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Klubhaus »John Schehr« Meuselwitz
Gaststätte »Lindenhof« Meuselwitz
Gaststätte »Thüringer Hof« Meuselwitz
Industriebrache Tierkörperverwertung »Ponikau«
Themen
Volker Hanisch
Thüringer Literaturrat e.V.
Gaststätten gab es zu DDR-Zeiten in Meuselwitz wohl mehr als in der Gegenwart. Viele frühere Kneipen sind heute geschlossen, abgerissen oder umfunktioniert.
Das »Klubhaus« in der Alexander-Puschkin-Straße 11 zählte zu Hilbigs Stammkneipen. Das Gebäude war 1905 als Amtsgericht erbaut worden, diente den Beschäftigten der Maschinenfabrik nach 1945 als »Klub der Maschinenbauer«, beherbergte zwei Gaststätten, eine Gewerkschaftsbibliothek (die auch Hilbig benutzte) sowie Räume für verschiedene Sportarten. 1990 geschlossen, ist es inzwischen ein Haus für betreutes Wohnen.
Häufig besuchte Hilbig auch den »Lindenhof«. Das Gasthaus an der Altenburger Straße 43 wurde 1927 eröffnet und erwartet heute wie eh und je seine Gäste.
Wie für viele Arbeiter des Industriestädtchens gehörte das Trinken, Reden, Würfeln und Skatspielen in der Kneipe auch zu Wolfgang Hilbigs Feierabenden – bei körperlich anstrengender, schmutziger Arbeit und seinerzeitigen Bierpreisen von 43 Pfennigen pro Glas ganz normal. Obwohl Hilbig in den Meuselwitzer Gaststätten auch ordentlich zechte, war er doch keineswegs alkoholabhängig – zu sehr band ihn der Arbeitsalltag, wenn auch widerwärtig, in einen geregelten Tagesablauf ein. Später, als freischaffender Schriftsteller, zeitweise tatsächlich alkoholkrank, sah er das intensive Schreiben als Möglichkeit, dem Trinken zu entkommen; während er schrieb, trank er keinen Alkohol. Die Figuren des Trinkers und Suchers nach Rauschhaftem in Hilbigs Werk indes sind zahlreich.
Nach der Arbeit traf man Wolfgang Hilbig ab und zu im »Thüringer Hof« an – im Volksmund »Scharfes Eck« genannt; das Wirtshaus an der Ecke Bebelstraße/Georgenstraße wurde mittlerweile abgerissen. Von diesem Fleck an der stadtauswärtigen Straße nach Poderschau war es nicht weit bis zur damaligen Tierkörperverwertungsanstalt in »Texas«, wie man den Ortsteil auch nannte. Bei ungünstigen Windverhältnissen roch es hier und in halb Meuselwitz nach »Ponikau«. Von der Unternehmerfamilie Ponikau 1916 begründet, war die bis 1994 aktive Abdeckerei am Altpoderschauer Weg 42 für die Beseitigung und industrielle Verwertung von Tierkadavern weit über die Kreisgrenzen hinaus zuständig.
Die 1972 entstandene und 1982 erstmals veröffentlichte Erzählung »Der Durst« greift den Namen »Ponikau« unmittelbar auf und beginnt mit folgenden Sätzen:
Abends, in der sommerlichen Dämmerung, bei leichtem Südwestwind, füllen sich alle Straßen und Plätze dieser Stadt mit einem süßlichen, kaum zu ertragenden Leichengeruch.
Überall werden die Fenster geschlossen, die vereinzelten Spaziergänger ziehen sich in die überfüllten, dicht verriegelten Wirtsstuben zurück. Jeder weiß, es sind dies die Abgase einer am Stadtrand befindlichen Fabrik zur Herstellung irgendwelcher Grundstoffe für Waschmittel, wo mengenweise Kadaver, Tierkadaver, zu diesem Zweck verkocht werden und wo man bei Einbruch der Dunkelheit zu arbeiten beginnt.
Aber keiner der Trinker in den Wirtsstuben weiß, wann dieser Geruch in den Straßen wieder aufhört, man schließt Fenster und Türen auch in den Kneipen, zieht Vorhänge vor, man setzt sich fest, als sei man entschlossen zu trinken, bis der frühe Tag anbricht, man meidet die Straßen wie aus Angst vor einer Epidemie, man sitzt und trinkt im Bewußtsein eines Geruchs vor den Türen, der, ein blaues Gas, mit einem matten Phosphorschein durch die Nacht leuchtet, man glaubt ihn mit zehrender Kraft an der Außenhaut der Häuser, man glaubt das nach dem Innern hin sich ziehende Austrocknen im Holz der Türgebälke zu hören, man muß dieses Bewußtsein in sich ertränken. Man muß trinken, bis jede Erinnerung an dieses abscheuliche Gas einer trunkenen, schwankenden Gedankenflut Platz macht, die nur noch um das immer schwerer zu durchschauende Treiben im Innern der Wirtsstube kreist.
Abb. 1: Archiv Volker Hanisch / Abb. 2–4: Fotos: Volker Hanisch.
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