Debatte: »Zukunft des Lesens – Zukunft des Buches«
8 : Michael Knoche – Digital? Nie ohne Original

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Debatten

Autor

Michael Knoche

Erstdruck: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.07.2017.

Unsere schrift­li­che Über­lie­fe­rung ist in Gefahr. Die Schätze deut­scher Biblio­the­ken kön­nen nur geret­tet wer­den, wenn Digi­ta­li­sie­rung und Buch­re­stau­rie­rung Hand in Hand gehen.

Im Gothaer Ver­lag Ettin­ger erschien 1789 ein pracht­vol­les Werk mit zwan­zig kolo­rier­ten Kup­fer­sti­chen: groß­for­ma­tig, auf teu­rem Büt­ten­pa­pier, in sple­nd­i­dem Satz, mit scharf­ge­schnit­te­nen, kon­trast­rei­chen Let­tern in Anti­qua (und nicht in der übli­chen Frak­tur), mit gut gebrann­ter Dru­cker­schwärze, in einer Auf­lage von 250 Exem­pla­ren. Ganz anders war das Buch auf­ge­macht, das 1804 bei Cotta her­aus­kam: ein klein­for­ma­ti­ges, ele­gan­tes Taschen­buch mit drei Kup­fern, sofort lese­fer­tig aus­ge­lie­fert (also nicht erst zum Buch­bin­der zu brin­gen) und gleich im ers­ten Anlauf in sie­ben­tau­send Exem­pla­ren gedruckt. Im einen Fall han­delt es sich um Goe­thes »Das Römi­sche Car­ne­val«, im ande­ren um Schil­lers »Wil­helm Tell« – ein Unter­schied wie Tag und Nacht.

Wenn mit kulturwissenschaft­lichem Instru­men­ta­rium nach der Publikations­politik eines ein­zel­nen Autors oder nach der Dif­fu­sion von Wis­sens­be­stän­den in bestimm­ten gesell­schaft­li­chen Grup­pen oder nach kon­kre­ten Rezep­ti­ons­vor­gän­gen gefragt wird, spie­len die Ori­gi­nale eine zen­trale Rolle. Je nach Fra­ge­stel­lung kann es dann auch dar­auf ankom­men, die Farb­nu­an­cen der kolo­rier­ten Kup­fer­sti­che, die hap­ti­sche Qua­li­tät des Papiers oder die Gestal­tung des Ein­bands zum Text in Bezie­hung zu set­zen. Die Ver­bin­dung von Gehalt und Mate­ria­li­tät führt zu dem kom­ple­xen Befund des kul­tur­his­to­ri­schen Augen­blicks, in dem das Werk entstand.

In den Kul­tur- und Geis­tes­wis­sen­schaf­ten wird heute nicht mehr so »tex­tua­lis­tisch« gear­bei­tet wie noch vor zwan­zig Jah­ren. Texte wer­den nicht mehr als iso­lierte Ein­hei­ten betrach­tet, die imma­nent zu ver­ste­hen wären. Auch die Dinge, mit denen Texte ver­bun­den sind, wer­den in die Betrach­tung ein­be­zo­gen. Auf ver­schie­de­nen Ebe­nen ist man dabei, Mate­ria­li­tä­ten zu ent­de­cken. Wer dar­über forscht, muss Zugang zum uner­schöpf­li­chen Erkennt­nis­po­ten­tial des Ori­gi­nals haben. Er kann sich nicht mit einem Digi­ta­li­sat als ent­ma­te­ria­li­sier­tem Abbild zufrie­den geben.

Doch ist es um die schrift­li­che Über­lie­fe­rung in deut­schen Biblio­the­ken nicht gut bestellt. Sie ist durch jahr­zehn­te­lange Ver­nach­läs­si­gung gefähr­det. Nach einem Wort des Müns­te­ra­ner Buch­wis­sen­schaft­lers Bern­hard Fabian sind die Bücher über­all in guter Ord­nung, aber in schlech­ter Verfassung.

Die Scha­dens­lage lässt sich ver­ein­facht so zusam­men­fas­sen: Wäh­rend die neue­ren Buch­be­stände ab etwa 1850 in ers­ter Linie von sau­ren Papie­ren bedroht sind, sind die älte­ren Samm­lun­gen ins­be­son­dere durch beschä­digte Ein­bände gefähr­det: Die einen Bücher zer­brö­seln, wenn man sie benut­zen will, die ande­ren sind oft nicht mehr zu hand­ha­ben, weil gebro­chene Buch­rü­cken und auf­ge­löste Bin­dun­gen, ein- und aus­ge­ris­sene, abge­grif­fene oder sonst beein­träch­tigte Blät­ter die Les­bar­keit behin­dern. Unzu­rei­chende Lager­be­din­gun­gen kom­men zu den endo­ge­nen Zer­falls­pro­zes­sen und Benut­zungs­schä­den hinzu. Wich­tige Bestände sind der For­schung entzogen.

Seit 2015 liegt mit den »Bun­des­wei­ten Hand­lungs­emp­feh­lun­gen« eine umfas­sende Bilanz zu Schä­den und Gefah­ren für das schrift­li­che Kul­tur­erbe in Archi­ven und Biblio­the­ken Deutsch­lands vor. Gleich­zei­tig beschreibt das spar­ten- und län­der­über­grei­fende Gesamt­kon­zept in aller Genau­ig­keit erst­mals die Auf­ga­ben­fel­der, die die Kul­tur­na­tion Deutsch­land zur Siche­rung des schrift­li­chen Kul­tur­guts ergrei­fen muss. Es wird darin emp­foh­len, dass sich Bund und Län­der auf ein gemein­sa­mes För­der­pro­gramm ver­stän­di­gen und damit drin­gend not­wen­dige Maß­nah­men in den Archi­ven und Biblio­the­ken ermög­li­chen. Die­ses För­der­pro­gramm könnte sofort umge­setzt wer­den. Der Bund hält sich bereit. Aber es lässt wei­ter auf sich war­ten, weil die Län­der keine Ein­stim­mig­keit dar­über her­stel­len können.

Auf der ande­ren Seite bezie­hen sich viele Fra­ge­stel­lun­gen der Kul­tur- und Geis­tes­wis­sen­schaf­ten auf den text­li­chen Inhalt von Büchern. Dafür muss man nicht auf die fra­gi­len Ori­gi­nale zurück­grei­fen. Es wäre hoch­will­kom­men, wenn ein wesent­li­cher Teil der natio­na­len Buch­pro­duk­tion elek­tro­nisch zugäng­lich wäre. Doch auch hier ist der erreichte Stand unbe­frie­di­gend. Heute ist erst ein nied­ri­ger zwei­stel­li­ger Pro­zent­satz kon­ver­tiert. Genaue Berech­nun­gen gibt es nicht. Vor allem im 19. Jahr­hun­dert und im weit­ge­hend urhe­ber­recht­lich geschütz­ten 20. Jahr­hun­dert bis in die Gegen­wart ver­fü­gen wir nur über kleine digi­tale Inseln im gro­ßen Meer des Gedruckten.

Das Por­tal »Deut­sche Digi­tale Biblio­thek« gibt zwar ein­drucks­voll hohe Zah­len an Nach­wei­sen an. Aber nur ein Teil der gemel­de­ten Kata­log­da­ten aus Archi­ven, Biblio­the­ken und Museen ist auch mit den digi­ta­li­sier­ten Objek­ten ver­knüpft. Oft erfährt man also nur von der Exis­tenz eines Doku­ments, eines Buches oder Gemäl­des, kann diese aber am Bild­schirm nicht sehen. Auf dem Gebiet der Kul­tur­gut­di­gi­ta­li­sie­rung wird in Deutsch­land längst nicht alles getan, was mach­bar wäre. Das liegt daran, dass viel weni­ger öffent­li­ches Geld zur Ver­fü­gung steht als etwa bei unse­ren fran­zö­si­schen Nach­barn für ihr Gal­lica-Pro­gramm. Die Biblio­t­hè­que natio­nale in Paris hat sich bewusst gegen die Zusam­men­ar­beit mit Google Books ent­schie­den und wurde dabei von der Regie­rung unter­stützt. Die Baye­ri­sche Staats­bi­blio­thek ist eine sol­che Koope­ra­tion ein­ge­gan­gen, nach­dem klar gewor­den war, dass keine deut­sche För­der­insti­tu­tion ein so gro­ßes Digi­ta­li­sie­rungs­pro­gramm finan­zie­ren wollte. Ergeb­nis ist, dass heute allein aus die­ser Biblio­thek fast zwei Mil­lio­nen Doku­mente digi­ta­li­siert sind. Wel­chen Weg emp­fiehlt die deut­sche Poli­tik den Biblio­the­ken und Archi­ven? Ohne zusätz­li­che Hilfe geht es nicht.

Die Digi­ta­li­sie­rung der Arte­fakte ist auch der Sache nach ein kom­ple­xes und lang­wie­ri­ges Unter­fan­gen. Mit den Kos­ten für die reine Ver­fil­mung ist es nicht getan. Neun­zig Pro­zent des Auf­wands geht in die vor- und nach­be­rei­ten­den Arbeits­vor­gänge. Die Schritte rei­chen von Pro­jekt­pla­nung, kon­ser­va­to­ri­scher Vor­be­rei­tung des Mate­ri­als, Spei­che­rung der Daten, Nach­weis in den Por­ta­len, Neu­ver­pa­ckung bis hin zur Qua­li­täts­kon­trolle. Beson­ders die kon­ser­va­to­ri­sche Vor­be­rei­tung wurde in der Pro­jekt­pla­nung bis­her gerne klein­ge­rech­net oder zum Scha­den der Objekte ganz igno­riert. Dabei fal­len etwa bei Nach­läs­sen die ver­schie­dens­ten bestands­er­hal­ten­den Maß­nah­men ins Gewicht: das Öff­nen von bereits geschä­dig­ten Hef­tun­gen, das Durch­num­me­rie­ren der ein­zel­nen Blät­ter, das Rei­ni­gen, das Ent­fer­nen von Metall­klam­mern, im Fall von Schäd­lings­be­fall auch die Dekon­ta­mi­nie­rung, die Siche­rung von Bei­la­gen, Fotos und gefal­te­ten Kar­ten und die spä­tere Ein­bet­tung in säu­re­freie Kartons.

Eine umfas­sende Retro­di­gi­ta­li­sie­rung wäre genauso wich­tig für For­schung und Lehre wie für die Öffent­lich­keit. Sie zahlt sich aus »durch ver­bes­serte Metho­den und Ver­fah­ren der Wis­sen­schaf­ten, durch inno­va­tive For­men der Ver­brei­tung von Kul­tur und Bil­dung, durch die Ver­net­zung der Insti­tu­tio­nen natio­nal und inter­na­tio­nal und nicht zuletzt durch die Scho­nung der Ori­gi­nale des kul­tu­rel­len Erbes bei gleich­zei­ti­ger enor­mer Nut­zungs­stei­ge­rung«, so der Biblio­the­kar Tho­mas Bürger.

Wis­sen­schaft und Gesell­schaft brau­chen bei­des, das Ori­gi­nal und das Digi­ta­li­sat. Aber weder mit der Ori­gi­nal­erhal­tung noch mit der Digi­ta­li­sie­rung der his­to­ri­schen Buch­be­stände geht es in Deutsch­land recht voran. Dabei müsste die Siche­rung der schrift­li­chen Über­lie­fe­rung auf der kul­tur­po­li­ti­schen Agenda ganz oben ste­hen. Ziel müsste sein, das Gros der alten Bestände in Biblio­the­ken und Archi­ven zugleich zu erhal­ten und digi­tal ver­füg­bar zu machen, natür­lich in klug abge­stimm­ter Weise.

Beide Aspekte lie­ßen sich fabel­haft mit­ein­an­der kom­bi­nie­ren, wenn ent­spre­chende För­der­mit­tel zur Ver­fü­gung stün­den: Was digi­ta­li­siert wird, wird zugleich kon­ser­va­to­risch gesi­chert. Was gesi­chert wird, wird auch digi­ta­li­siert. Das Prin­zip lau­tet: Kon­ver­sion nicht ohne Kon­ser­vie­rung. Die Ver­knüp­fung ist auch betriebs­wirt­schaft­lich sinn­voll. An der Staats­bi­blio­thek Ber­lin wurde die große Abtei­lung für Buch­re­stau­rie­rung bereits zur Abtei­lung »Bestands­er­hal­tung und Digi­ta­li­sie­rung« zusammengefasst.

Wäh­rend in vie­len unse­rer Nach­bar­län­der lang­fris­tige und gut dotierte Pro­gramme zur Bestands­er­hal­tung und Digi­ta­li­sie­rung auf­ge­legt wur­den, sind Biblio­the­ken und Archive in Deutsch­land auf sich gestellt und kön­nen ihre wich­tigste Auf­gabe, die kul­tu­relle Über­lie­fe­rung zu bewah­ren und zugäng­lich zu machen, mit den regu­lä­ren Mit­teln nur unzu­rei­chend erfüllen.

Zu den gemein­sa­men gesell­schaft­li­chen Merk­ma­len der euro­päi­schen Kul­tur gehört die fun­da­men­tale Bedeu­tung der Schrift. Fast alle Natio­nen emp­fin­den es als ehren­volle Pflicht, ihre in Jahr­hun­der­ten ent­stan­dene schrift­li­che Über­lie­fe­rung in das gemein­same Haus Europa ein­zu­brin­gen. Aus­ge­rech­net Deutsch­land lässt seine Ori­gi­nale unsicht­bar in den Maga­zi­nen und ris­kiert ihren phy­si­schen Ver­fall, als ob die deut­schen Biblio­the­ken nicht schon im Zwei­ten Welt­krieg fünf­zehn Mil­lio­nen Bände ver­lo­ren hät­ten. Der deut­sche Bei­trag zur euro­päi­schen schrift­li­chen Über­lie­fe­rung, der bis­her nur als Under­per­for­mance bezeich­net wer­den kann, muss auch im Online-Por­tal Euro­peana erkenn­bar werden.

 Debatte: »Zukunft des Lesens – Zukunft des Buches«:

  1. Dr. Frank Simon-Ritz – »Zukunft des Lesens, Zukunft des Buches«
  2. Angela Egli-Schmidt – Lese ich oder liest mich das elektronische Buch?
  3. Peter Neumann - Die Zukunft der Literatur ist längst vergangen
  4. Dr. Martin Straub – Mal wieder Fühmann lesen
  5. Nancy Hünger – Gehab dich, Buch!
  6. Thomas Mechold – Gedanken über eine Zukunft des Antiquariats
  7. Frank Sellinat – Eine Lanze brechen für den Spießordner und seine Freunde
  8. Michael Knoche – Digital? Nie ohne Original
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