff­nung auf. Doch dies matte Licht erlosch bald wie­der, und mit müder Stimme sprach er dann: »Sie kön­nen mir doch nicht hel­fen, Herr Dok­tor, es geht zu Ende. Oh, wär ich doch nie in dies infame Land gekommen!«

»Nur Mut, lie­ber Lands­mann!« sagte der Arzt, »so schlimm steht die Sache denn doch nicht. Pas­sen Sie nur auf, die Geschichte wol­len wir bald haben.«

Dann ging er hin­aus zum Chef der Sta­tion und sprach zu dem: »Ganz ein­fa­che Dia­gnose. Der Mann hat Heim­weh. Der Mann ist Thü­rin­ger. Sind Kar­tof­feln am Ort?«

Es zeigte sich, daß von der letz­ten euro­päi­schen Pro­vi­ant­sen­dung noch deren 50 Liter vor­han­den gewe­sen waren, allein diese hatte man zur Aus­saat bestimmt, und am Tage vor­her gerade waren sie in die Erde gekommen.

»Hier han­delt es sich um ein Men­schen­le­ben!« rief der Arzt, »da müs­sen unbe­dingt ein paar Liter wie­der aus­ge­kratzt wer­den! Anders kann ich den Mann nicht retten.«

Kopf­schüt­telnd schickte der Sta­ti­ons­chef auf das energi­sche Drän­gen des Dok­tors ein Neger­weib hin, und bin­nen kur­zem kam diese mit einem Korbe voll Kar­tof­feln zurück. Als nun diese geschält wur­den und solch wohl­be­kann­tes Geräusch sowie das takt­mä­ßige Plump­sen der fer­tig geschäl­ten Knol­len­früchte in den Küchen­ei­mer hör­bar ward, da war es merk­wür­dig zu sehen, wie eine sanfte Röte über das Gesicht des Kran­ken im Neben­zim­mer zog und wie sich seine Ohren spitz­ten gleich denen eines Schlacht­ros­ses, das den Klang der Kriegs­trom­pete ver­nimmt. Und als nun gar eine Reibe her­ge­schafft und die Kar­tof­feln gerie­ben wur­den, da rich­tete er sich ein wenig auf einem Arm empor und strich sich wie träu­mend mit der Hand über die Stirn. »Nun, wie ist Ihnen?« fragte der Arzt, der soeben in die Tür getre­ten war.

»Son­der­bar, höchst son­der­bar!« sprach der Kranke. »Mir ist, als träumte ich. Als wär’s Sonn­tag­vor­mit­tag und ich zu Hause bei mei­ner Mut­ter in Ilr­nenau ›unter den Lin­den‹, wo der Brun­nen vor der Türe steht.«

»Ja, ja«, rief der Arzt, »es kommt noch bes­ser, war­ten Sie nur!«

Da sonst ein geeig­ne­tes Instru­ment am Orte nicht vorhan­den war, so hatte doch der Arzt eine Kar­ten­presse ent­deckt und diese sogleich für seine Zwe­cke in Anspruch genom­men. Er schlug die Masse der gerie­be­nen Kar­tof­feln in eine Ser­viette, spannte sie ein und hieß das Neger­weib die Schrau­ben anzie­hen. Als der Kranke das Knar­ren der Schrau­ben ver­nahm und das gir­rende Rie­seln des aus­ge­preß­ten Saf­tes, da rich­tete er sich ganz auf von sei­nem Lager und sah mit glän­zenden Augen vor sich hin: »Ich weiß nicht, wie mir ist«, flüs­terte er vor sich hin, »mir wird so wohl; ich glaube, ich kann noch wie­der gesund werden.«

Ein wenig Weiß­brot war vor­han­den; es ward nach der Anwei­sung des Arz­tes in Wür­fel geschnit­ten und gerös­tet. Dann formte er sel­ber kunst­ge­recht aus der vor­be­rei­te­ten Masse die statt­li­chen Klöße und ver­teilte die Sem­mel­bro­cken sach­ge­mäß. Wäh­rend das Gericht nun kochte, kehrte der Dok­tor zu sei­nem Kran­ken zurück und saß in fröh­li­cher Erwar­tung zukünf­ti­ger Ereig­nisse an des­sen Lager. Doch die­ser war wie­der ganz in sich zusam­men­ge­sun­ken, der Glanz sei­ner Augen aus­ge­löscht und jeder Hoffnungsschim­mer von sei­nen Wan­gen ver­schwun­den. »Nur Mut, nur Mut!« sagte der Arzt, »die Medi­zin ist bald fertig.«

Nach einer Weile ent­stand drau­ßen ein Geräusch, der Dok­tor eilte hin­aus und kam mit einer mäch­ti­gen Schüs­sel damp­fen­der Kar­tof­fel­klöße wie­der zurück. Der Kranke lag abge­wen­det und rührte sich nicht. Doch plötz­lich stieg ihm der lieb­li­che Duft in die Nase. Das riß ihn empor. Er saß auf­recht, starrte mit wir­ren Bli­cken, wie wenn er einen Geist schaue, auf die Schüs­sel hin und ward rot und bleich inner­halb einer Sekunde. Dann schien ein Gefühl unsäg­li­chen Glü­ckes ihn zu über­kom­men. »Oh, du mein Herr­gott!« sagte er.

Die Schüs­sel ward vor ihn hin­ge­setzt, man stopfte ein Kis­sen hin­ter sei­nen Rücken, und nun begann der Kranke, fast zag­haft und sei­nem Glü­cke noch nicht recht trau­end, einen der Klöße kunst­ge­recht aus­ein­an­der­zu­rei­ßen. Nun sah er wohl, es war kein Traum. Dann pro­bierte er den Kloß, und als­bald lie­fen ihm die Trä­nen über die ein­ge­fal­le­nen Wan­gen. »Alles rich­tig«, mur­melte er, »gerade so wie meine Mut­ter sie macht in Ilmenau, ›unter den Lin­den‹, wo der Brun­nen vor der Türe steht.« Als­dann ver­zehrte er im Schweiße sei­nes Ange­sichts elf Kar­tof­fel­klöße, wie eine Faust groß, sank dann mit para­die­si­schen Emp­fin­dun­gen zurück in die Kis­sen und schlief vier­und­zwan­zig Stun­den hin­ter­ein­an­der weg. Er wachte auf mit einem Gefühle, als wenn seine Glie­der von Stahl und seine Gelenke Sprung­fe­dern wären, stand auf, klei­dete sich an und ging noch des­sel­bi­gen Tages auf die Elefantenjagd.

 Durch den Thüringer Wald …:

  1. Friedrich Lienhard – »Jugendjahre«
  2. Karl Emil Franzos – »Paulinzelle«
  3. Ludwig Bechstein – Wo Stutzel, der Hund, begraben liegt
  4. Heinrich Seidel – »Thüringische Kartoffelklöße«
  5. Gustav Freytag – »Siebleben«
  6. Joachim Ringelnatz - Eisenach
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