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Brikettfabrik »Fortschritt« Meuselwitz
Hugo Schneider Aktiengesellschaft (HASAG)
Themen
Volker Hanisch
Thüringer Literaturrat e.V.
Linker Hand der abzweigenden Nordstraße befindet sich das Eingangstor zur Kleingartenanlage »Fortschritt«, 1932 auf dem vormaligen Gelände des Veit-Adolph-Schachts begründet und bis 1945 »Stahlhelmgärten« genannt. Hier besaß auch Großvater Kazimierz einen Garten, der in Wolfgang Hilbigs Gedicht »die gewichte« von 1977 seine Erwähnung findet.
Die Nordstraße war einst die zentrale Fabrik- und Lagerstraße der »HASAG«. Die aus Leipzig-Paunsdorf stammende »Hugo (und Alfred) Schneider AG« produzierte zunächst Lampen und Metallwaren, nach 1933 aber mehr und mehr Rüstungsgüter. Als Konzern übernahm die HASAG 1936 die Fabrikanlagen der Porzellanfabrik und baute den Betrieb zügig aus. Wurden hier anfänglich noch Sturmlaternen hergestellt, so forcierte man nach 1939 die Rüstungsproduktion. 1944 war die HASAG der Alleinhersteller der kriegswichtigen Panzerfaust, beschäftigte Zwangsarbeiter und Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald. Die HASAG war vermutlich auch das Hauptziel der alliierten Luftangriffe, die 1944 und 1945 40 % der Stadt vollständig zerbombten und weitere Teile in Mitleidenschaft zogen. – An die 1944/45 im Barackenlager am Weinberg eingepferchten knapp 2000 Frauen und Männer erinnert, auf halber Höhe und links der Nordstraße, seit 2010 ein Gedenkstein.
Für den heranwachsenden Wolfgang Hilbig war das Trümmerfeld der einstigen Munitionsfabrik vor allem ein »Abenteuerspielplatz«, und der spätere Schriftsteller verzichtet nicht auf die konkrete Erwähnung des für ihn assoziationsreichen Begriffs HASAG, so in den Erzählungen »Die Weiber«, »Alte Abdeckerei« und »Die Einfriedung« (1979):
Er verließ die Stadt an ihrem südöstlichen Ausgange und streifte durch ein unwegsames Gehölz, er kam über die Hügel hinter dem ehemaligen Gefangenenlager der HASAG […] von hier aus sah er die schwarzen Ruinen der Braunkohlenzeche Fortschritt, die, im Krieg unbeschädigt, bald danach wegen der zu Ende gegangenen Fündigkeit stillgelegt und zur Hälfte demontiert worden war; jetzt ragten schroffe, schreckenerregende Gebäudereste zwischen den Feldern auf und schienen mit ihrem völligen Zusammensturz zu drohen […]
Der »Fortschritt« war eine 1858 gegründete Kohleabbaugesellschaft, die mit dem Heinrichschacht bis 1948 die größte und bedeutendste Tiefbaugrube auf Meuselwitzer Flur betrieb. Schon 1670 hatte der Altenburger Arzt Matthias Zacharias Pilling hier »brennbare schwarze Erde« gefunden, und ab Mitte des 19. Jahrhunderts folgten den anfänglichen Torfgräbereien zahlreiche abgeteufte Schächte zur gewerbsmäßigen Braunkohlenförderung – zunächst gerade hier am Weinberg und in dem sich nach Wintersdorf hinziehenden Auholz. Um 1860 verzeichnete man im Meuselwitz-Rositzer Revier 82 Braunkohlengruben, 16 davon gehörten zur Stadt Meuselwitz (und die in Hilbigs Erzählung »Alte Abdeckerei« erwähnte »Germania« war von 1873 bis 1898 eine von ihnen). Erst um 1900 begann in und um Meuselwitz die großflächige Erschließung der Kohleflöze in Form des Tagebaus. Von den Tiefbaugruben blieben (neben den mehr oder weniger verfüllten Schächten) einige der oberirdischen Anlagen mitunter über Jahrzehnte bestehen und wurden bis zu ihrem Abriss oder Verfall nachgenutzt. So existierte um 1906 im Auholz auch eine »alte« Abdeckerei zwischen heutiger Straße Am Auholz und der verlängerten Rudolf-Breitscheid-Straße.
Wolfgang Hilbig erkundet also während seiner jugendlichen Streifzüge in die Umgegend ein schon längst untergrabenes, vom Braunkohlenabbau geschundenes, wenig heimeliges Terrain, das der Erzähler in »Alte Abdeckerei« (1991) so beschreibt:
Das Unheimliche dieser Gegend bestand darin, daß ihre in Abständen bewaldete Fläche von einem unabsehbar verzweigten System nicht mehr arbeitender Bergwerke unterhöhlt war, so daß hier weite Gebiete für unbebaubar galten und – abgesehen von einer Anzahl verlassener Industrieruinen, die wie sturmverfallene Felseninseln gen Himmel zeigten –, völlig brach und wüst lagen.
Hilbigs Erinnerungen an seine Stromereien, vorbei an der »Asche« (der langjährigen Müllkippe der Stadt rechts der auslaufenden Breitscheidstraße) hinein ins Auholz (mit einer noch heute in Resten auffindbaren Kirschplantage), hinterließen ihre Spuren auch im Text »Die Kunde von den Bäumen« (1992/94). Dort hat der Erzähler immer das Gefühl, auf verbrauchter Materie zu gehen, auf ausgebrannten Stoffen, auf Schlacken, auf Asche, auf Abraum und sieht sich innerlich genötigt, über verschwindende Dinge zu schreiben: Erzähle … erzähle, sage ich mir, sonst wird alles ins Vergessen taumeln. Erzähle, damit der Faden nicht abgeschnitten wird … tausend Geschichten sind nicht genug.
Vielleicht war es dieses früh erworbene Wissen um das Verborgene »unter« allem Sichtbaren und Begehbaren, das Hilbigs Schreibweise entscheidend mitgeprägt hat: jene Tiefenschürfung ins Dunkle hinein, das Verborgene zu sichten, ein mäanderndes Grabungsunternehmen in und mit der Sprache, eine literarische Ergründung der Welt und des Ichs.
Gewiss aber spielte das ganz individuelle Naturerleben in Hilbigs Persönlichkeitsentwicklung eine besondere Rolle, beschreibt er sich in einem Interview doch selbst als »Waldmensch«:
Ich komme aus dem Wald. Ich bin im Wald aufgewachsen. […] Als ich noch ein Kind war, gab es da jede Menge Tagebau und viel Wald, Braunkohlenwald. Braunkohlenboden ist sehr fruchtbar, das muss man wissen. Viel Wald. Und dann gab es diese Tagebaue, die alle irgendwann absoffen, wenn sie ausgekohlt waren. Dann wurden die zu Seen, und zwar zu verschiedenfarbigen Seen, je nachdem, aus welchen Quellen sie gespeist waren. Und am Rand dieser abgesoffenen Tagebaue lagen riesige Abraumberge. Die bestanden aus weißem Sand. Das war Wüste. Also, ich hatte alles: Wasser, Wüste, Wald.
Und innerhalb dieser Erfahrungen einer sich ständig verändernden Natur ist dem Auholz, dem »Wald seiner Kindheit«, wohl eine große Bedeutung zuzumessen, wie es auch die Erinnerungen des Heizers C. im Roman »Eine Übertragung« (1989) illustrieren:
Denn meine Stärke schien mir im Wald zuzuwachsen, in den ich floh, während alles übrige Gelände mich schwächte und versklavte. Der Wald war das Gebiet vergangener Jahrhunderte, er hatte in der Wirtschaft des jungen Staats nichts zu suchen, er war eine Gegend aus der Literatur, wabernd vom schwarzgrünen Dunst des Aberglaubens, Gottes Gefild, wie ich gelesen hatte, Gottes Verbannungsort, er war das Sibirien der Geister … die Wälder, in die ich mich verstrickte, waren die Wucherungen der reaktionären und weltfremden Literatur des 19. Jahrhunderts. Den Wald kannte ich seit meiner Kindheit; am Abend erst kehrte ich täglich aus ihm zurück, wenn ich wußte, daß die nackten baumlosen Straßen ihr erdrückendes Aussehen verloren hatten.
Abb. 1–2: Fotos: Volker Hanisch / Abb. 3: Archiv Volker Hanisch.
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