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Volker Hanisch
Thüringer Literaturrat e.V.
Das Kaufhaus an der Rudolf-Breitscheid-Straße 6 wurde 1901 vom Konsumverein Meuselwitz erbaut und war als »Hauptkonsum« lange Zeit das größte der Kaufhäuser in der Stadt. In den 1950er-Jahren arbeitete hier zeitweise auch Wolfgang Hilbigs Mutter als Verkäuferin. Links neben dem Eingangsbereich zum heute geschlossenen Haus befand sich über viele Jahre hinweg ein Briefkasten, dessen erste Tagesleerung in DDR-Zeiten schon um 4.30 Uhr stattfand. Wenn Hilbig seine Briefe nicht per Einschreiben (wie zum Beispiel an den S. Fischer Verlag) auf der Hauptpost in der Bahnhofstraße aufgab, warf er seine Post in eben jenen Briefkasten, von dem heute noch ein »Abdruck« an der Fassade erkennbar ist. Literarisch ist diesem oftmals nächtlichen »Gang zum Briefkasten« mit dem Beginn der Erzählung »Die Erinnerungen« (1996) ein Denkmal gesetzt:
Es war merkwürdig, daß es ihn in der Nacht, am dunklen Morgen, noch einmal auf die Straße trieb. – Wie sollte er es nennen: Eine Gewohnheit, eine Unruhe von früher, die mit ihm alt geworden war? Er wollte eigentlich nichts mehr davon wissen! – Zum Beispiel ging er nach vorn zum Briefkasten, zu nachtschlafner Zeit, wie er es inzwischen ausdrückte. Und er wußte, daß er es dabei vermied, auf einen derjenigen zu treffen, die schon so früh, in der Stunde zwischen vier und fünf, auf ihrem täglichen Weg zur Arbeit waren. C. gehörte schon lange nicht mehr dazu, seit mehr als fünfzehn Jahren nicht, aber unten in der dunklen Straße, auf dem vielleicht fünfhundert Meter langen Stück bis zum Briefkasten, war ihm deutlich, daß ein Unbehagen aus der damaligen Zeit noch tief in ihm steckte. Sonst schwieg dieses Unbehagen, er war durchaus unempfindlich gegen den Gedanken daran, doch zu jener gewissen Stunde reagierte etwas in ihm … Ganz automatisch! sagte er sich.
An das Konsumkaufhaus schloss sich außer einem Verwaltungsgebäude noch eine Großbäckerei an, deren heutige Ruine man gleich nach der Straßenecke in der Lessingstraße erblickt.
Wollte man den Mord an einem früheren, Post abfangenden und jetzt erpresserischen Stasi-Spitzel, der in Hilbigs virtuos-dramatischer Erzählung »Der dunkle Mann« (2002) zunächst »wie aus dem Boden gewachsen, in der Dunkelheit am Briefkasten« steht, verorten, dann hier: Der Ich-Erzähler folgt dem »dunklen Mann« »bis zu der großen Toreinfahrt der ehemaligen Bäckerei«, ersticht ihn, versteckt den Leichnam vorerst auf dem Bäckereihof und transportiert ihn in der nächsten Nacht ab, um ihn in einem alten Kesselhaus schließlich in den Füllschacht zu werfen:
Es war ziemlich leicht, auf dem geräumigen Bäckereihof ein geeignetes Gefährt zu finden; ich brauchte dazu nicht einmal die Taschenlampe, denn ab und zu brach Mondschein durch die aufgerissenen Wolken. Einige sogenannte Sackkarren – damit hatte man früher die Mehlsäcke transportiert – lagen oder standen in einem Winkel herum. Ich suchte mir die beste davon aus: sie mußte möglichst lautlos fahren; die zwei kleinen gummibereiften Räder mußten noch möglichst viel Luft enthalten. Vor dem Verwaltungseingang legte ich die Sackkarre flach auf den Boden und bettete seinen Körper darauf […]
Abb. 1: Foto: Nortrud Lippold / Abb. 2–4: Fotos: Volker Hanisch.
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