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Voker Hanisch
Thüringer Literaturrat e.V.
Die Meuselwitzer Stadtkirche auf dem Markt stammt ursprünglich von 1687 und wurde 1740 nach Plänen eines ungarischen Baumeisters in ihre jetzige Form umgebaut. In der Martinskirche wurde Wolfgang Hilbig am 27. Juni 1943 evangelisch-lutherisch getauft und am 25. März 1956 konfirmiert. Später trat er aus der Kirche aus.
Lebendig geblieben ist eine »Meuselwitzer Marktplatzimpression der DDR-Zeit« in Hilbigs Roman »,Ich‘«, wo sich der Erzähler W. erinnert:
Der Winter dieses Jahres – seines letzten Jahres in der Kleinstadt – war lang anhaltend, eisig und trocken, er blieb beinahe ganz ohne Schnee. Andauernd standen die dichten, beißend kalten Nebel in den Straßen, die mit den schwefligen Abgasen schlecht brennender Kohle geschwängert waren, die ganze Stadt befand sich im Würgegriff dieser lastenden und unbeweglichen Atmosphäre. Die Straßen belebten sich nur für wenige Stunden am Spätnachmittag, wenn in den Fabriken Arbeitsschluß war. Dann füllte sich das gespenstisch beleuchtete Zentrum um den Marktplatz mit eiligen und vermummten Fußgängern, welche die unerläßlichsten Einkäufe erledigten, und mit einer Vielzahl kriechender und rauchspeiender Autos, deren sich überkreuzende Scheinwerferstrahlen das hastige Wirrwarr vollends in Stücke rissen, in dem jeder auf einer sinnlosen Flucht für sich war.
Das neogotische Rathaus mit gegenüberliegendem Stadthaus wurde 1861/62 erbaut. Das Stadthaus verfügte über eine Gaststätte und in der ersten Etage über einen großen Saal, in dem man sich an den Wochenenden beim Tanz vergnügte und so mancher Tropfen durch die Kehlen floss. Im Jahr 2008 riss man das nunmehr baufällige Stadthaus ab, lediglich der Kopfbau (Am Rathaus 6) dient bis heute als Sparkasse. An die frühere Gast- und Begegnungsstätte mit ihrem bunten Treiben erinnern aber einige Graffiti an der Mauer in der Rathausstraße.
Sowohl die wochentags geöffnete Gaststätte als auch den »Saal« besuchte Wolfgang Hilbig oft – ein literarisches Zeugnis davon (und auch von der im Rathaus einst untergebrachten Polizeiwache) findet sich in seinem Roman »Eine Übertragung« (1989):
Am Abend des Sonntags saß ich mit meinem Freund S. und einigen anderen im Stadthaus, der zentralen Gaststätte des Ortes, und wir sprachen dem Alkohol zu. Ich hatte nicht kommen wollen, da ausgemacht war, uns allesamt nach Gaststättenschluß noch bei S. zu treffen, um das Gelage, aufgrund irgendeines Geburtstages, fortzusetzen. Ich hatte in dieser Woche viel zu feiern gehabt, anläßlich des sehr guten Abschneidens in meiner Qualifikationsprüfung, doch auch wegen der die Prüfungswoche einrahmenden Feiertage. Am Sonntagabend war ich entschlossen gewesen, mich Schreibversuchen zu widmen, um danach mit dem Fahrrad zur Nachtschicht zu fahren, aber der Durst, die Nachwirkung des Alkohols der vergangenen Frühschichtwoche, Kopfschmerzen sowie Unausgeschlafenheit und Schwäche, gleichfalls Folgen jener durchzechten Nächte, hatten mich dann doch in die Kneipe getrieben […]
In der frühen Nacht des 7. Mai 1978 kommt es in der Grünanlage gegenüber dem Süßwarengeschäft Am Rathaus 14 (heute ein Döner-Imbiss) zu einem sogenannten Fall der »Mißachtung staatlicher und gesellschaftlicher Symbole«: Das Volkspolizeikreisamt Altenburg teilt den übergeordneten staatlichen Stellen in einem Telegramm kurz danach mit, jemand habe einen »ca. 5 m lange[n] fahnenmast aus [dem] erdboden herausgerissen«, »an welchem eine 3 mal 1 m lange staatsflagge der ddr befestigt war«, und dass diese Flagge »im unteren teil (goldener streifen) angebrannt« worden sei.
Unter bis heute nicht ganz geklärten Umständen wird Wolfgang Hilbig der Mittäterschaft beschuldigt, zunächst verhört, am 10. Mai verhaftet, ins Untersuchungsgefängnis nach Leipzig gebracht und dort bis zum 3. Juli inhaftiert. Eine Anklage wegen des »Fahnendelikts« wird schließlich fallen gelassen, doch die Gelegenheit für die Mitarbeiter der Staatssicherheit ist günstig: In mehreren Verhören befragt man Hilbig zu seinen Kontakten in die Bundesrepublik.
Seit 1977 hatte sich der westdeutsche Germanist und Literaturredakteur Karl Corino für den Dichter eingesetzt, mit einer Radiosendung im Hessischen Rundfunk und der Vermittlung an Verlage. Eine erste Buchveröffentlichung Hilbigs im Frankfurter S. Fischer Verlag stand zu erwarten. So war Hilbig als »feindlich-negativer Nachwuchsautor« ohnehin der verstärkten Überwachung durch den DDR-Geheimdienst in einer »Operativen Personenkontrolle« ausgesetzt (OPK »Literat«).
Am Ende seiner Haftzeit drängte man den Arbeiter und Autor zu einer Zusammenarbeit mit der Stasi, doch Wolfgang Hilbig lehnte ab: mit dem Hinweis auf seine »Haltung als Literat« und darauf, dass er »in seinen BRD-Partnern keine Feinde sähe«.
Bis 1987 wuchs Hilbigs Observationsakte schließlich auf über 10000 Seiten an. Das Gefühl, verfolgt und bespitzelt zu werden, war also keine Wahnvorstellung, und der Heizer C. in Hilbigs »Eine Übertragung« resümiert:
Wahrscheinlich mußte ich erst im Gefängnis landen, ehe ich bemerkte, daß das beharrliche Zurückbleiben in meiner Geburtsstadt dazu angetan war, mich zu vernichten. […] Es war nur mit scheinbar kontroversen Begriffen auszudrücken: soweit ich mich zurückerinnerte, war diese Stadt, die mein Heim war, für mich eine unheimliche Stadt gewesen.
Lektüreempfehlungen:
Abb. 1: Archiv Volker Hanisch / Abb. 2–3: Foto: Volker Hanisch.
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