Auf Wolfgang Hilbigs Spuren in Meuselwitz
9 : Wuitz-Mumsdorf – Exkurs zum »Kesselhausfasan«

Personen

Wolfgang Hilbig

Franz Fühmann

Ort

Maschinenfabrik Meuselwitz, Werk 6

Themen

Von 1945 bis zum Ende der DDR

Gegenwart

Autor

Volker Hanisch

Thüringer Literaturrat e.V. / Der Abdruck des Gedichts von Wolfgang Hilbig »episode« erfolgt mit freundlicher Genehmigung der S. Fischer Stiftung.

Die meiste Zeit sei­nes Daseins als Hei­zer ver­brachte Wolf­gang Hil­big im Betriebs­teil 06 der Meu­sel­wit­zer Maschi­nen­fa­brik in Wuitz-Mums­dorf. Zum stra­ßen­sei­ti­gen Sozial- und Ver­wal­tungs­ge­bäude mit Hei­zungs­kel­ler gehör­ten zwei auf der »schrof­fen Klippe« zum Tage­bau­rest­loch Zip­sen­dorf ste­hende Werk­hal­len, in denen auch Zube­hör­teile für Kon­sum­gü­ter (wie den Rasen­mä­her »Trolli«) her­ge­stellt wurden.

Hil­big fuhr zu sei­ner Arbeits­stätte in den 1970er-Jah­ren ent­we­der mit dem Fahr­rad oder mit dem Werks­bus. Ein­zelne Sta­tio­nen sei­nes Arbeits­wegs von Meu­sel­witz nach Wuitz (schon 1955 über­bag­gert) foto­gra­fierte der Leip­zi­ger Diet­rich Olt­manns im Novem­ber 1983 in einer Serie von 22 Schwarz-Weiß-Auf­nah­men. Als es nach Ver­lei­hung des Brü­der-Grimm-Prei­ses an Hil­big für ein west­deut­sches Film­team keine Ein­rei­se­er­laub­nis gab, soll­ten Foto­gra­fien von bio­gra­fi­schen Ori­gi­nal­schau­plät­zen als Ersatz und visu­el­ler Ein­druck dienen.

Das frü­here Fabrik­ge­lände, schon auf sach­sen-anhal­ti­ni­scher Flur gele­gen und als »Wuitz 3« zur Ver­wal­tungs­ge­meinde Els­ter­aue gehö­rend, erreicht man heute über Meu­sel­witz-Mums­dorf, wenn man kurz nach dem Orts­ein­gang links in den Bahn­hofs­weg ein­biegt und Rich­tung Tage­bau­see wei­ter­fährt. Der ehe­ma­lige Hei­zungs­kel­ler, in dem Hil­big lange Jahre Kohle schip­pte und Schreib­hefte füllte, bleibt unzu­gäng­lich, wäh­rend die vor­de­ren Räume manch­mal für Techno-Par­tys geöff­net sind. Das eins­tige Werk der Maschi­nen­fa­brik inmit­ten länd­li­cher Stille lässt sich leicht in eini­gen Pro­sa­stü­cken Hil­bigs wie­der­fin­den. So, wenn man in »Über den Ton­fall« (1977) von der »uralten Trau­er­weide« auf »einer Rasen­flä­che vor dem Ein­gang zum Ver­wal­tungs­ge­bäude über der Straße des Hofs« liest. Wei­ter­hin: »Der Hei­zer« (1980). Er fährt nach sei­ner Nacht­schicht vom »Kes­sel­haus Werk 6«, wo er »seit nun­mehr sie­ben Jah­ren arbei­tet«, per Omni­bus in ein Lohn­büro, um sich seine Jah­res­end­prä­mie abzu­ho­len. Und in der Erzäh­lung »Die Erin­ne­run­gen« (1996) denkt der frü­here Hei­zer C. an seine Arbeit im »Betriebs­teil 6, dem Betriebs­teil der phan­ta­sie­ren­den Trun­ken­bolde« zurück.

Über­dies ver­dan­ken wir dem Hei­zungs­kel­ler in Wuitz-Mums­dorf wahr­schein­lich eines der beein­dru­ckends­ten Gedichte Wolf­gang Hil­bigs, in dem er jene Düs­ter­nis des Kes­sel­hau­ses über­win­det. Franz Füh­mann – der 1980 in Meu­sel­witz zu Gast war und sich fortan für den Dich­ter ein­setzte – über­lie­ferte, Hil­big habe ihm erzählt, das Gedicht »epi­sode« von 1977 beruhe auf einer wah­ren Bege­ben­heit. Und der Lite­ra­tur­kri­ti­ker Karl Corino schrieb über diese Zei­len sogar unter dem Titel »Die Epi­pha­nie des Schö­nen in Meuselwitz«.

 

episode
im düstern kesselhaus im licht
rußiger lampen plötzlich auf dem brikettberg
saß ein grüner fasan
ein prächtiger clown
silbern und grün den leuchtend roten reif am hals mit
unverwandtem aug mit dem großen gelben schnabel aufmerksam
zielte er auf mich
so war er herrlicher und schöner
als ein surrealistischer regenschirm auf einer nähmaschine
wie er dort saß genau und furchtlos verirrt
auf seinem schwarzen gipfel
konversation fand nicht statt
ich bewegte mich und er flog davon durch die offene tür
doch von weit her den geruch der sonne den duft
seines farbigen gelächters ließ er hier in der nacht
und ich verwarf alle mühe das leben mythisch zu sehen
und als das kausale grinsen meines kopfes
von energie und frost gefressen in die nacht verschwand
glaubte ich nicht mehr an den untergang
der wahrnehmungen in der finsternis.
Wolfgang Hilbig: Werke, Bd. 1, 2008, S. 79

 

 Auf Wolfgang Hilbigs Spuren in Meuselwitz:

  1. Das Geburtshaus
  2. Die Hochfrequenzwerkstätten
  3. Ecke Rudolf-Breitscheid-Straße/Nordstraße mit Blick zum Auholz
  4. Die Schule
  5. Der Hauptkonsum mit Briefkasten und Großbäckerei
  6. Die Gaststätten
  7. Der Bahnhof
  8. Die Maschinenfabrik – Ecke Bahnhofstraße und Penkwitzer Weg
  9. Wuitz-Mumsdorf – Exkurs zum »Kesselhausfasan«
  10. Das Stadtzentrum
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